1. Wie wollen wir uns vorbereiten auf den Advent?
Liebe Gemeinde,
vier Sonntage Vorbereitung auf Weihnachten, vier Sonntage Vorbereitung auf den Advent, die Ankunft Jesu in der dunklen Welt. Vier Sonntage je ein Kerzlein, vier Sonntage je ein Text aus der Bibel, der uns auf die Ankunft vorbereitet. Am 1. Advent der zweideutige Empfang in Jerusalem. Das Hosianna, wenn wir schon wissen: Bald folgt das „Kreuziget ihn!“ Am 2. Advent die äußeren Gefahren: Die Zeichen am Himmel, die Apokalypse und die Aufforderung: „Erhebt eure Häupter mitten in der Gefahr!“ Am 3. Advent die inneren Gefahren: der Zweifel. „Bis du es? Oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Und am 4. Advent, heute, ist das Thema: „Wie soll ich dich empfangen?“ Maria macht es uns vor. Sie singt ein Lied:
„Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter, denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter, denn Großes hat der Mächtige an mir getan. Und heilig ist sein Name. Und seine Barmherzigkeit gilt von Geschlecht zu Geschlecht, denen, die ihn fürchten. Gewaltiges hat er vollbracht mit seinem Arm, zerstreut hat er die, die hochmütig sind in ihrem Herzen. Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht, Hungrige hat er gesättigt mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen. Er hat sich Israels, seines Knechtes angenommen, und seiner Barmherzigkeit gedacht, wie er es unseren Vätern versprochen hat, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.“ [Lk 1, 46-55, Neue Zürcher]
2. Die Vorbereitung der Maria
Maria singt ein Lied. Aber ehe sie es singt, muss Sie erst selbst verstehen, was mit ihr geschieht. Zuerst kam ein Engel, der lange zu ihr sprach. vollmundige Prophezeiungen, theologisches Zeugs. Und Maria fragt dazwischen: „Wie soll das gehen, da ich doch von keinem Manne weiß?“ Der Engel sagt wiederum etwas Mirakulöses. Und Maria schweigt. Dann sagt sie: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Und dann tut sie, was der Engel gesagt hat. Oder besser: Sie tut so ungefähr das, was der Engel gesagt hat. Der belehrte sie: „Schau auf deine Verwandte Elisabeth, die ist auch wie durch ein Wunder schwanger geworden!“ Der Engel meinte wahrscheinlich etwas wie: „Wenn du verstehen willst, wie das sein kann, durch ein Wunder schwanger werden, dann denke nur an deine Verwandte Elisabeth, die bisher kinderlos war und jetzt einen Sohn erwartet.“ Aber Maria nimmt den Satz wörtlich: „Schau auf deine Verwandte Elisabeth!“ Und sie geht einfach los und besucht sie. Sie geht übers Gebirg’, um Elisabeth zu schauen.
Und auf dieser eilenden Wanderung, sickern ihr die Worte des Engels langsam vom Kopf ins Herz hinunter. Im Herzen überlegt man in dieser Zeit. Maria bewegt die Gedanken in ihrem Herzen. Den Körper beim Denken zu bewegen, ist immer glücklich. Jeder, der durchs Gebirg’ geht, kennt das. Beim manchmal anstrengenden, manchmal Mühe losen langen Laufen und Steigen lösen sich die Gedanken und wandern selbst. Auf dem Gipfel ist nicht nur ein Weg geschafft, sondern oft auch ein Problem bewegt, das einem im Kopf herum gegangen ist, während der Körper Fuß vor Fuß setzte. Maria erwartet ein Kind.
...
Das ist genau das, was wir auch tun in der Adventszeit. Wir erwarten das Jesuskind. Vielleicht sollten wir mehr laufen oder andere Dinge tun, bei denen die Gedanken in uns wandern können. Und die Eile ist dabei offenbar gar nicht schädlich. Wie tröstlich: Auch Maria eilt in der Adventszeit.
3. Zu Gast bei Elisabeth
Und dann kommt Maria an. Elisabeth begrüßt sie. In ihrem Leibe hüpft das Kind. Der kleine Johannes, der schon im Bauch der Mutter tut, was er später tun wird: Den Messias begrüßen, ihn erkennen, den anderen die Unsicherheit nehmen.
Elisabeth spürt das. Sie ist die erste, die von ihrem kleinen Bauchpropheten erreicht wird. Sie ruft die feierlichen Worte: „Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.“ Da erst kommt die Botschaft bei Maria an. Als sie die Botschaft von einem leibhaften Menschen gesagt bekommt, hört sie sie. Nun hebt sie an zu singen: „Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter, denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd.“
Mariens Seele und Geist werden munter. Ihr Leib trug Jesus schon in sich. Maria erlebt den Advent in ihrem eigenen Körper. Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude. - Das findet bei ihr als Schwangerschaft statt. Das ist schon passiert, ohne dass es ihr bewusst wurde.
Auch darin gleicht sie uns. Ehe Jesus kommt, ist er schon da. Ehe es uns bewusst wird, sind wir schon erlöst. Aber dann, wenn es bewusst wird .
