Predigt zu Lukas 15, 1-7 von Sven Evers
15,1
Liebe Gemeinde,

  habt Ihr die Frau dort hinten in der Kirche schon gesehen? Ja, die hinten rechts in der Bank. Die war doch noch nie da, oder? Und dann setzt sie sich ausgerechnet auf den Platz von Frau Meyer. Echt unverschämt.
  Und der Junge hier vorne. Interessiert sich doch angeblich gar nicht für die Kirche. Und konfirmiert ist er auch schon. Was will der denn hier? Hat der nicht gestern noch auf dem Marktplatz gesessen mit den ganzen Säufern und Kiffern? Ich weiß ja nicht, ob wir solche Leute hier bei uns in der Kirche haben wollen...
  Und der hier neben mir – ich hab genau gesehen, wie er neulich im Supermarkt sich gefreut hat, dass die Kassiererin ihm zuviel rausgab. Hätt er ja auch sagen können, oder?
  Und jetzt sitzen die alle hier im Gottesdienst...
  
  Merken Sie was? Natürlich würde niemand von uns solche Dinge sagen, wie ich sie gerade ausgesprochen habe. Aber mal ehrlich: denken doch vielleicht schon, oder? Ist ja auch ganz natürlich irgendwie. Wir haben eine genaue Vorstellung davon, was sich gehört und was eben nicht. Und immerhin sind wir hier „bei Kirchens“ – da kann man doch nicht alles durchgehen lassen? Da ist schon manches Mal ein schiefer Blick, wenn jemand so ganz anders ist als wir; da ist schon manches Mal ein zumindest heimliches Naserümpfen über die, die so gar nicht in unsere Vorstellung von dem passen, was „man“ zu tun oder zu lassen hat.
  Also, Sie, liebe Dame hinten rechts, und Du, lieber Jugendlicher hier vorne, und Du, neben mir – Ihr alle seid natürlich nicht gemeint. Wir freuen uns, dass Ihr hier seid!
  
  Und liebe Gemeinde, ich will Euch überhaupt kein schlechtes Gewissen machen. Naja, ein kleines bisschen höchstens – denn: eigentlich sollten wir uns als Christinnen und Christen doch freuen über jeden und jede, der oder die zu uns in den Gottesdienst, zu uns in die Gemeinde kommt, oder? Und meistens tun wir das ja auch. Aber dann gibt es eben auch dieses andere. Dieses merkwürdige Unwohlsein, wenn da jemand kommt, der so gar nicht zu uns zu passen scheint. Warum bereitet uns so etwas eigentlich Mühe? Warum ist da plötzlich manches Mal neben der Freude dieses merkwürdige Gefühl, das gehöre sich nicht oder das passe nicht oder das könne ja nun gar nicht angehen, dass ausgerechnet DER oder ausgerechnet DIE hier mit uns feiert? Unsicherheit vielleicht? Infragestellung unserer eigenen Meinungen und Gewohnheiten? Der Druck des „man“, dieser so anonymen, überhaupt nie greifbaren und doch so mächtigen Masse, die uns sagt, was in Ordnung ist und was nicht? Unsicherheit, weil wir uns auf einmal auseinandersetzen müssten mit ganz anderem, fremden, ungewohntem, wenn wir offen zugingen auf die, die auf den ersten Blick gar nicht zu uns passen?
  
  Eine Mischung aus allem ja vielleicht. Eine Mischung von allem vielleicht mag es auch gewesen sein, die die Pharisäer und die Schriftgelehrten so hat reagieren lassen, wie wir es im Lukasevangelium, Kapitel 15 lesen können.
  
