Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Johannes Block
15,1-3.11b-32

Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Johannes Block

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, heißt es in Goethes Faust. Gegensätze und Ambivalenzen, liebe Freunde, machen gute Geschichten aus. Ohne zwei Seelen in seiner Brust wäre Goethes Faust vermutlich ein harmloser, ein angepasster Zeitgenosse und Charakter geworden. Interessante Figuren und gute Geschichten leben davon, dass zwei Seelen, zwei Wahrheiten, zwei Weltsichten miteinander streiten und ringen. Alles andere wäre einfach und simpel - ohne Drama, ohne Tragik, ohne Entwicklung.

Auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn steht in der Gefahr, eine einfache und simple Geschichte zu werden. Die Gefahr besteht darin, dass man im Gleichnis vom verlorenen Sohn allein auf einen Sohn, auf den verlorenen Sohn, blickt. Doch das Gleichnis ist keine ein-fache, sondern eine zwei-fache Geschichte. Denn das Gleichnis erzählt von zwei Söhnen: vom verlorenen Sohn zum einen und vom heimgebliebenen Sohn zum anderen. „Zwei Söhne wohnen, ach! in unserem Gleichnis“.

Gottes Wort ist schärfer als ein zweischneidiges Schwert, heißt es in der Bibel (Hebräer 4,12). Gottes Wort wirkt nicht ein-fach, sondern zwei-fach: Es klagt an und es tröstet, es entlarvt und begnadigt, es richtet und erlöst. Martin Luther sagt, dass Gottes Wort auf zweifache Weise wirke: als Gesetz und als Evangelium. Das Wort Gottes als Gesetz deckt auf und klagt an: den Kleinglauben, die Selbstbezogenheit, die Lüge, die Herzlosigkeit. Das Wort Gottes als Evangelium tröstet und befreit: zum Gottvertrauen, zur Wahrheit, zur Barmherzigkeit, zur Gelassenheit.

Auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist ein zweischneidiges Schwert. Es ist keine simple Geschichte, weil wir sie zwei-fach verstehen sollen: als Geschichte vom verlorenen Sohn und vom heimgebliebenen Sohn, als Geschichte im Doppelschritt von Gesetz und Evangelium.

Blicken wir, liebe Freunde, in einem ersten Schritt auf die schöne, die populäre Seite im Gleichnis: Das ist die Geschichte des verlorenen Sohnes, in die das Evangelium eingwickelt ist!

I.

Jesus erzählt das Gleichnis vom verlorenen Sohn, um eine Gotteswahrheit zu veranschaulichen: Gott ist ein Liebhaber des Lebens; deshalb vergibt er allen, die reumütig erkennen, dass sie mit Worten und Taten Leben zerstören. Gott „nimmt die Sünder an“, heißt es in der Hinführung zum Gleichnis.

Man kann Leben zerstören durch Taten, indem man die Umwelt zerstört und Lebensräume asphaltiert, indem man tötet, Tiere schlachtet und Menschen abschlachtet. Und man kann Leben zerstören durch Worte, indem man lügt, Vertrauen zerstört, indem man Freundschaft mißbraucht und Beziehungen aufkündigt:

Der jüngere Sohn sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.

Der Sohn kündigt die Beziehung auf, weil er den Vater als Mittel zum Zweck mißbraucht: als bloßen Erblasser. Das ererbte Geld wird mißbraucht, weil es ohne Verantwortung verprasst wird. „Eigentum verpflichtet“, heißt es deshalb im Grundgesetz. Aus dem einen verlorenen Sohn sind mittlerweile viele verlorene Söhne und Töchter geworden, die ihre Schätze und Reichtümer allein für sich selbst verbrauchen wollen. Das private Leben und das persönliche Wohlergehen sind für viele wichtiger als die Verantwortung für die öffentliche Sache – für die res publica. Vereine, Chöre, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und andere haben bereits viele Söhne und Töchter verloren – und verlieren Jahr um Jahr weitere. Dem verlorenen Sohn ist die eigene Freiheit und Selbstverwirklichung wichtiger als ein Leben in Verantwortung und in Beziehung: zum Vater, zum älteren Bruder, zum Gesinde im Haus und zum Vieh auf dem Hof.