4. Was tun Geist und Seele
Was tut dann die Seele? Was tut dann der Geist? Mariens Seele macht Gott groß. So lautet das griechische Wort, das hier mit „erheben“ wiedergegeben wird: Groß machen. Sie schafft ihm Raum in sich. Und indem Sie Gott groß macht, weitet sie sich selbst. Sie wird selbst groß genug, das Ungeheuerliche, das mit ihr geschieht, in sich Platz zu geben. Sie macht ihr Herz weit, damit sie später alle großen Gedanken in ihm bewegen kann. Dabei hat sich die Seele in ihr wie von selbst erhoben: „Meine Seele erhebt den Herrn.“
Luther beschreibt diesen Vorgang mit dem ihm eigenen Charme, aber eben auch mit Genauigkeit. Er formuliert: „Denn es ist kein Menschenwerk, Gott mit Freuden zu loben. Es ist mehr ein fröhliches Leiden und allein ein Gotteswerk.“ Ein „fröhliches Leiden“ ist etwas, das mit einem geschieht, das er oder sie aber mit Fröhlichkeit wahrnimmt. Es entsteht eine Freude in uns -
wie ohne unser Zutun - und wir freuen uns über die Freude. Möglicherweise ist auch Weihnachten erleben eher ein Lassen als ein Tun. Die Freude entsteht von selbst. Aber wir müssen ihr einiges aus dem Weg räumen.
Wenn die Freude entsteht, dann jubelt auch der Geist. Er freut sich über Gott, den Retter und den,
der ihr das Heil bringt. Der Geist hat verstanden, worum es geht. Und gleich dann stellt Maria beglückt fest, dass Gott sie in ihrer Niedrigkeit angesehen hat.
5. Die Niedrigkeit
Martin Luther zeichnet dazu ein schönes Bild. Er sagt: Gott ist so hoch oben, dass über ihm keiner mehr sein kann. Und neben ihm eigentlich auch keiner. Er schaut von ganz oben herunter,
und je weiter jemand unten ist, desto besser kann er ihn sehen. Physikalisch leuchtet mir das nicht ganz ein. Je weiter oben - desto besser sieht man, was unten ist? Gott ist so weit oben, dass er den Überblick hat. Das verstehe ich. Gott ist so weit oben, dass er das Unten sieht, wie sonst keiner. Das verstehe ich nicht. Obwohl mir an dieser Stelle auffällt, dass alle gerne nach oben sehen, um zu sehen, was über ihnen ist. Aber Gott schaut nur nach unten, weil über ihm keiner ist. Ja, Gott ist geradezu der, der ohne Unterlass nach unten sieht. Vielleicht sieht er deshalb besser, was dort ist. Es liegt also mehr an der Perspektive als an der Sehkraft. Und Maria spricht über ihre Niedrigkeit, weil sie sich von ganz unten hervor geholt fühlt. Aber sie vergisst die nicht, die unten sind.
6. Engelsworte von unten gesehen?
Maria spricht über ihre Niedrigkeit, weil sie sich von ganz unten hervor geholt fühlt. Und sie denkt plötzlich an alle Bibelstellen, wo etwas derart Unerwartetes geschieht. Sie kommen ihr alle auf die Lippen: Gott stürzt die Stolzen vom Thron. Er füllt die hungrigen Mägen mit Gaben. Er lässt die Reichen leer ausgehen. Sein Arm übt Gewalt, und es trifft die, die sonst Gewalt ausüben. Er ist barmherzig mit denen, die ihm vertrauen und die zulassen, dass er bei ihnen ankommt. Gott sieht die Niedrigen an, deshalb auch sie.
Alles was der Engel gesagt hatte, sagt sie nun plötzlich auch, aber anders. Der Engel sagte über ihren kommenden Sohn: „Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“
Die Herrschaft aber, die Maria ausmalt, hat genau diese Perspektive nach unten, die auch Gott auszeichnet. Bei der Ausmalung der ewigen Herrschaft sieht die junge Frau, die Gott in ihr Raum gab und die von Gott erhoben wurde, nach unten: „Gewaltiges hat er vollbracht mit seinem Arm, zerstreut hat er die, die hochmütig sind in ihrem Herzen. Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht, Hungrige hat er gesättigt mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen.“
7. Die Sterntaler
Was sollen wir tun, um uns an Maria ein Beispiel zu nehmen? Wir müssen Gott groß machen, wie es Maria getan hat. Wir müssen Gott ankommen lassen. Allerdings müssen wir dafür manchmal aufhören zu planen. Und vielleicht auch beginnen, etwas wegzugeben. Das Mädchen aus dem Märchen „Die Sterntaler“ gibt erst ihr Brot, dann ihre Mütze, dann ihr Leibchen, ihr Röcklein und schließlich das Hemdlein weg. Dann ist sie ganz nackt und steht im Dunkeln. Es ist kalt. Und jetzt fallen ihr - mitten in der Nacht - die Sterne in den Schoß. Und sie hat sogar ein neues Hemdlein an aus allerfeinstem Linnen. Gott sieht die Niedrigen an. Und zuweilen geschehen Wunder in der Nacht.