Predigt zu Lukas 15, 1-7 von Heinz Behrends
15,1
Immer war es an seinem vertrauten Ort. Jetzt ist es plötzlich weg: das geliebte Buch an seinem Platz im Regal, der wichtige Brief aus dem Schreibtisch, der Schlüsselbund in der Tasche, das Portemonnaie.
Es hat dort so selbstverständlich seinen Platz gehabt, dass du gar nicht mehr darüber nachgedacht hast. Plötzlich ist es nicht mehr da. Du hast es verloren.
Verloren ist, was nicht mehr dort ist, wo es hingehört.
Was verloren ist, das ist immer gefährdet. Du denkst: Die Schlüssel findest du nie wieder, ein für allemal weg. Leichte Panik kommt auf und Schmerz. Es ist verloren für alle Zeit.
Aber was verloren ist, das provoziert die Kraft des Suchens. Da lässt du alles stehen und liegen und suchst und suchst. Manchmal steht, was man sucht, in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, den man treibt. Ein Schaf wichtiger als 99 Schafe. Aber verlieren tut weh.
  Warum?
Es gibt eine Kraft im Menschen, dass alles seinen Platz hat. Dass die Ganzheit nicht verwundet werden darf.
Wo etwas verloren geht, da zerreißt ein Zusammenhang.
Aus den Beispielen des Verlierens macht Jesus nun in seinem Gleichnis Aussagen über das Verloren Sein. In drei Sätzen bringt er in genialer Weise die Erfahrung und die Lösung und stellt die Sache in den Horizont der Sünde. „So ist im Himmel mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte.“ Ohne einen Hauch von Moral sagt er das.
Die größte Verlorenheit ist das Getrenntsein von Gott. Sünde wird zu einem Beziehungsbegriff, nicht zu einem Ausdruck bürgerlicher Moral und Anständigkeit.
Aus Verloren Haben wird Verloren Sein.
Warum geht ein Mensch verloren?
Aus mangelnder Anerkennung.
Als Kind kann man damit noch spielerisch umgehen. Es versteckt sich und möchte gefunden werden. Es versteckt sich so, dass es leicht gesehen wird. Und freut sich riesig, wenn es gefunden ist. Ein Spiel.
Die Aufmerksamkeit der anderen auf sich locken, Anerkennung holen. Da interessiert sich jemand für mich. Weh dem, wenn niemand sucht. Das ist eine tiefe Kränkung. Da ist man verwundet und beleidigt,  macht durch Schweigen oder Schmollen auf sich aufmerksam. Aber niemand reagiert darauf. Da fühlt man sich verloren, provoziert umso mehr Beachtung, aber niemand sucht mich. Wer mich sucht, dem bin ich was wert. Jugendliche möchten gesucht werden und kämpfen um Anerkennung. Der erfahrene Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer von der Uni Bielefeld bringt nach mehr als 20 Jahren Forschung und Gespräch mit Jugendlichen seine Erkenntnisse auf diesen Punkt: Jugendliche möchten gebraucht werden. Sonst gehen sie verloren in die Gewaltszene.
Ein Mensch geht verloren durch leichtsinnigen Gebrauch der Freiheit.
Der französische Erzähler Alphonse Daudet erzählt von der Ziege des Herrn Seguin. Herr Seguin liebt seine Ziege Blanchette über alles, aber sie will nicht länger in seinem Haus bleiben. Sie steigt nachts durchs Fenster und macht sich auf den Weg ins Gebirge, worauf ihr Blick schon immer geruht hatte. Als sie oben ankommt, begrüßt man sie wie eine Königin. Kastanien verneigen sich, Ginstersträuche tun sich auf, das Gras kitzelt ihre Hörner, Es schmeckt wie es nie geschmeckt hat. Sie tanzt und springt am Bach, das Wasser spritzt, plötzlich steht sie am Abhang und sieht dort unten die kleine Welt des Monsieur Seguin. Sie lacht und lacht. Neugier, Welt entdecken, Freiheit probieren. Welche elementare Kraft eines Menschen, Wohl dem, der das spüren kann. Aber als sie über die alte Welt lacht, entfernt sie sich aus ihrem Lebenszusammenhang. Am frühen Morgen kommt der Wolf und frisst die Ziege. Wer seine Tradition, sein Zuhause lächerlich macht, geht verloren.