Gott vergibt dem Sünder, weil Gott ein Liebhaber des Lebens ist. Gott feiert ein Fest, weil ein Mensch wieder in’s Leben gefunden hat: in’s Vertrauen, in die Beziehung, in’s Miteinander. Wenn man im dämmernden Morgenlicht das Gesicht seines Mitmenschen erkennt, dann beginnt das Leben, sagt ein jüdisches Sprichwort. Der heimgekehrte, der in’s Leben zurückgekehrte Sohn ist dem Vater wichtiger als das verlorene Erbe und Geld. Gott zahlt einen hohen Preis. Er tauscht  das verlorene Geld gegen den verlorenen Sohn. Gott zahlt den Preis, weil er ein Liebhaber des Lebens ist.

Die Energie, die den verlorenen Sohn nach Hause führt, ist die Güte des Vaters, an die sich der Sohn in seiner Not erinnert:

Da ging der Sohn in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!

Der Entschluss und Mut zur Rückkehr gründet in der Erinnerung an die himmlische Güte: Gott gewährt Leben, Gott erhält am Leben, Gott gibt Brot in Fülle. Das ist das schöne Evangelium im Gleichnis: Gott regiert, indem er gütig ist; Gott richtet, indem er vergibt; Gott ruft nach Hause, indem er seine Gaben austeilt und den Tisch deckt.

Manchmal schreibt sich das Evangelium Gottes in unserer Welt weiter. Üblicherweise gelten das Gesetz und die Strafe, die Macht und die Autorität, die Ordnung und die Disziplin. „Ohne Fleiß keinen Preis“ – das gilt erst recht in Sachsen-Anhalt, im Land der Frühaufsteher! Doch manchmal fällt ein himmlischer Schein des Evangeliums in unsere Welt. Das geschieht dann, wenn die Güte und Liebe es vermag, über Fehler und Schwächen hinwegzusehen, ein Auge zuzudrücken, das Leben wichtiger als das Geld und den Menschen wichtiger als dessen Schuld zu nehmen. Vor einiger Zeit habe ich von folgender Geschichte gehört, die ein weitgereisender Weltenbummler erzählte:

„Bei einer Zugfahrt saß ich neben einem jungen Mann, der sehr bedrückt wirkte. Nervös rutschte er auf seinem Sitz hin und her, und nach einiger Zeit platzte es aus ihmn heraus: Dass er ein entlassener Häftling sei und jetzt auf der Fahrt nach Hause. 
Seine Eltern waren damals bei seiner Verurteilung tief getroffen. Im Gefängnis hatten sie ihn nie besucht, nur manchmal einen Weihnachtsgruß geschickt. Trotzdem, trotz allem hoffte er nun, dass sie ihm verziehen hätten. Er hatte ihnen geschrieben und sie gebeten, sie mögen ihm ein Zeichen geben, an dem er, wenn der Zug an dem kleinen Bauerngehöft kurz vor der Stadt vorbeiführe, sofort erkennen könne, wie sie zu ihm stünden. Hätten sie ihm verziehen, so sollten sie in dem großen Apfelbaum an der Strecke sichtbar ein gelbes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht sehen wollten, brauchten sie gar nichts zu tun. Dann werde er weiterfahren, weit weg.
Als der Zug sich seiner Heimatstadt näherte, hielt er es nicht mehr aus, brachte es nicht über sich, aus dem Fenster zu gucken. Ich tauschte den Platz mit ihm und versprach, auf den Apfelbaum zu achten. Und dann sah ich den Apfelbaum: Der ganze Baum – über und über mit lauter leuchtenden gelben Bändern behängt!
‚Da ist er!’, flüsterte ich, ‚alles in Ordnung!’ Er sah hinaus, Tränen standen ihm in den Augen. Mir war, als hätte ich ein Wunder miterlebt.“

Manchmal schreibt sich das Evangelium Gottes in unserer Welt wundersam weiter: wenn verlorene Söhne und Töchter wieder in’s gemeinsame Leben finden; wenn die Güte einen Menschen wichtiger nimmt als dessen Fehler. Dann kommt es zu Geschichten, in die das Evangelium eingwickelt ist!

Blicken wir, liebe Freunde, in einem zweiten Schritt auf die unschöne, die unpopuläre Seite im Gleichnis: Das ist die Geschichte des heimgebliebenen Sohnes, in die das Gesetz eingwickelt ist!

II.

Die unschöne, die unpopuläre Seite im Gleichnis wird häufig übersehen und gern verdrängt: Das ist die Eifersucht des heimgebliebenen Sohnes. In der Eifersucht des heimgebliebenen Sohnes entlarvt sich ein Wesenszug des ganzen Menschengeschlechtes: Gottes Gnade für andere macht eifersüchtig. Das ist eine tief eingefleischte, geradezu urtümliche Mitgift der Menschheit, von der die biblische Urgeschichte erzählt:

Es begab sich, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.

