Und Lukas hat doch Recht!
Liebe Gemeinde am Heiligenabend,
„und es begab sich zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging“. Mit diesen Worten beginnt eine Geschichte, die uns immer wieder in Ihren Bann zieht. Und ich bin freudig darüber erstaunt, was diese Worte an Sehnsucht in uns auslösen. Mit diesen Worten ist etwas verbunden, was zutiefst in uns verankert ist und uns anrührt. Und die Weihnachtsgeschichte muss eben so lauten und klingen, wie wir das gewohnt sind.
Das erinnert mich daran, wie ich meinen Kindern gute Nachtgeschichten erzählt habe. Sie legten größten Wert darauf, dass diese Geschichten immer gleich erzählt wurden. Die Worte waren bekannt und vertraut und eben deshalb nicht veränderbar.
„und es begab sich zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging“. Und wieder sind wir mitten drin in dieser zauberhaften Geschichte, die doch so viel von uns selbst erzählt und unseren Sehnsüchten. Aber genau das müssen wir jeweils wieder neu entdecken. Wo das fehlt und offen bleibt, da könnte die Geschichte auch beginnen mit den Worten: „es war einmal“. Aber Lukas erzählt kein Märchen, sondern er erzählt die Geschichte des Jesus von Nazareth, in dem auf wundersame Weise Gott selbst zu entdecken ist. Nur kann man eben das nicht mit Händen greifen, sondern nur mit den Augen des Glaubens schauen. Wir können es hören, aber verstehen es nicht automatisch als unsere Geschichte, als Anrede an mich.
Von der eigentlichen Geburt Jesu, die Lukas einleitend in die Geschichte des römischen Weltreiches einbindet und erdet, erfahren wir erstaunlich wenig. Was will man auch sagen zu dem, was man nicht erklären kann; höchstens beschreiben oder umschreiben. Die Ansage dieser sonderbaren Geburt beziehungsweise dieses sonderbaren Kindes liegt vor unserem Predigttext. Maria wird angekündigt, dass sie in einem Schöpfungsakt Gottes ein Kind empfangen wird. Aber weder die Empfängnis noch die Geburt sind das Wesentliche, sondern sie sind nur Begleitumstände dessen, dass Gottes Sohn zur Welt kommt. Von ihm heißt es in der Verkündigung des Engels: „Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben“.
Und eben damit sind wir mitten in der Widersprüchlichkeit der Weihnachtsgeschichte, denn die Fäden der Weltgeschichte werden doch ganz woanders gesponnen und gezogen; doch nicht in einem Provinznest irgendwo in Israel. Hier bringt eine junge Frau ein Kind zur Welt, wickelt es wie jedes andere Kind in Windeln und legt in ein provisorisches Kinderbettchen; eine Futterkrippe muss dafür herhalten. Aber all das ist doch nichts Besonderes und auch nicht Gegenstand eines Sozial- und Flüchtlingsdrama von vor 2000 Jahren.
Wenn es nicht zu derb wäre, dann könnte Lukas auch sagen: Gott kommt zur Welt; basta! Aber wäre das eine angemessene Sprachform, um in die Welt hineinzusprechen, was sich ansonsten doch von der Welt angeblich eher fernhält? Mit dem Gedanken, dass irgendein Gott irgendwo in irgendeinem Himmel sein Dasein fristet, können wir gut umgehen. Aber ein Gott, der sich mitten in der Zeit und auf Erden festmacht, das scheint uns suspekt. Und vor allem, wenn das schon so ist, dann erwarten wir Pomp und Gloria und einen richtig fetten Auftritt.
Wie nüchtern schildert Lukas dagegen das Ganze: „Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.12 Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: 14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“.
Vor den Augen der Hirten geschieht ein Ereignis kosmischen Ausmaßes. Aber genau schnell, wie es gekommen ist, ist es auch wieder verborgen. Und schon ist die Nacht wieder so dunkel wie alle anderen Nächte. Aber hat sich damit die Geschichte denn auch schon erledigt oder wird sie sich noch erfüllen? Und vor allem, was wird das für die Hirten bedeuten und welchen Konsequenzen wird das haben? Wird sich denn die Welt grundlegend ändern? Wird alles neu, anders, gerechter werden? Die Sehnsucht danach ist geweckt. Die Menschlichen Augen suchen den Herrn der Welt, den Erfüller göttlicher Verheißung. Und dann schreibt Lukas ganz lapidar: Und nach 8 Tagen bringen sie das Kind zur Beschneidung und nennen ihn Jesus. War es das etwa schon? => EG 37,1+2
II.) Nein, die Geschichte geht weiter; nur nicht ganz so spektakulär wie sie begonnen hat. Von dem Kind und jugendlichen Jesus erfahren wir nicht viel in der Bibel. Sie berichtet maßgeblich von der Zeit, in der Jesus als Wanderprediger durchs Land zog und davon predigte, dass das Gottes Reich nahe herbei gekommen ist. In seiner Gegenwart erfahren Menschen Heilung, Liebe und Annahme Gottes; exemplarisch erfahren sie das Reich Gottes hier auf Erden. Jesus wirkt etwa drei Jahre bis er in Jerusalem gefangengenommen, verurteilt und hingerichtet wird. Danach wird die Gruppe seiner Jünger zerschlagen und ihnen bleibt nichts als sich wieder auf den Weg zurück nach Hause, in ihren Alltag zu machen. War es das, mit dem Reich Gottes? War es das mit der Sehnsucht nach Freiheit, Heilung, Frieden und Gerechtigkeit. Sollte das, was unter anderem mit dem Lobgesang der Engel begonnen hatte, so schmählich am Kreuz enden?
