So wanderte er von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf, indem er lehrte und nach Jerusalem wanderte. Da fragte ihn jemand: „Herr, es sind wohl nur wenige, die gerettet werden?“ Jesus antwortete ihnen:
„Ringet danach, durch die enge Pforte (vgl. Mt 7,13-14) einzugehen! Denn viele, sage ich euch, werden hineinzukommen suchen und es nicht vermögen. Wenn ihr erst dann, nachdem der Hausherr sich schon erhoben und die Tür abgeschlossen hat, draußen zu stehen und an die Tür zu klopfen beginnt und ihm zuruft: ‚Herr, mache uns auf!‘, so wird er euch antworten: ‚Ich weiß von euch nicht, woher ihr seid.‘ (vgl. Mt 25,11-12)
Dann werdet ihr anfangen zu versichern: ‚Wir haben doch vor deinen Augen gegessen und getrunken, und du hast bei uns auf den Straßen gelehrt‘ (Mt 7,22-23); aber er wird erwidern: ‚Ich sage euch: ich weiß nicht, woher ihr seid; hinweg, steht ab von mir alle, die ihr die Ungerechtigkeit übt!‘.“ (Ps 6,9)
Liebe Gemeinde!
Ungeachtet des ernsten Anlasses im Kirchenjahr: Buß- und Bettag ist die Botschaft bei Lukas von einer für viele Kirchgänger ungewöhnlichen Härte geprägt, die zunächst so gar nicht zur „Frohbotschaft“ des Evangeliums zu passen scheint. Und tatsächlich haben wir es heute eher mit einer prophetischen „Drohbotschaft“ im Sinne einer eindringlichen Mahnung zu tun.
Die Teilhabe am Reich „Gottes“, am Königreich der Himmel, kann sich nicht anders als im Ausüben der Gerechtigkeit („Gottes“) vollziehen. Die Tora, die wertvolle Weisung für das Leben, will gelebt werden. Nach dem Evangelium, der Frohbotschaft, soll man leben, handeln; sonst wird es verkannt.
Wenn man Unrecht tut, insbesondere seinem Mitmenschen gegenüber, wenn man ungerecht wird im Umgang mit Mitarbeitern oder auch Vorgesetzten, wird das Unrecht zur „schreienden Anklage gegen sich selbst“ (Bovon). Das „Ausschlussverfahren“ geht auf eigene Kosten, und es bedarf keines „höheren Richters“, der uns die Gemeinschaft der „Gerechten“ verwehrt.
Allerdings sind wir alle immer wieder mit der lauernden Gefahr konfrontiert, einmal oder mehrmals im Leben Unrecht zu tun, Ungerechtigkeit statt Gerechtigkeit zu walten oder jemandem angedeihen zu lassen. Der lapidare Satz: „Wir sind alle keine Engel!“ birgt eine sachliche, bei Licht betrachtet, erschreckende Wahrheit.
Deshalb spiegelt die lukanische Mahnung, hinter der sich durchaus die ernste Botschaft Jesu verbergen mag, einen nüchternen Realismus: das Trachten nach dem Reich „Gottes“, ja, das Leben nach dem Evangelium, wie das Leben überhaupt, ist ein permanenter Kampf.
Wir fallen bei diesem Kampf immer wieder auf die Nase, brechen uns manchmal fast den Hals. Dennoch dürfen wir diesem Ringen um Gerechtigkeit nicht ausweichen, sollten nicht konfliktscheu werden. Freilich, es ist nicht nur unangenehm, sondern kostet sehr viel Kraft, sich einem Konflikt selbstkritisch zu stellen und ihn auszuhalten. Deshalb fliehen viele Menschen vor solchen Auseinandersetzungen, und zwar aus unterschiedlichen Gründen.
„Das bringt ohnehin nichts, führt zu nichts.“ „Das bringt nur zusätzlichen Ärger.“ „Dann werden mir noch mehr Nachteile entstehen.“ „Ich riskiere doch keine Kündigung!“
Verständliche Reaktionen, die auch deutlich werden lassen, dass man nicht unvorbereitet dem jeweiligen Konflikt begegnen sollte; heutzutage ist oftmals Rechtsbeistand von Nöten.
