Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Andreas Schwarz
15,1-3.11b-32

1 Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören.
2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
11 Ein Mensch hatte zwei Söhne.
12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
14 Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben
15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße
23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!
24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen
26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre.
27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat.
28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre.
30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.
31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.
32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.

Eine Familiengeschichte, wie sie häufig vorkommt.
Ein junger Mensch verabschiedet sich aus dem warmen und sicheren Nest der Familie.
Weder rebellisch noch sündig.
Dem Ruf der Freiheit folgend.
Ich muss raus. Raus aus der Geborgenheit.
Ich will lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.
Dafür verzichte ich darauf, dass zuhause für mich gesorgt wird – um alles.
Ich möchte mich ausprobieren, eigene Wege gehen,
ohne zu wissen, wohin mich das führt.
Und ob ich ankomme wo ich will oder ganz woanders hingeführt werde,
das Risiko gehe ich ein.
Ich möchte gehen, ohne jemandem sagen zu müssen wohin
oder wann ich nachhause komme.
Wenn ich nachts nachhause komme, möchte ich niemanden wecken und ich möchte auch nicht gefragt werden, wo ich war und warum ich erst jetzt komme.
Ich möchte nicht, dass jemand sich Sorgen macht.
Ich möchte nichts begründen und mich nicht rechtfertigen müssen.
Gerne will ich dafür auf Fürsorge und Sicherheit verzichten.
Ich spüre ganz tief in mir die Sehnsucht, Bindungen und Fesseln abzustreifen.
Ich will Freiheit erleben, wie ich sie mir wünsche.
Und wenn mich die harte Realität auf den Boden der Tatsachen des Lebens zurückholt, dann will ich auf meine Erfahrung nicht verzichtet haben.
Ich glaube, ich kann nie der werden, der ich bin,
wenn ich immer da bleibe, wo ich bin.
Ich lerne mich selbst auch erst kennen,
wenn ich nicht die klaren Regeln und Formen der Familie immer um sich habe.
Ich möchte selbst überlegen und entscheiden.
Ich bin bereit, auch selbst die Konsequenzen  meines Tuns zu tragen.

Wie will ich leben?
Wie übernehme ich Verantwortung für das, was ich tue?
Wie viel Schutz und Begleitung brauche ich?
Wie viel Risiko kann ich eingehen?
Kann ich damit umgehen, wenn es anders wird, als ich wollte?
Was mache ich, wenn Träume platzen und Hoffnungen scheitern?
Wie will ich leben?
Freue ich mich, wenn andere mir sagen, wie es geht
und ich entspreche den Erwartungen?
Brauche ich die Freiheit eigener Wege – ohne Netz und doppelten Boden?

Menschheitsfragen.
Keineswegs moderne Selbstverwirklichung.
Selbsterfahrung des Menschen zu allen Zeiten.
An keiner Stelle der Geschichte kritisiert der Vater das Verhalten des Sohnes.
Kein mahnendes Wort, dass er sich auszahlen lässt.
Es steht ihm zu.
Er ist der Jüngere. Den Hof des Vaters bekommt er später ohnehin nicht.
Er erhält, was ihm zusteht und verliert damit jeglichen Erbanspruch.
Mehrere Familien kann der Hof nicht ernähren.
Der Jüngere ist genötigt, sich anderswo den Lebensunterhalt zu verdienen.
Der Vater lässt seinen jüngeren Sohn gehen.
Ohne ein böses Wort.
Ohne ihm ein schlechtes Gewissen zu machen.
Ohne Ratschläge und Verhaltensmaßregeln.
Mit ganz viel Vertrauen und viel Hoffnung, sicher.

