Predigt zu Lukas 7, 11-16 von Luise Stribrny de Estrada
7,11
„Christen sind Protestleute gegen den Tod“ (Christoph Blumhardt)
  
  Liebe Schwestern und liebe Brüder!
  
  Findet euch nicht ab mit dem Tod! Das sagen uns die Texte der Bibel, die wir heute schon gehört haben (Epistel –und Evangelium). „Findet euch mit dem Tod nicht ab!“ Das ruft uns auch die Geschichte zu, die im Zentrum der Predigt steht. Wir finden sie beim Evangelisten Lukas im siebten Kapitel:
  
  Jesus ging in eine Stadt mit Namen Nain; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge. Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr. Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht! Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf! Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter.
  Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht. (Lukas 7,11-16)
  
  Jesus begegnet einer Frau, die ihren einzigen Sohn beerdigen muss. Auch der Mann ist ihr gestorben, sie ist jetzt ganz allein. Ihr fehlt jemand, der mit ihr das Haus und das tägliche Leben teilt, jemand, mit dem sie sprechen kann, dem sie etwas Gutes tun kann. Ihr fehlt jemand, der für sie da ist. Sie ist einsam – trotz der Menschenmenge, die sie zur Beerdigung begleitet. Dazu kommt, dass sie ohne männlichen Schutz ist. In der von Männern dominierten Welt, in der sie lebt, ist das fatal, denn sie hat keinen, der sie verteidigt. Andere können ihre Rechte mit Füßen treten, ohne dass sie sich wirkungsvoll zur Wehr setzen kann. Sie ist ohnmächtig. Wovon sie leben wird, ist fraglich, ob sie genug zu essen haben wird, weiß man nicht. Was wird jetzt aus der Frau?
  
  Als Jesus sie sieht, jammert sie ihn. Er lässt sich anrühren von dem, was ihr geschehen ist. Der Tod ihres Sohnes trifft ihn selbst ins Herz, und er hat Mitleid mit ihr. „Weine nicht“, sagt er zu der Frau. Er will etwas tun, damit sie nicht mehr traurig zu sein braucht. Jesus greift ein, weil er sich mit diesem Tod nicht abfinden kann. Er ist zu schwer für diese Frau.
  
  Jesus protestiert gegen diesen Tod. Er rebelliert. Dieser Tod kann nicht Gottes Wille sein!
  
  Jesus geht nahe an den Sarg heran, berührt den Sarg und spricht zu dem Toten: „Jüngling, ich sage dir, steh auf!“ Auf dieses Wort hin richtet sich der Verstorbene tatsächlich auf, als hätte er nur geschlafen und darauf gewartet, dass jemand ihn weckt. Jesu Stimme hat ihn erreicht und ist durch gedrungen bis ins Totenreich. Der junge Mann wacht auf und fängt an zu reden, und Jesus bringt ihn zu seiner Mutter. Ihre Freude können wir uns ausmalen, ihren Jubel, als sie ihren Sohn lebendig in die Arme schließt.
  
  Der Evangelist berichtet nicht über das Glück der Mutter, sondern richtet das Augenmerk auf die Reaktion der anderen, die das Wunder miterlebt haben: Sie erfassen, dass Jesus jemand besonderes ist, ein Prophet und jemand, durch den Gott sein Volk besucht. Dieser Wunderheiler ist ein Bote Gottes.
  
  Für mich passiert das entscheidende in der Begegnung Jesu mit der Mutter, die um ihren Sohn trauert. Jesus lässt sich von ihrem Leid erschüttern und findet sich mit dem Tod nicht ab. Gott kann diesen Tod nicht gewollt haben! In Gottes Namen holt er den Toten zurück ins Leben – und das Wunder geschieht, er steht auf.
  