Die Dimension, die der lehrende Rabbi Jesus von Nazareth (vermittelt durch Lukas) anspricht, reicht allerdings noch tiefer: Es geht (ihm) um die Verwurzelung unseres Lebens und um die Früchte, die wir erbringen. Teile der Bergpredigt sind mit Gedanken der Mahnrede bei Lukas geistesverwandt, bringen aber zusätzlich mehr Klarheit (Mt 7,15-20):
„Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, im Inneren aber räuberische Wölfe sind.
An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Kann man etwa Trauben lesen von Dornbüschen oder Feigen von Disteln? So bringt jeder gute (gesunde) Baum gute Früchte, ein fauler Baum (mit verdorbenen Säften) aber bringt schlechte Früchte; ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, und ein fauler Baum kann keine guten Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.
Also: an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.
Nicht alle, die ‚Herr, Herr‘ zu mir sagen, werden ins Himmelreich eingehen, sondern nur, wer den Willen meines himmlischen Vaters tut.“
Zu denen, die sich selbst dem „Hause Gottes“ gegenüber verschließen, denen der Einlass verwehrt wird, gehören die Heuchler. Wer vorgibt, etwas geistlich darzustellen, vielleicht sogar ein Würdenträger, ein von Amts wegen bestellter und berufener Geistlicher oder ein Presbyter (Kirchenvorsteher), in Wirklichkeit aber seine Position vorwiegend dazu benutzt, um Machtgelüste oder eigene Vorlieben auszuagieren, der hat kein Anteil am Reich Gottes.
Ich denke dabei nicht in erster Linie an Verschwendung von öffentlichen Mitteln oder gar Veruntreuung von anvertrauten Geldern, sondern eher an ungerechtes Verhalten gegenüber Untergebenen, vor allem aber an Verabsolutierung der eigenen Meinung und Verbreitung einseitiger und damit falscher Lehre. Wer ein falsches Evangelium oder Pseudoprophetentum vertritt und verkündigt, wird vom Reich Gottes ausgeschlossen, weil er die Unkundigen und Gutgläubigen indirekt am Hineinkommen hindert.
Wer meint, mit der kirchlichen Taufe bereits fest im Reich Gottes verwurzelt zu sein, gleichsam wie ein Baum zu stehen und jeglichem Sturm weltanschaulicher Infragestellung und Kritik an seinem Lebenswandel ohne weiteres trotzen zu können, schließt sich selbst aus.
Kirchenmitgliedschaft ist nicht identisch mit Teilhabe am Reich der Himmel. Übrigens hat man einmal festgestellt, dass in der Kirche relativ wenig vom Königreich Gottes gesprochen und noch weniger gesungen wird.
Natürlich sind viele Menschen in allen Kirchengemeinden sehr bemüht, Gerechtigkeit walten zu lassen; Gutes, nämlich das jeweils Passende, zu tun und Unrecht zu vermeiden. Insofern bringt ihr Leben „Früchte“ hervor, und es ist bedauerlich und nicht korrekt, wenn sie dafür nur selten gelobt werden. Viele Gemeindeglieder engagieren sich sogar mit Freude und bieten ihre Dienste ganz freiwillig und unentgeltlich an; ich denke an all die Ehrenamtler und andere, oftmals geradezu namenlosen Helfer in den Gemeinden. Ohne sie würde „Kirche“ kaum funktionieren. Diese sind gewiss nicht vom Reich Gottes ausgeschlossen.
Zusätzlich aber bedarf es noch eines weiteren Kriteriums, um ein „Ausschlussverfahren“ (im negativen Sinne) von vornherein abzuwenden. Es reicht offenbar nicht aus, Ungerechtigkeit in jeglicher Hinsicht zu vermeiden. Vielmehr ist es mindestens ebenso unerlässlich, das eigene, angelernte Bekenntnis („Herr, Herr“ sagen) und damit auch den Kirchenglauben nicht zu verabsolutieren.