  1 Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
  
  Natürlich wissen Sie, wie die Geschichte weiter geht. Jesus wird ein Gleichnis erzählen, in dem er deutlich macht, warum er sich den „Sündern“ zuwendet. Aber bevor wir zu schnell sagen: „Kennen wir, wissen wir, ist nichts neues“ , lasst uns doch einen Augenblick bei den Pharisäern und Schriftgelehrten verweilen. Das sind ja nicht irgendwelche Leute, die keine Ahnung hätten von der Schrift, vom Wort und Willen Gottes. Im Gegenteil! Die Schriftgelehrten haben die Schriften ausgiebig studiert. Die wissen, wovon sie reden. Und die Pharisäer – es gibt im Judentum zur Zeit Jesu wohl kaum eine Gruppe, die es ernster meinte mit dem Willen Gottes. Diesen zu erfüllen im Alltag – das war ihr Ziel. Und natürlich wissen sie von Gottes Liebe. Natürlich wissen sie von Gottes Vorliebe für die Armen und die Schwachen und die Ausgegrenzten und die Unterdrückten. Und doch – der Historiker verzeihe mir, wenn ich ein bisschen zu pauschal spreche – und doch war da eine tiefe Angst, die ihren Blick lenkte und manchmal vielleicht auch in die falsche Richtung lenkte: die Angst vor dem, was wir Sünde nennen und was sie selber vielleicht am ehesten als „unrein“ bezeichnet hätten.

  Gott ist heilig – und deshalb soll auch sein Volk heilig sein. So steht es in den Schriften. Und weil das so ist, ist es absolut notwendig, dass die Heiligkeit des Volkes bewahrt wird vor allem, was sie verunreinigen könnte. Deshalb der große Bogen um die Zöllner und die Sünder. Deshalb schon gar keine Gemeinschaft beim Essen – denn was gibt es persönlicheres als sich gemeinsam mit anderen Menschen zu Tisch zu legen. Das Unreine könnte anstecken. Es könnte alles zunichte machen: die jahrelangen Bemühungen, den Willen Gottes im Alltag zu erfüllen; das stetige und manchmal gewiß anstrengende Streben nach eigener Reinheit und Heiligkeit. Es könnte alles in Frage stellen, was doch immer galt und immer richtig war.
  Es könnte – ich nehme einmal auf, was ich über Ihre und unser aller Gedanken, liebe Gemeinde, vorhin gemutmaßt habe – es könnte mich in Frage stellen; könnte mich zutiefst verunsichern; könnte meine Wert- und Moralvorstellungen ins Wanken bringen. Und ist es nicht nur allzu selbstverständlich, da lieber einen Rückzieher zu machen?
  Also, lasst uns nicht den Stab brechen über die Schriftgelehrten und Pharisäer, sondern ihr Bemühen ernst nehmen und ihre Sorge vielleicht sogar als eine uns überhaupt nicht fremde Sorge anerkennen.
  
  Das ist also die Lage, in die hinein Jesus sein Gleichnis erzählt. Ihr kennt es alle. Es ist das Gleichnis vom verlorenen Schaf:
  
  4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? 5 Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
  
  „Habt keine Angst“ ruft Jesus gewissermaßen den Schriftgelehrten und den Pharisäern zu. Habt keine Angst hinzugehen zu dem, was verloren ist, zu dem, was ihr unrein nennt! Ihr seid doch wie die 99 Schafe, die sicher sind. Ihr seid doch dem Himmelreich so nahe und bedürft der Umkehr nicht. Habt ihr Angst, ihr könntet das verlieren, nur weil ihr tut, was niemand anders als Gott selber tagtäglich tut: nämlich dem Verlorenen nachgehen, das Kranke heil machen, das Einsame in die Gemeinschaft holen, die Sünder zu Gerechten machen? Habt keine Angst vor Ansteckung! Nicht die Unreinheit der anderen steckt an, nicht die Verlorenheit anderer zieht euch in ihren Strudel, nicht das In-die-Irre-Gehen anderer bringt Euch vom rechten Weg hab.
  Kurz – und einmal theologisch gesprochen - : nicht die Sünde steckt an, sondern die Heiligkeit.
  Jesus erkennt das Bemühen der Schriftgelehrten und der Pharisäer an. Er schätzt ihr Streben nach Heiligkeit. Er weiß doch, dass es ihn um den Willen Gottes geht, um die Gottesherrschaft – genau wie es ja auch Jesus selber um die Gottesherrschaft geht. Aber an dieser kleinen aber entscheidenden Stelle, da gibt er ihnen denn doch einen Stups: Die Gottesherrschaft ist kein Privatbesitz, den es gegenüber dem Anderen und dem Fremden und dem Ungewohnten und dem irgendwie nicht Passenden und dem, was „man“ nicht tut, abzugrenzen und zu beschützen gälte.
  