  Wir sind nicht Jesus Christus. Aber auch wir Christinnen und Christen sind Protestleute gegen den Tod. Es gibt Tode, die ich nicht akzeptieren kann: Wenn ein kleiner Junge durch einen Unfall stirbt oder eine junge Frau, die ihre Familie zurücklässt. Warum sind sie gestorben, frage ich mich, und so fragen fast alle von uns in einer solchen Situation. Kann das Gottes Wille sein? Was hat er sich dabei gedacht? - Ich bin froh, dass Jesus sich damit auch nicht abfindet. In der anderen Auferweckungs-Geschichte von Lazarus und seinen Schwestern heißt es: „Als Jesus sah, wie Maria (über den Tod ihres Bruders) weinte, ergrimmte er und wurde sehr betrübt.“ (Joh. 11,33) So stelle ich mir Jesus auch in Nain vor, als er dem Beerdigungszug mit der trauernden Mutter begegnet: Zornig und entschieden, diesen Tod nicht hinzunehmen.
  
  Und Gott macht mit. Er lässt Jesus nicht im Stich, sondern gibt ihm die Kraft, den Toten wieder lebendig zu machen. – Wir allerdings haben diese Kraft nicht, wir können keinen Toten ins Leben zurückrufen. Aber wir können uns so wie Jesus anrühren lassen, wenn wir mit Menschen zusammenkommen, die um einen Menschen trauern. Wir können uns erschüttern lassen und die Trauernden begleiten in ihrem Schmerz. Das hilft. Dieses Mitgehen und Aushalten ist ein Protest gegen die Endgültigkeit des Todes. Ebenso wenn wir uns an die Verstorbenen erinnern, dann ist das ein Wachhalten der Erinnerung. Wir setzen unser Gedächtnis gegen die Macht des Todes, die alles auslöschen will.
  
  Das können wir auch in einem größeren Kontext tun. In mir steigt das Bild einer langen, hohen Wand auf, auf die viele, viele Namen  geschrieben sind. Ich habe sie in einer alten Synagoge gesehen: Es sind die Namen von Menschen, die im Holocaust umgebracht worden sind. Hinter jedem Namen steckt ein Schicksal, hinter jedem Namen steht eine Geschichte. Alle diese Menschen haben gelebt, geliebt und gelitten. Immer wieder kommen Angehörige, die einen besonderen Namen suchen. Die Wand mit den Namen ist ein Protest gegen die Mörder. Es ist ihnen nicht gelungen, diese Menschen auszulöschen. Die Erinnerung an sie ist lebendig.
  
  Als Christen setzen wir uns ein gegen Tod und gegen Krieg. Oft ist es richtig, das öffentlich zu tun und dafür auch auf die Straße zu gehen. Wir fragen uns in diesen Tagen und Wochen. Wie geht es weiter in Syrien? Wie lange wird Assad noch sein eigenes Volk bekämpfen? Werden die Amerikaner das Land bombardieren? Und wer in der Region wird dann in den Krieg eintreten oder mit hineingezogen? Es ist schwer einzuschätzen, welches Handeln sinnvoll ist. Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein, halten wir als Christen und als Kirche fest. Was dem Frieden dient und was wir dazu beitragen können, lasst uns als Christen suchen.
  
  Zum Ende der Predigt kehre ich noch einmal zurück nach Nain, wo Jesus gegen den Tod des jungen Mannes rebelliert und ihn ins Leben zurückholt. Wie unser Protest gegen diesen und so viele andere Tode in Worte gefasst werden kann, soll hörbar werden in einem Gedicht von Kurt Marti, das ich etwas verändert habe:
  
  dem herrn unserem gott
  hat es ganz und gar nicht gefallen
  dass aaron aus nain
  durch einen Unfall starb
  
  erstens war er zu jung
  zweitens seiner mutter ein guter sohn
  drittens den freunden ein guter freund
  viertens erfüllt von vielen ideen
  
  was soll jetzt ohne ihn werden?
  was ist seine mutter ohne ihn?
  wer ersetzt einen freund?
  wer hat die neuen ideen?
  
  dem herrn unserem gott
  hat es ganz und gar nicht gefallen
  dass einige von euch dachten es habe ihm solches gefallen
  
  im namen dessen der tote erweckt
  im namen des toten der auferstand:
  wir protestieren gegen den tod von aaron aus nain.[1]
  
  Amen.

  
  
    [1]Entnommen aus: Kurt Marti, zart und genau, Berlin 1985, darin: Leichenreden S. 219, dem herrn unserem gott
       
Perikope
15.09.2013
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