Ich habe seit vielen Jahren den Eindruck, dass Bedeutung und Wert der guten Taten und Werke im Protestantismus etwas geschmälert werden. Diese geringere Einschätzung, nicht: Geringschätzung, könnte von daher rühren, dass man mitunter vergessen hat, dass Glaube ohne Werke tot ist bzw. dass eine Verwurzelung im Reich der Himmel „automatisch“, bei entsprechender Pflege, gute Früchte hervorbringt.
Die Mehrheit in unserer Gesellschaft hält sich zu keiner Kirche; ich bin aber keineswegs davon überzeugt, dass diese Menschen ein fruchtloses Leben führen.
Ich meine, dass „Kirche“ selbst ausschließend, ausgrenzend wirkt, solange sie andere Menschen zum „Herr, Herr sagen“, zu ihren Bekenntnisformen, anhält. Ich selbst habe von Haus aus keine kirchliche Anbindung gehabt. Meine Fragen als Konfirmand hatte niemand beantwortet. Inzwischen habe ich „Kirche intern“ immer wieder als eine in bestimmten sprachlichen Konventionen verwurzelte Gemeinschaft erfahren, die sich offenkundig unendlich schwer tut, allgemein verständlich und selbstkritisch Menschen anzusprechen, die „von außen“ kommen.
Nach meiner Einschätzung haben die meisten Gemeinden einfach Angst, Mitglieder aus der sog. Kerngemeinde, die klassischen Kirchgänger, zu verlieren. Wird diese Befürchtung aber geradezu kultiviert, werde ich auch kaum „Menschen von außen“ gewinnen. Sehr gefährlich wäre gar eine Haltung der sog. Kerngemeinde, wenn sie sich als bewährte Kirchgänger mit den „Geretteten“ identifizierten, im Unterschied zu jenen, denen der Zugang durch die Tür zum „Hause Gottes“ verschlossen bleibt.
Wäre aber eine solche Identifizierung ausgeschlossen, was ich stark hoffe (!), verstünde ich das Problem ganz und gar nicht: Was (oder wer!) hindert’s, die Kirchensprache in sog. „Gottesdiensten“ und bei sog. Amtshandlungen aufzubrechen und radikal zu verändern?!
Wovor hat man Angst? Mich ärgert es zutiefst, dass es längst ein Umdenken, entsprechende Entwürfe und Modelle dazu gibt, die zum Teil in manchen Gemeinde bekannt sind, aber nicht oder vergleichsweise nur von wenigen umgesetzt werden. Zum großen Teil werden solche offenbar als revolutionär oder gar „ketzerisch“ geltende Gegenentwürfe zu den „klassischen“ mit Ignoranz oder Missachtung gestraft. Die Anregungen entstammen meist der Praktischen Theologie.
Der Buß- und Bettag ist mit Umkehr und Umdenken verbunden; für Martin Luther bedeutet dies, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei. „Das Christsein sei ein Christwerden“: „Ein Christ ist im Werden, nicht im Gewordensein.“
Das bedeutet auch, dass uns immer wieder bewusst werden sollte, „dass jeder konkrete Ausdruck religiösen Glaubens geschichtlicher Bedingtheit und Relativität unterworfen ist. Diese Erkenntnis schafft einen Geist der Toleranz und lässt jede religiöse oder kulturelle Bewegung zögern, offizielle Gültigkeit für ihre Eigenart zu beanspruchen oder ein offizielles Monopol für ihren Kult zu fordern.“ (Reinhold Niebuhr, 1974; s. J. Wachowski)
Genau das ist aber immer wieder geschehen und bleibt stets aktuell. Daher ist das Trachten nach der Herrschaft Gottes und nach seiner Gerechtigkeit (Mt 6,33) ein beständiger Kampf. Man muss regelrecht darum ringen, hineinzugelangen. Immerhin verspricht der Rabbi von Nazareth, dass wir dazu alles zum Leben Nötige erhalten.
Amen.
Hilfsmittel:
Bibelübersetzung nach H. Menge und Th.B. (vgl. „wibilex“)
François Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/2 (1996), 425-436.
Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe V (2006), 369-374 (Johannes Wachowski; stark auf den Kasus ausgerichtet).