Predigt zu Lukas 16,19-31 von Eva Rincke
16,19-31

Predigt zu Lukas 16,19-31 von Eva Rincke

Liebe Gemeinde,

Was im letzten Satz gesagt wurde, geschah vor wenigen Tagen in einer Familie aus unserer Gemeinde: Jemand erstand von den Toten.

Ganz genau dies. Nicht in dem übertragenen Sinn, den wir manchmal benutzen, wenn zum Beispiel eine Beziehung quälend lang wie tot war und dann wieder auflebt. Nein, ganz genau dies: Jemand erstand von den Toten.

Die Geschichte dazu beginnt damit, dass ich zum Taufgespräch am Tisch saß. Mir fiel sofort auf, wie fahrig die Mutter der Kinder war. Ihr Mann erklärte es mir. „Hier steht gerade alles Kopf. Unser Neffe, er ist 14, sollte jetzt konfirmiert werden. Er lebt in Italien. Beim Baden ist er wie alle anderen auch von der Brücke gesprungen. Sein Fuß hat sich am Brückenpfeiler verhakt, als er wieder auftauchen wollte; er war 45 Minuten unter Wasser. Niemand konnte ihn befreien, so viele es auch versucht haben. Nun ist Beerdigung statt Konfirmation.“

Doch nicht sofort. In Italien muss jemand, der während der Wiederbelebungsversuche eine Reaktion hatte, noch drei Tage an den Maschinen bleiben. Da dies bei dem Jungen einmal sehr schwach der Fall gewesen war, kam er ins Krankenhaus. Doch die Ärzte sagten. Es sind keinerlei Lebenszeichen mehr feststellbar. Er ist tot. Doch so deutlich die Ärzte es der Mutter des Jungen auch sagten: Sie glaubte es nicht.

Was tat die Frau? Sie betete. Mit ihr ein ganzer Ort. Sie beteten für das Leben des Jungen gegen alle Fachmeinung. Und so erzählten die Taufeltern am Tisch: „Jetzt, während wir hier sitzen, ist ein toter Junge von betenden Menschen umringt, dort in Italien.“

Der einzige Trost in dieser Geschichte: Dass niemand in seinem Entsetzen allein war, sondern gehalten und gewärmt wurde vom Gebet der anderen.

Drei Wochen später sollte die Taufe stattfinden. Zuvor fragte ich mich, wie es der Familie wohl gelingen würde, trotz der Trauer die eigenen Kinder zu feiern.

Doch ich sah die Mutter der Täuflinge glänzend vor Glück. „Wissen Sie“, sagte sie, „es gibt doch eine Konfirmation in Italien. Als die Maschinen nach drei Tagen ausgestellt werden sollten, atmete mein Neffe plötzlich von selbst. Er schlug auch bald die Augen auf. Jetzt redet er wieder und macht freche Sprüche. Sogar seine PIN weiß er noch. Niemand kann es sich erklären, nichts davon. Sein Gehirn ist ohne jede Schädigung.“

„Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.“ Von diesem unmöglichen Fall spricht Abraham und sagt damit zwei Dinge. Erstens: Mose und die Propheten sind aus sich heraus überzeugend. Zweitens: Die Toten haben keine neue Botschaft für uns. Sie können uns nichts sagen, was wir nicht schon wüssten.

Das erfährt jetzt die Familie des verunglückten Jungen. Während alle überglücklich sind, ihn wiederzuhaben, trägt er Trauer. Denn ihm fehlt ein Unterschenkel. Die schweren Verletzungen am Bein machten eine Amputation nötig. So sehr er auch gefragt wird, was er gesehen hat oder welche Worte ihm gesagt wurden – das ist nicht sein Thema. Er will seinen gesunden Körper wiederhaben. Er will sein Bein zurück. Was er will, ist exakt das, was er schon vor dem Unglück wollte. Er ist ganz und gar der Selbe, und er hat keine neue Botschaft für die Lebenden

Wie Abraham sagt: „Mose und die Propheten“ reden deutlich genug. Sie sagen, was zum guten Leben nötig ist: Gott lieben und seinen Nächsten wie sich selbst. Mehr Botschaft braucht es nicht, und mehr Autorität braucht es auch nicht.