Und es ist gut, dass die Eltern nicht alles, wissen, was geschieht.
Wie der Sohn sein Leben führt und wie es ihm ergeht.
Dass er sein Erbteil verschleudert.
Dass eine Wirtschaftskrise ausbricht, Menschen Hunger leiden.
Dass er in der schweren Zeit nicht arbeiten und seinen Lebensunterhalt verdienen kann.
Dass es bergab mit ihm geht, in jeder Hinsicht.
Er verliert alles, was für ihn wichtig war, was sein Leben bestimmt hat:
sein Erbe hat er verschleudert, seine religiöse Grundlagen gehen vor die Hunde, oder besser: zu den Schweinen,
und für sein Leben gibt es keine Form der Sicherheit mehr.
Er ist am Ende.
Das ist eine entwürdigende Situation.
Selbst fühlst du dich keineswegs wohl dabei, du kannst dich selbst nicht mehr riechen, wenn du bei den Schweinen lebst. Du würdest Schweinefraß fressen, wenn du dürftest, aber nicht einmal das ist erlaubt. Tiefer geht es nicht mehr.
Und bevor du überhaupt mit jemandem redest, hörst du schon die Vorhaltungen.  „Siehst du, so geht das, wenn man meint, alles selber entscheiden zu müssen, wenn man meint, frei sein zu wollen. Jetzt hast du deine Freiheit. Ich hätte es dir ja gleich sagen können, aber du hast ja nicht auf mich gehört“. 
Ach, diese unglaublichen Besserwisser.
Die haben ja wahrscheinlich alle nur darauf gewartet, dass es so kommt.
Die wussten ja schon immer, dass man seine Sicherheiten nicht weggibt, dass man sein Erbe nicht verschleudert.
„Keine Verantwortung, diese jungen Leute, kein Gespür für das, was im Leben und seiner Zukunft wirklich wichtig ist. Bleibe im Lande und nähre dich redlich – das wusste schon die Weisheit Israels; und die Eltern wissen auch, wo es langgeht. Hör doch auf die Lebenserfahrung der Alten. Aber nein, alles besser wissen. Das hast du jetzt davon“.

Glaubt irgendjemand, der Junge hätte große Lust nachhause zu gehen?
Und sich das anzuhören?
Er weiß es doch.
Ja, ihr habt ja Recht. Es gibt nichts zu beschönigen, nichts zu entschuldigen.
Ich habe nichts mehr, ich stinke, niemand will mit mir zu tun haben.
Das trage ich nun.
Und auch die zahlreichen Sprüche, Belehrungen, Vorhaltungen, Besserwissereien. Da ich sowieso überall untendurch bin, vor allem bei mir selbst, kann ich auch zu meinem Vater gehen. Arbeiten kann ich und will ich ja auch, dann kann ich wenigstens leben und nicht vegetieren. Ich bin nicht mehr ganz unten, bei den Schweinen.
Vieles habe ich verloren, im Grunde genommen alles – mein Geld, meinen Erbanspruch, mein Recht Sohn zu sein, die Achtung vor Anderen und vor mir selbst, meine religiösen Grundsätze. Aber ich kann arbeiten und ich will leben. Ich werde zu meinem Vater gehen, zugeben, dass ich mich falsch verhalten habe, dass ich Fehler gemacht habe, dass ich keinen anderen Weg mehr weiß, als zu ihm zu gehen.
Das Szenario musste von Anfang an auf der Liste gestanden haben.
Aber wenn es dann kommt, dann ist es doch bitter.
Sein Traum von Freiheit ist geplatzt.
Seine Sehnsucht, die ihn nach draußen trieb, hat sich nicht erfüllt.
Jetzt sehnt er sich nach einfachen Dingen: Essen, trinken, ein Dach über dem Kopf. Die Ansprüche sind spürbar niedriger geworden.
Das macht er zuerst mit sich aus, in seinem Kopf, in seinem Herzen.
Kein leichter Weg, zu sehen: ich bin gescheitert.
Ein schweres Vorhaben, es auch anderen gegenüber einzugestehen.
Dem Vater, der Mutter, den Geschwistern.
Er hat keine Ahnung, was die denken.
Ob sie ihn vergessen haben?
Abgeschrieben?

Das Herz des Vaters ist voller Sehnsucht.
Was immer der Sohn an Gedanken seines Vaters gemutmaßt hat,
der Vater sehnt sich nach seinem Sohn.
Sowie er seinen Sohn von Weitem sieht,
läuft er auf ihn zu und nimmt ihn in die Arme.
Und wenn er noch so dreckig ist und stinkt, er drückt ihn an sein Herz.
Da nämlich gehört er ihn – und war er wohl auch immer – am Herz des Vaters.
Die Sehnsucht erfüllt sich.
Durch nichts konnte der Sohn die Liebe des Vaters zu seinem Sohn zerstören.
Das ist, was Eltern spüren und erleben.
Liebe zu ihren Kindern auch dann, wenn sie ganz anders denken und handeln, als sie es für richtig erachten.
Kinder, um die sie sich Sorgen machen, auch wenn sie längst erwachsen sind. Kinder, die immer willkommen sind.
Türen und Herzen und Arme stehen ihnen offen, wo immer sie waren, was immer sie erlebt haben.
Wo warst du?
Warum bist du weggegangen ist?
Wo ist dein Geld?
Was hast du angestellt hat?
Warum bist du so dreckig und stinkst so widerlich?
Nicht davon. Keine Frage. Kein Wort.
Der Vater nimmt seinen Sohn in die Arme: Du bist mein Sohn.
Du kannst in deinem Leben viel kaputt machen, du kannst so viel verspielen, du kannst deine Zukunft riskieren, deine Gesundheit, dein Ansehen, deine moralischen Prinzipien. Aber mein Sohn zu sein verlierst du nicht.
Du bist nicht deshalb wieder Sohn, weil du deine Fehler bekannt hast, weil du deine Reue ausgedrückt hast, weil du zugegeben hast, dass du versagt hast.
Du bist mein Sohn, weil ich dich liebe.
Ich freue mich, dass du wieder da bist.
Du hast deine Würde nicht verloren und sollst leben.

