Liebe Gemeinde!
Mit welchen Erwartungen kommt Almira aus Aleppo nach Deutschland? Weshalb nimmt sie die strapaziöse Fluchtroute auf sich – in einem überladenden Boot, mit tausenden anderen auf der griechischen Insel Lesbos. Immer mit der Frage: „Wann geht es weiter? Und wohin?“ Dann die langen Fußmärsche über die Balkanroute. Ein Zaun an der ungarischen Grenze. Ein Fluss trennt Kroatioen von Slovenien. Die Busse an der österreichen Grenze reichen nicht für alle, die heute ankommen. Und dann endlich: Deutschland. Eine Brücke in Passau. Zelte. Notunterkünfte. Behörden, die überfordert sind. Security vor den Unterkünften, weil man Übergriffe fürchtet und weil es auch zwischen den Flüchtlingen gärt. Ist es das, was Almira aus dem zerbombten Aleppo erträumt hat? Ist es das, was die Selfies mit Frau Merkel und den Flüchtlingen in den Aufnahmelangern, die die Kanzlerin besucht hatte und die von Handy zu Handy gingen, ihr verheißen haben. Almira wollte fort aus Syrien, aus ihrem Heimatland, aus dem Krieg, dem Bombenhagel, der ständigen Gefahr durch die Heckenschützen. Sie sucht Ruhe, ein wenig Frieden, einen Platz, einen Ort, ein Land, wo sie wieder leben und hoffen kann. Sie sucht etwas von dem, was Gott verheißen hat, sein Reich. Wann wird es kommen?
Vielleicht stellt sich Almira diese Frage jetzt auf dem Feldbett im Notaufnahmelager. Vielleicht hat sie auch keine Kraft mehr zu hoffen.
Wann kommt das Reich Gottes? Wie viele Menschen vor Almira haben diese Frage gestellt. Laut oder ganz leise, schreiend oder mit Tränen in den Augen. Wann? Auch Jesus wird danach gefragt. Im Predigttext für den heutigen Sonntag gibt er eine ganz andere Antwort als diejenigen, die ihn fragten, erwartet haben. Im Lukas-Evangelium im 17. Kapitel (VV. 20-24) heißt es:
20 Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann;
21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen.
23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!
24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.
Und Gott segne dieses sein Wort an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden.
Wann? Wann kommt das Reich Gottes?
Die, die Jesus so fragen, sind nicht Menschen am Ende ihrer Kräfte und Hoffnungen. Es sind die Theologen der Zeit, die prüfen wollen, ob der, der im Namen Gottes auftritt, auch etwas über Gottes Pläne weiß. Unzählig sind ja die Vorstellungen über das, was kommen wird. Bunt, grell und manchmal auch erschreckend sind die Bilder, die davon berichten, was sein wird. Und die Spekulationen über das genaue Datum sind so vielfältig wie die Sehnsüchte so vieler Menschen.
Die Pharisäer, die frommen Lehrer damals, werden sie gekannt haben, die vielen Hinweise der biblischen Schriften auf das Reich Gottes – wie es sein wird, wann es kommen wird. Sie werden die paradiesischen Beschreibungen kennen, wie sie im Jesaja-Buch zu finden sind. Visionen von Wölfen, die friedlich bei den Lämmern liegen und von Kindern, die keine Angst mehr vor Schlangen haben müssen. Es sind Hoffnungen von einem Frieden, den die ganze Welt spürt, so als säße man am Abend in seiner Laube. Die Zeit der Kriege ist vorbei. In Jerusalem, in Bagdad oder sonstwo auf der Welt. Die Waffen werden zerbrochen, ja sogar umgeschmiedet in Pflugscharen, die dem Leben dienen, der Versorgung der Menschen und nicht dem Tod. Die Soldatenstiefel, die über Leichen hinweggingen, werden abgestreift, die Maschinerie des Krieges hat ein Ende … Das sind Hoffnungen und Träume, die über die Jahrhunderte hindurch ihren Nachhall gefunden haben. Je bedrohlicher die Bombennächte, deshalb lauter der Ruf: Wann? Wann kommt dieses Reich?
Doch die Frommen der Zeit, die Jesus auf den Prüfstand stellen, werden auch die andere Seite der Allmacht Gottes kennen. Die Endzeitbilder voller Rache und Vergeltung für das, was dem Gottes Volk angetan wurde. Die Gedemütigten erfahren Gerechtigkeit, die Unterdrückten Befreiung. Es ist die Vision, dass Gott seine Weltordnung wieder herstellt, dass sein Recht und seine Gerechtigkeit herrschen und er die Spreu vom Weizen trennt und deutlich zwischen Gut und Böse unterscheidet.
Wann – endlich – kommt dieses Reich Gottes? Das ist der Ruf derer, die am Ende ihrer Kräfte sind. Das ist auch der Ruf derer, die Hadern mit der Liebe Gottes, seinem Segen. Der Gott, der die Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse? Wann ist es damit endlich vorbei?
Jesus beteiligt sich nicht an den Spekulationen. Er reiht sich nicht ein in die Gruppe der großen Seher und Visionäre, die ein Schreckensszenario á la Aleppo oder Kundus beschreiben, um auf das Kommende zu vertrösten. Er nennt kein Datum. Und doch nennt er die Zeit. Er beschreibt nicht den Ort, aber sagt doch, wo dieses Reich ist: Es ist mitten unter euch!