Was bleibt, wenn nichts mehr bleibt; oder alles so bleibt, wie es schon immer war? Zwei Jünger sind unterwegs zurück zu ihren Familien. Gedämpft die Stimmung; Niedergeschlagenheit, Frust und Enttäuschung machen sich breit. Was hatten sie sich für Vorstellungen gemacht von der Herrschaft des Messias auf dieser Erde? Vom Friedensreich und welche Rolle sie dabei spielen würden. Und jetzt? Jetzt ist alles plötzlich ganz anders und sie sind sichtlich enttäuscht und wissen die Situation nicht einzuordnen. Sie unterhalten sich über all das, was in den vergangenen Tagen so geschehen ist. Lassen es noch einmal Revue passieren und fragen immer und immer wieder nach dem – Wozu? Sollten sie in ihrer Sehnsucht tatsächlich einem Trugbild nachgelaufen sein, wie der Verdurstende einer Fata Morgana? Zwar haben zwei Frauen berichtet, dass er von den Toten auferstanden sein soll, aber wer soll das bitteschön glauben? Alle Sehnsüchte auf eine gerechtere Welt, auf ein ewiges Friedensreich sind doch mit dem Tod ein für alle Mal ausgelöscht. Das mit dem Retter der Welt, mit dem Messias, das sollte doch ganz anders sein. Der Menschensohn war doch gekommen, um all die Verheißungen des Alten Testaments zu erfüllen; und jetzt dieses Desaster.
Sie treffen auf einen Mann und der wird für sie zum Begleiter auf der Wegstrecke von Jerusalem zurück nach Hause, in das Gewohnte, zurück nach Emmaus. „Worüber redet ihr denn miteinander auf eurem Weg?“ fragt er. Ja sollte dieser Fremde denn der Einzige sein, der in Jerusalem nicht mitbekommen hat, was da passiert ist? Sie beginnen zu erzählen von Jesus. Davon, dass mit ihm etwas Neues anzubrechen schien. Sie erzählen von der Ansage des Reiches Gottes und davon, wie sie erste Zeichen und kleine Pflänzchen dieses ungeheuren Umbruchs und Aufbruchs selbst miterleben durften. Sie erzählen von ihrer Hoffnung und davon, dass sie wohl doch weiter warten müssen.
Da sagt der Fremde zu Ihnen: »Ihr unverständigen Leute! Wie schwer fällt es euch, all das zu glauben, was die Propheten gesagt haben! 26 Musste denn der Messias nicht das alles erleiden, um zu seiner Herrlichkeit zu gelangen?« 27 Dann ging er mit ihnen die ganze Schrift durch und erklärte ihnen alles, was sich auf ihn bezog – zuerst bei Mose und dann bei sämtlichen Propheten.
Sie begreifen das Wunder nicht, das vor Ihren Augen geschieht. Auch jetzt, etwa 30 Jahre später geht es ihnen ähnlich wie den Hirten auf dem Feld. Sie sehen und verstehen nicht. Sie hören und begreifen nicht. Sie bleiben gefangen in ihrer Vorstellung von dem, wie der Messias zu handeln und sein hat, Sie haben ein gänzlich anders Bild von dem, wie sich die Verheißungen erfüllen sollten. Dann legt ihnen der Mitreisende den Bezug der jüngsten Ereignisse zu den Prophezeiungen des Alten Testamentes dar und stellt einen Rückbezug her. Musste das denn nicht genauso passieren?
Und erst jetzt, am Abend dieser langen Tagesreise, gibt Jesus ihnen auch noch die Bestätigung für seine Auferstehung, indem er sich den Reisenden zu erkennen gibt. Wie Schuppen fällt es von Ihren Augen und in dem Moment ist Jesus auch schon wieder verborgen. Das, was ihnen nun bleibt, sind nicht die Antworten auf alle ihre Fragen. Was ihnen bleibt, ist die Frage: „War uns nicht zumute, als würde ein Feuer in unseren Herzen brennen als er mit uns redete?“
Viele Fragen und Zweifel bleiben. Vieles bleibt einfach unbeantwortet. Sehnsüchte werden nicht eins zu eins erfüllt. Ist das nicht genau auch unsere Situation, wenn wir unterm Weihnachtsbaum sitzen und danach fragen, was sich denn seit dem Lobgesang der Engel und den vollmundigen Ansagen geändert hat. Sind wir nicht suchend nach dem, was bleibt, wenn die Weihnachtszeit vorbei ist? Unsere Sehnsüchte und Hoffnungen werden abgeschmückt; gemeinsam mit den Kugeln am Christbaum. Und dann warten wir wieder. Warten in unseren Erwartungen der nächsten Weihnacht entgegen. Warten und hoffen. => EG 37,3+4
III.) Für den Evangelisten Lukas gehört eben dies Warten, Suchen und Fragen zum christlichen Glauben dazu, wie die Kugeln oder das Lametta zum Weihnachtsbaum. Solange wir auf dieser Welt leben, wird sich der Glaube wohl nie darüber erheben können. Damals wie auch heute noch gilt: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.12 Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Mehr gibt es nicht. Und zugleich ist damit schon alles da. Bloß: erkenne ich das? Reicht mir das?