  Im Gegenteil! Das Gottesreich will ausstrahlen und immer leuchtender erscheinen im Leben derer, die dazu gehören und im Leben derer, die noch nicht dazugehören oder nicht mehr dazugehören. Es will ausstrahlen in unsere Welt hinein. Und so groß ist die Freude über einen einzelnen, den ihr „Sünder“ nennt, wenn er mit mir zu Tisch sitzt, dass dieses kleine Mahl, das wir hier gemeinsam halten, im Himmel eine riesengroße Party auslöst!
  Wir haben ja – und vielleicht den Pharisäern und Schriftgelehrten von damals gar nicht unähnlich – oftmals das Gefühl, uns werde etwas genommen, wenn jemand anders etwas bekommt.
  Aber mal im Ernst: haben die 99 Schafe mehr oder weniger dadurch, dass der Hirte sich auf die Suche machte nach dem einen verlorenen?
  Sind die Pharisäer und Schriftgelehrten mehr oder weniger „gerecht“, wenn ein Zöllner oder Sünder hinzustößt zum Gottesreich und das Leben mitfeiert?
  Verlieren wir etwas, wenn auf einmal hier zwischen uns jemand sitzt, der vielleicht zum ersten Mal nach langer Zeit oder überhaupt zum ersten Mal Gottesdienst erleben will?
  Verlieren wir etwas, wenn eine Stimme mehr in unsere Lieder und unsere Gebete einstimmt?
  Wird uns etwas genommen, wenn beim Abendmahl auf einmal jemand neben uns steht, dem oder der wir im Alltag vielleicht sogar am liebsten aus dem Weg gingen?
  Macht uns die Gemeinschaft derer, mit denen wir auf den ersten Blick nichts anzufangen wissen oder die nicht unseren Vorstellungen entsprechen, ärmer oder reicher?
  
  Ich bin fest davon überzeugt, dass die Freude im Himmel auch über die Verlorenen oder die sich Aufgebenden oder die Zurückkehrenden oder die Neugierigen, kurz: über all jene, die wir vielleicht nicht freiwillig mit an unseren Tisch laden würden, riesengroß ist, und dass sie uns anstecken kann, diese himmlische Freude, wenn wir bereit sind, unsererseits das Himmelreich nicht als Privatbesitz betrachten oder gar zu meinen, es sei unsere Aufgabe zu entscheiden, welche Regel denn an Gottes Tisch zu gelten haben.
  
  In Frage stellen mögen uns die, die uns merkwürdig oder anders oder unpassend oder wie auch immer erscheinen, durchaus. Und vielleicht ist das ja auch gut so. In Frage gestellt zu werden heißt ja: zumindest nicht schon im vorhinein die Antwort kennen. Und vielleicht brauchen wir diese Infragestellung, diese Verunsicherung, dieses Herausgerissenwerden aus unseren Selbstverständlichkeiten immer wieder, damit wir nicht am Ende unsere Vorstellungen von Kirche für die wahre Kirche halten; damit wir nicht unsere Vorstellungen von Gott für den wahren Gott und unsere Vorstellungen vom Himmelreich für den Himmel halten. Nicht anders als nach Jesu Meinung die Pharisäer und die Schriftgelehrten diese Infragestellung brauchten. Sie haben nicht im eigentlichen Sinne falsch über Gott und die Gottesherrschaft gedacht. Ihre Unsicherheit und gar Ablehnung ist verständlich und allzu menschlich. Aber sie haben sich des großen Reichtums beraubt, den die Begegnung mit dem Fremden immer bedeutet. Sie haben sich des großen Reichtums beraubt, den sie erlebt hätten in der Erfahrung von Gemeinschaft mit Menschen, die sie so gar nicht auf dem Schirm hatten.

  Und vor allem: sie haben viel zu klein von Gott und der Gottesherrschaft gedacht. Und so sind sie, ohne es zu wissen, vorbeigelaufen an der großen Freude der 99 Schafe über das eine Verlorene; an der großen Freude der Nachbarn des Hirten, die mit ihm feierten – an der großen Freude Gottes über einen jeden und eine jede einzelne, der oder die zu ihm findet.
  Und wenn im Himmel große Freude ist über das Verlorene, das wieder gefunden wird – sollten wir da nicht einstimmen in diese göttliche Freude?!
  Amen.
   
Perikope
10.07.2013
15,1