Ob diejenigen, die ihn gefragt haben, damit zufrieden waren? Ob sie das gesehen haben, was die Visionäre ihnen vor Augen geführt haben – den Frieden zwischen Wolf und Lamm. Die Gerechtigkeit für die, die immer im Schatten des Lebens stehen? Oder gibt Jesus mehr Rätsel auf, als dass er Antworten gibt? Deutlich ist, dass sich an ihm die Geister scheiden. Enttäuschung bei den einen, ein neues Lebens bei den anderen. Das „Kreuziget ihn“ bei der Masse, das „Herr, sprich nur ein Wort so wird meine Seele gesund!“ bei den Geplagten. Enttäuschung und Hoffnung – so nah bei einander.
Denn Jesus löst die Frage, die ihm gestellt wird, nicht in einfachen Antworten auf. Er hat kein Interesse am Spekulieren und Vertrösten, sondern holt die Zukunft in die Gegenwart. Den Himmel auf die Erde. Und er selbst ist sozusagen Gottes deutlichstes Zeichen dafür, dass das Reich Gottes begonnen hat. Hier und heute, mitten unter uns. Denn es zeigt sich jetzt, es geschieht hier.
Und man muss keine theologischen Höhenflüge anstellen, keine visionären Spekulationen vertrauen, um dieses Reich zu entdecken. Es reicht schon, das Vertrauen eines Kindes. Kinder leben unbeschwert, sie fragen nicht nach dem, was kommen wird. Kinder sind ganz bei sich und bei dem, was sie gerade beschäftigt – ein Spielzeug, eine Blume, ein Tier. Sie leben in der Geborgenheit und Fürsorge. Sie wissen, dass sie geliebt, geachtet, geschätzt werden. Deshalb: Nehmt das Reich Gottes an wie ein Kind – hier und jetzt, es ist längst da. Schaut nicht in die Ferne. Lasst euch nicht vertrösten, sondern lasst euch anstecken von diesem ganz alltäglichen Wunder der Nähe Gottes
„Mit dem Reich Gottes ist es wie …“ sagt Jesus, und wenn er dieses Reich beschreibt, dann sind es Gleichnisse aus dem alltäglichen Leben, Erfahrungen, die jeder macht: Der Blick auf ein Feld und die aufkeimende Saat. Ein kleines Korn, ein Senfkorn, aus dem eine riesige Staude entsteht. Ein Sauerteig, der wächst und der der Grundstock für ein köstliches Brot ist. Brot zum Leben. Denn immer, wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, dann spricht er vom Leben, das nicht irgendwann kommt oder irgendwann anfängt, sondern das bereits da ist – dort, wo im Vertrauen auf Gottes Liebe und seine Nähe das Leben gefüllt und gestaltet wird.
Jesus hat dieses Leben Menschen geschenkt und sie damit in sein Reich geholt. Menschen, die am Rande der Gesellschaft standen und die von ihm hörten: „Fürchte dich nicht!“. Menschen, die schuldig geworden waren und die erleben durften: „Dein Leben ist Gott nicht egal – Dir sind Deine Sünden vergeben“. Und sie spürten, wie das Reich Gottes bei ihnen begann. Menschen, die enttäuscht waren, ohne Hoffnung, die das Reich Gottes zerfallen sahen, weil er, ihr Messias gekreuzigt wurde. Und dann sagte er, der vom Tod zum Leben zurückkehrte, er, der das Leben will und das Leben schenkt: „Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende!“
Mit ihm hat Gott deutliche Zeichen seines Reiches mitten unter uns gesetzt. Mitten unter uns und mit uns soll das Reich Gottes wachsen – wie die aufgehende Saat, wie ein kleines Samenkorn, das Blüten und Wachstum schenkt.
Auch Almira aus Aleppo in Syrien soll davon etwas spüren. Vielleicht muss sie mit vielen Enttäuschungen leben. Vielleicht hat sie noch viele Hoffnungen. Vor allem die Hoffnung auf Frieden für ihr Heimatland, für die Menschen, die dort geblieben sind, aber auch für sich selbst, weil sie zurück will, das Land wieder neu aufbauen, aus den Ruinen wieder Häuser bauen, in dem Schutt Gärten entstehen lassen, damit Menschen dort wieder in Frieden leben können. Das ist ihre Hoffnung.
Und sie spürt, dass ihre Hoffnung einen Grund hat, sie erlebt, dass es kleine Zeichen und Geesten eines Neuanfangs gibt. Auf dem Münchner Bahnhof die Schilder mit den Worten „Refugees welcome“. Im Notaufnahmelager eine Frau, die ihr nicht nur eine warme Suppe reichte, sondern sich auch einen Moment zu ihr setzte, den Arm auf die Schulter gelegt. Sie haben kein Wort gesagt, hätten sich auch nicht verstanden, Almira aus Aleppo und die Frau aus dem kleinen niedersächsischen Ort, wo nun eine Turnhalle zu einem Schlafsaal für hunderte Menschen wurde. Sie wollte einfach helfen. Und sie hat es getan. Vielleicht mehr als sie es ahnte – mit der warmen Suppe und dem Mantel aus der Kleiderkammer. Sie hat ganz andere Wärme geschenkt. Sie hat Mut gemacht, zum Leben – auch in der Fremde. Und sie hat Hoffnung gemacht, dass der Frieden doch eine Chance hat.
Da blitzte es auf, das Reich Gottes. Für einen Moment, ganz oft in diesen Zeiten. Mitten unter uns. Hier und Jetzt. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.