Das ist die unschöne, die unpopuläre Seite im Gleichnis, die häufig übersehen und gern verdrängt wird: die Eifersucht auf den Erfolg des anderen. Der Andere hat den besseren Arbeitsort, das höhere Gehalt, das größere Auto, die bessere Idee, die erfolgreicheren Kinder, die glücklichere Partnerschaft, den höheren Stimmenanteil bei der Wahl, den größeren Einfluss. Gottes Gnade für andere macht eifersüchtig:

Der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.

Alles hat seine zwei Seiten. Auch die Gnade Gottes kommt nicht einfach problemlos zur Welt. Sie löst Eifersucht aus. Sie hat Konsequenzen: Die Gnade Gottes beglückt die Verlorenen, die es eigentlich nicht verdient haben; und die Gnade Gottes empört die Daheimgebliebenen, die sich alles treu und redlich verdient und erarbeitet haben. Die Gnade Gottes provoziert, weil sie unverdient zuteilt, weil sie sich ökonomisch nicht rechnet, weil sie in keiner Bilanz auftaucht. Gottes Gnade unterläuft die üblichen Standards: Sie teilt sich aus wie ein Preis oder eine Ehrenwürde, die man aus Sicht der anderen nicht verdient hat. Gottes Gnade hat einen Beigeschmack für die Daheimgebliebenen, die Redlichen, die Etablierten. Es ist für viele eine Zumutung, wenn Asylanten und Flüchtlinge einfach nach Deutschland kommen – unverdientermaßen und ohne Verdienst. Es ist für manche eine Zumutung, wenn heute Menschen an die Tür der Kirchengemeinde klopfen, die früher zu den Verächtern und Bedrückern der Kirche zählten. Gottes Gnade kann eine Zumutung sein. Gottes Gnade für andere kann eifersüchtig machen. Die ist die unschöne, die unpopuläre Seite im Gleichnis, die häufig übersehen und gern verdrängt wird.

III.

„Zwei Söhne wohnen, ach! in unserem Gleichnis“. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist keine ein-fache, sondern eine zwei-fache Geschichte. Denn das Gleichnis erzählt von zwei Söhnen: vom verlorenen Sohn zum einen und vom heimgebliebenen Sohn zum anderen. Es ist eine zweischneidige Geschichte im Doppelschritt von Gesetz und Evangelium. Diese Geschichte ruft die Verlorenen nach Hause und entlarvt die Eifersucht der Daheimgebliebenen.

Doch das Ziel im Gleichnis, liebe Freunde, besteht nicht darin, Verlierer und Gewinner oder Erste und Letzte oder Verlorene und Daheimgebliebene gegeneinander zu stellen. Jesus erzählt das Gleichnis, um in das Leben zu führen, das aus der Gnade Gottes lebt. Gottes Gnade teilt sich gleichmäßig aus, so dass Letzte zu Ersten und Erste zu Letzten werden (Mt 20,16). Sie teilt zu, wovon alle leben. Sie schenkt sich aus, ohne anderen zu nehmen. Die Gnade Gottes nimmt niemandem etwas weg, sondern gibt den Verlorenen das, was die Daheimgebliebenen bereits besitzen:

Der Vater sprach zum älteren Sohn: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.

Jesus erzählt im Gleichnis von einem Leben, das aus der Gnade Gottes fließt. Manchmal verlaufen die Wege in das Leben auf unterschiedlichen Strecken: Der eine merkt erst in der Fremde, was er zuhause an Güte verloren hat; und der andere merkt zuhause, dass er dort in der Güte noch gar nicht angekommen ist.

Am Ende im Gleichnis geht es um das Fest des Lebens – um ein Leben, das sich immer wieder neu aus der Güte und Vergebung speist. Gott ist ein Liebhaber des Lebens, der einen hohen Preis dafür zahlt, dass wir auf unterschiedlichen Wegen zum Fest des Lebens gelangen. Auf dem Fest des Lebens werden die Verlorenen willkommen geheißen und den Daheimgebliebenen fällt auf, was ihnen bereits alles gehört. Am Ende kommt es darauf an, nicht sich selbst, sondern Gott als den großzügigen Gastgeber des Lebens zu entdecken:

Der Vater sprach: Bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!