Die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus macht deutlich, dass es trotzdem ein Hindernis gibt: Die große Kluft zwischen Menschen. Auf der einen Seite dieser Kluft befindet sich ein reicher Mann. Er hat kostbare Kleider und herrliche Tage voller Freuden. Einen Namen hat er nicht.

Die andere Seite der Kluft wird beschrieben: Dort ist ein armer Mann. Er heißt Lazarus, er liegt vor der Tür des Reichen, hat Hunger und ist krank. Die Krümel vom Tisch des reichen Hauses würden ihm schon reichen.

Aber da ist die Kluft. Sie ist riesig, trotz der räumlichen Nähe. Sie ist so riesig, dass in ihr verschwindet, was zwischen dem reichen Jedermann und dem armen Lazarus geschieht. Wir hören nichts dazu in der Geschichte. Nur, dass beide sterben und sich dann die Verhältnisse umkehren. Aus der Ferne sieht der reiche Mann Abraham, der ihm deutlich macht: In diesen Sphären sind die Dinge nicht mehr zu ändern. Hier ist die Kluft ist nicht überwindbar. Nur im Reich der Lebenden gibt es die Chance dazu, und sie besteht im Hören. „Sie haben Mose und die Propheten, die sollen sie hören.“

Wir möchten hinzufügen: „Und es dann auch tun.“ Eine Kluft wird nicht allein dadurch überwunden, dass man die Ohren aufgesperrt. Eine Kluft wird dadurch überwunden, dass man den eigenen Steilhang hinab- und den anderen Steilhang hinaufklettert. Eine Kluft wird überwunden durch praktisches Tun.

Jesus, der diese Geschichte erzählt hat, lässt Abraham die Hinzufügung vom Tun nicht aussprechen. Er erzählt diese Geschichte so kunstvoll, dass man erkennt: Hören und Tun sind dicht beieinander. Das Tun kann – wenn das Hören vorhanden ist – leicht und wie von selbst geschehen: Dem armen Lazarus hätten die Krümel gereicht. Das Opfer des Reichen wären nicht diese Abfälle gewesen. Das Opfer des Reichen wäre es gewesen, seine Taubheit aufzugeben.

Wenn wir in jedem Sonntagsgottesdienst Kollekte sammeln, ist das eine Übung in dieser Sache. Es ist eine Geste gegen die Taubheit. Es ist eine Erinnerung an das Hören auf Mose und die Propheten: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Wenn wir in jedem Sonntagsgottesdienst Kollekte sammeln, ist das auch eine Übung darin, das Ziel nicht zu erreichen und sich dennoch nicht davon abzukehren. Wir lindern nicht die Not der Welt, nicht einmal im Ansatz. Die Übung besteht darin, das nicht als Ausrede zu nehmen.

So ging es auch den Menschen, die um den Jungen herum beteten, von dem die Ärzte sagten, er sei tot. Sie konnten die Not und das Leid nicht ändern. Sie nahmen das nicht als Ausrede. Sie ließen die Mutter und ihr Kind nicht allein. In ihrer Liebe zu Gott und zu ihren Nächsten taten sie, was sie in dieser Lage tun konnten, und beteten.

Jetzt ist der Junge in der Reha. Seine Mutter sagt nicht, er sei dort, weil Gott sich durch die Gebete habe überzeugen lassen. Seine Mutter dankt Gott und den Ärzten abwechselnd. Sie sucht nicht nach einer Erklärung. Sie weiß, dass es keine gibt. Sie belässt es beim Dank.

Wenn wir noch einmal an den reichen Mann aus der Geschichte denken, merken wir: Zu ihm passt Dankbarkeit nicht. Solange er lebt, ist er ganz damit beschäftigt, sich über sich selbst zu freuen.

Vielleicht ist man auf jemanden wie ihn einen Moment lang neidisch. Aber nicht lange, denn eigentlich ist er eine Karikatur – ein bestens gekleideter Mensch, dessen Tage alle herrlich und voller Freude sind. Weil wir die Übertreibung erkennen, ist es leicht, sich in Kontrast zu setzen und anders sein zu wollen. Auch darum ist diese Geschichte von Jesus so gut: Sie hilft hören und sehen, warnt und ermutigt, sie spornt an und erwartet nicht zu viel von uns. Das ist wichtig. Denn wir brauchen leichtes Gepäck, wenn wir das tun wollen, was sie uns aufs Neue aufträgt: Die Kluft überwinden. Gott lieben und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Amen.