Wer spürt, dass er geliebt wird, der hat auch Mut, Fehler zuzugeben und um Verzeihung zu bitten.
Aber darauf antwortet der Vater gar nicht.
Er ordnet ein Freudenfest an.
Alle auf dem Hof sollen sich mitfreuen, dass der Sohn wieder da ist, als Teil der Familie. Wie vorher.
Jetzt gibt es tatsächlich eine neue Chance; es ist nicht alles vorbei.
Das Leben kann neu beginnen und es ist um mehrere Erfahrungen reicher.
Vor allem um die: ich wurde nicht abgeschrieben, ich wurde nicht aus dem Familienbuch gestrichen, ich musste mir das Zuhause sein nicht verdienen, erarbeiten. Mir wurde verziehen, bevor ich um Verzeihung bitten konnte.
Mit dieser Erfahrung lässt es sich jetzt tatsächlich neu anfangen und ganz anders leben. Die vorher wenig miteinander geredet hatten, die sagen und zeigen, wie es ihnen ums Herz ist und feiern miteinander. 
Und sie lebten glücklich und zufrieden miteinander ihr ganzes Leben.
Wäre es ein Märchen, könnte dieser Satz folgen.
Aber es ist kein Märchen, es ist das Leben.
Und das hat keinen Schluss. Es ist offen.
Jesus sieht die Menschen, wie sie leben und wie sie miteinander umgehen.
Er lässt sie Neues erleben. Er hat Menschen neue Chancen geschenkt.
Denen, die erleben, sie sind gescheitert. Er hat die Prostituierten, die Zöllner angenommen und ihnen eine neue Lebenschance gegeben.
Aber nicht jeder will sich mitfreuen.
Denn es ist nicht nur der Drang nach Freiheit, den wir spüren,
nicht nur die angenehme Erfahrung, unverdient angenommen zu werden.
Es ist auch der Ärger über Andere und die Hilflosigkeit, damit umzugehen.
Der ältere Sohn kann sich nicht mitfreuen, dass sein Bruder, den er im Gespräch ‚dein Sohn‘ nennt, wieder da ist und der Vater sich auch noch darüber freut!
Furchtbar mitzuerleben, dass Vater und Sohn scheinbar nie wirklich miteinander geredet haben. Der Sohn hat nie gesagt, was er möchte, worüber er sich freut. Er hat geschwiegen, hat treu und zuverlässig, aber offensichtlich ohne Freude seine Arbeit gemacht. Und jetzt kommt raus, wie unzufrieden er ist. Jahrelang hat er es mit sich herumgetragen – und jetzt ist die Heimkehr des kleinen Bruders der Anlass, es dem Vater vorzuwerfen.
Der Vater wirbt um seinen älteren Sohn, dass er sich mitfreut.
Er war doch frei, er war zuhause, er hatte jede Chance und jedes Recht zu sagen, was er möchte, zu tun, was er wollte und verantwortete. All die Jahre wäre es leicht gewesen, darüber zu reden. Jetzt ist es schwer. Jetzt geht es um eine innere Überwindung. Das Gefühl, falsch, schlecht, ungerecht behandelt worden zu sein, verhindert die Mitfreude. Aber der Vater hört nicht auf, genau darum zu bitten.
Die Geschichte löst den Konflikt nicht.
Es ist unsere Geschichte, es sind unsere ungelösten Konflikte. Mit Gott und untereinander. Sie stehen unter dem Werben des himmlischen Vaters.
Die Freude, zu Gott zu gehören ist wichtiger als alle bedrückende Erfahrung – ich werde nicht ernst genommen, nicht genug geachtet und wert geschätzt.
Der Vater liebt den einen wie den anderen.
Indem Jesus diese Geschichte erzählt, wirbt er um das Vertrauen in die Liebe des Vaters. Die Geschichte hat kein Ende – die Einladung zur Freude gilt uns.
Gemeinsames Feiern wäre der erste Schritt auf dem Weg zu einer gelingenden Kommunikation zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen. Amen.
 

Perikope
21.06.2015
15,1-3.11b-32