Menschen gehen verloren durch ihre Selbstbezogenheit. Die modernste Form der Verlorenheit. Alles, was ich für mein Leben brauche, ist in mir selber drin, meinen sie. Sie vergessen, dass nichts von ihnen selber kommt. Alles, was ich hab, hab ich von einem anderen. Das Brot, den Wein, der Schlaf wird mir geschenkt. Wer selbstbezogen lebt, trennt sich von Gott und riskiert seine größte Verlorenheit.
Verloren ist, wer sich aus dem löst, wohin er gehört.
Die Rettung geschieht, wenn jemand mich sucht. Das Schaf in dem Gleichnis Jesu muß nichts dazu tun, dass es gefunden wird. Der Hirte bietet alles auf. Er überlässt die 99 sich selbst, um das eine zu finden und trägt es auf den Schultern zurück. Wer sich verloren hat, hat viel Energie aufgewandt. Wer seine Freiheit ausprobiert, ist erschöpft. Wer in die Irre gegangen, ist entkräftet. Er trägt es heim. Kein Wort: Warum hast du das gemacht? Wie konntest du bloß? Was hast du dir dabei gedacht?“ Nein, er trägt es einfach heim. So ist Gott. Ja.
Es soll wieder dort sein, wohin es gehört. Gott liebt die Trennungen nicht.
Manchem stellt sich hier vielleicht Widerstand gegen diese Geschichte vom verlorenen Schaf ein. Schrecklich, dieses Bild von Schaf und Herde. Entmündigend. Für den ist die Geschichte bestimmt, die in der Bibel eine Seite weiter steht: die Geschichte vom verlorenen Sohn. Er entscheidet sich selbst, zurückzukehren, wohin er gehört. Aber manchmal bist du so fertig, dass du froh bist, nicht mehr reden und gehen zu müssen, einfach nur getragen bist.
Ich höre noch einen anderen Einwand: Verloren sein? Das ganze Thema ist mir fremd. Das glaube ich. Aber die Einsamkeit, ist die Dir auch fremd? Ohne einen Zusammenhang leben? Sich rausgenommen fühlen aus allem, was stützt und trägt? Ohne Sinn sein? Sinn heißt übrigens aus dem Altdeutschen übersetzt „Zusammenhang“. Dann ist sinnlos, ohne Zusammenhang, in Gottesferne leben. Gott mag die Trennungen nicht. Liebe nennt man das.
Die ganze Geschichte läuft hinaus auf den Schluss.
Auf die Freude. Ruft alle zusammen, lasst uns feiern, ich habe es wieder gefunden.
Was verloren war, ist wieder da. Wenn der Sünder heimkehrt, jubeln alle.
Wüsst ich aber. Freude, wenn jemand nach einer gewonnenen Erkenntnis heimkehrt? Nein. Eher Erleichterung. Warum haben wir als christliche Gemeinde so viele Probleme mit der Freude?
Wir sind so sehr auf Funktionieren ausgerichtet, auf Ziele erreichen, auf Erfolge, auf Richtigkeit. Das verdirbt jede Freude.
Fehler werden nicht mehr gelobt. Auf der Abi-Entlassung in unserer Stadt letzte Woche gab der Lehrer mit dem Reifezeugnis vor allem diesen Rat mit: Freut euch an euren Fehlern. Sie sind es, an denen wir lernen. Starrt nicht auf die Richtigkeiten. Fehler können richtig, richtige Hausaufgaben eine Fälschung sein, sagte er.
Freude über den, der sich verloren hat, und der wieder gefunden wird.
Der den Zusammenhang wiederfindet im Lob seiner Fehler. Die Freude über eine gewonnene Erkenntnis ist größer als über 99 Richtigkeiten.
Das ist die Essenz des Gleichnisses Jesu: So ist Gott. Du sollst sein, wohin du gehörst.
Ich schließe mit der Erfahrung aus der Kinderzeit, die mir eine Frau erzählte. Wenn sie allein in der Stadt oder gar in der Bahn unterwegs war, hatte sie eigentlich immer ein bisschen Angst. Aber Mutter hatte ihr einen Zettel mit Namen und Adresse in die Tasche gesteckt. Wenn ich verloren gehe, dann wissen die anderen, wohin ich gehöre.
So einen Zettel haben wir in der Tasche. Wenn Sie so wollen, sind wir durch unsere Taufe bekannt bei Gott. Du kannst nicht verloren gehen. 
Perikope
10.07.2013
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