Der Evangelist Lukas erzählt davon, dass Johannes der Täufer Jesus einmal fragen lässt, ob er der sei, der kommen soll; oder ob man auf einen anderen warten solle? Jesus weist ihn dann hin auf die gegenwärtigen Zeichen des Reiches Gottes. Und zugleich weiß er doch, dass es immer nur gebrochene Zeichen sind; mehrdeutig und vielschichtig. Und eben deshalb sagt er: „selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“. Um dieses Ärgernis des Glaubens kommen wir nicht herum und das können wir auch nicht umschiffen.
Als Lukas sein Evangelium schreibt, da ist der Tempel in Jerusalem zerstört. In manchen Provinzen werden die Christen wegen ihres Glaubens verfolgt, weil sie dem Kaiser den Eid verweigern. Im römischen Reich hatte man unter Augustus das Goldene Zeitalter ausrufen lassen, dass mit Augustus als Heilsgestalt verbunden war: Von ihm hieß es: „Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heil der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, indem sie ihn uns in den kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt hat. Allem Krieg wird er ein Ende setzen und alles herrlich ausgestalten … der Geburtstag des Gottes war für die Welt der Anfang der guten Nachrichten (Evangelien), die seinetwegen ergangen sind.“ (Inschrift aus Priene; 9 v.Chr.) Dem gegenüber schreibt Lukas ein ganz anderes Evangelium. Im Schatten dieses Glanzes des in Rom proklamierten Goldenen Zeitalters wächst unbemerkt ein anderer, in Israel lang ersehnter Friedensfürst heran, dessen Anspruch es ebenfalls ist, über die ganze οἰκουμένη, den ganzen Erdkreis zu herrschen: der neugeborene jüdische Junge Jesus! Nicht der Kaiser in Rom ist der Heilsbringer, sondern Jesus!
Die damals verfolgte Gemeinde, fernab von aller weihnachtlichen Romantik, stellt die gleiche Frage wie wir heute: Bist du wirklich der, der kommen soll? Und alle Antworten, die sie bekommen, ermangeln jeglicher äußeren Beweiskraft: „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Und den Jüngern von Emmaus bleibt nur die Art und Weise wie er das Brot mit ihnen bricht als Zeichen seiner Auferstehung. Und eben deshalb bleibt es bei der Aussage Jesu: „selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!“
Dass er auf den Messias gewartet hat, und ihn in Jesus gefunden hat, hat Johannes nicht vor seiner Hinrichtung bewahrt. Viele Gebete werden gesprochen, Tränenströme voll Hoffnung werden geweint. In Sehnsucht nach Erlösung wird manche Nacht durchwacht. Und dennoch siegt scheinbar die Krebserkrankung über das Leben der geliebten Frau. Wird die zerstörte Beziehung nicht heil. Die zerrissene Familie nicht eins. Die Arbeits- und damit gefühlte Sinnlosigkeit bleibt und der ersehnte Weltfriede stellt sich nicht ein. Und dennoch gilt als Ansage des Neuen: „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Und es bleibt dabei: „selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“.
Es braucht den Glauben, der in dem Kind den Heiland der Welt entdeckt. Es braucht Gottes Heiligen Geist, der auch uns heute und hier die Ohren für den Lobgesang der Engel öffnet, damit wir diese Botschaft auch wirklich hören und uns gesagt sein lassen: dir ist der Heiland geboren. Gottes Geist kann uns dazu befähig, dass wir als christliche Gemeinde uns gegenseitig zum Verkündigungsengel der Weihnachtsbotschaft werden. Und wo das geschieht, da wird uns der Heiland geboren: mitten hinein in unsere zerrissene und sehnsüchtig hoffende Welt.
Und da soll doch mal einer sagen, Lukas habe nicht Recht. Vom Goldenen Zeitalter des Römischen Reiches redet heute niemand mehr. Aber die Weihnachtsbotschaft von Jesus ist noch heute das wirkliche Evangelium, die wirkliche gute Nachricht: „Euch ist heute der Heiland geboren…Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Selig ist, wer das im Glauben annimmt!
Euch allen gesegnete Weihnachten! Amen
(Dialogpredigt in der Johanneskirche Oberfischbach von Pfarrer Martin Braukmann (I. u. III.) und Prädikant Karsten Schreiber (II.) in der Christvesper 2014. Im Hintergrund steht eine Exegese zur Textstelle von Prof. Dr. Johannes Woyke auf der Pfarrkonferenz Siegen 10.12.2014)