Predigt zu Lukas 7, 11-17 von Reinhold Mokrosch
7,11

Predigt zu Lukas 7, 11-17 von Reinhold Mokrosch

Trost bei Verlust des eigenen Kindes?
Liebe Gemeinde!
Es gibt keinen Trost, wenn das eigene Kind gestorben ist.  Etwas Furchtbareres als den Tod des eigenen Kindes miterleben zu müssen, gibt es nicht.
Wahrscheinlich stimmen Sie alle in diese Überzeugung ein. Vielleicht haben wir solche Erfahrungen schon gemacht: Die Eltern (oder nur ein Elternteil) schleppen sich  hinter dem Sarg (oder der Urne) ihres Kindes hinterher, benommen, von Tränen verzehrt und verzerrt; sie möchten lieber stürzen als stehen, lieber schreien als schweigen; dann kommen am Grab  ernst gemeinte christliche Trostworte über unsere Auferstehung und Christi Sieg über den Tod; und dann folgen liebevolle Trostversuche der Trauergäste beim Hände ergreifen und zärtlicher Umarmung. Alle leiden wirklich und tief mit und versuchen ernsthaften Trost zu spenden. Aber die Trauer ist und bleibt größer als jeder Trost.
Vielleicht, liebe Gottesdienstbesucher, haben einige von uns solche Erfahrung indirekt oder gar direkt am eigenen Leib gemacht: Wir erleben wirklich tiefen und ernsthaften Trost, wahrscheinlich sogar und besonders von Kindern, und die Liebe der anderen erreicht auch unser Herz. Aber unser Leid nimmt nicht ab. Manchmal wird es durch Trostworte noch größer.
Der Bibeltext für unsere Predigt heute handelt genau von solcher Erfahrung, die allerdings noch furchtbarer ist als diejenige vom Verlust des eigenen Kindes, nämlich auch noch zusätzlich diejenige vom Verlust des Ehemanns. Diese Erfahrung  endet allerdings gänzlich und total anders als das, was wir erleben. Ich erzähle diese unglaubliche und aufregende Geschichte. Sie steht in
Lk 7, 11-17:
Jesus kam in die Stadt Nain. Seine Jünger und eine große Menge begleiteten ihn. Als er zum Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war; sie war eine Witwe. Eine große Menge aus der Stadt begleitete sie. Als der Herr sie sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht! Und er trat hinzu und berührte den Sarg. Die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage Dir: Stehe auf! Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden; und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück. – Da ergriff alle eine große Furcht; und sie priesen Gott und sprachen: Unter uns ist ein großer Prophet aufgetreten; und: Gott hat sein Volk besucht.
Was für ein Trost! Was für eine Wende! Jesus gibt der Frau, die eine Witwe ist,  ihren Sohn, wieder zurück! Sie hat ja nicht nur ihr einziges Kind, ihren Sohn, verloren, sondern sie hatte schon vorher ihren Mann verloren. Sie steht völlig allein und völlig schutzlos in der damaligen jüdischen Gesellschaft da. Und nun während der Trauerfeier diese plötzliche Wende!
Lassen Sie uns, liebe Mit-Christen, bitte nicht darüber spekulieren, ob das, was hier so ergreifend erzählt wird, auch wirklich geschehen ist. Wir wissen es nicht! Einige von uns sind überzeugt: Das ist geschehen. Jesus Christus hat Tote auferweckt. Andere teilen diese Überzeugung nicht. Aber einig sind wir uns alle, dass Jesu Lebenskraft in seiner Gemeinschaft mit Gott stärker gewesen ist und noch heute stärker ist als die Kraft des Todes. Deshalb lasst uns bitte nicht über das Geschehene oder Nicht-Geschehene spekulieren!
Ich möchte mit Ihnen über die m.E. entscheidende Frage nachdenken: Kann diese Erzählung für uns ein Trost sein, wenn wir vom Tod eines eigenen Kindes hören oder so etwas selbst erleben?   -   Dazu möchte ich Sie bitten, mit mir vier ähnliche bzw. gleiche Szenen nachzuerleben.
Die 1. Szene führt uns in das Jahr 30 n. Chr. Sie ereignete sich fast zur gleichen Zeit wie das Ereignis unseres Textes mit Jesus Christus. Der römische Dichter Seneca hatte gehört, dass Marcia, die Tochter seines Freundes, ihren Mann und nun auch ihren Sohn, der ihr einziges Kind gewesen ist, durch plötzlichen Tod verloren hatte. Er war erschüttert und schrieb ihr einen „Trostbrief“, der uns erhalten ist (Lucius Annaeus Seneca:Trostbrief an Marcia, Ad Marceam de consolatione, in: Wolfgang Schumacher, Stuttgarter Hausbücherei, 1936, S. 184-193). Ich zitiere sinngemäß:
Liebe Marcia! Du als Frau hast die gleichen Kräfte wie ein Mann. Es ist unsinnig, wenn manche das Gegenteil behaupten. Deshalb kannst Du Verlust und Trauer mit großer Kraft durchleiden, auch wenn es nicht zu ertragen ist. Dein Mann ist Dir entrissen und nun auch Dein Sohn. Ich bitte Dich: Trage beide in Deinem Herzen! Lebe weiterhin mit ihnen zusammen. Beide sind bei Dir! Es ist nicht wichtig, wie lange, sondern wie innig Du mit ihnen gelebt hast. Ich war mit beiden eng verbunden. Ich möchte sie Dir in Dein Herz zurückgeben. Beide sind bei Dir lebendig.
Ist das ein Trost gewesen? Ich möchte Ihnen das Urteil überlassen!
Die 2. Szene betrifft unsere bei Lukas aufgezeichnete Begegnung mit Jesus Christus, wahrscheinlich im gleichen Jahr 30 n.Chr. : Eine Frau hat ihren Mann verloren. Sie ist Witwe. Ihr Sohn nimmt sie in seine Obhut. Ohne ihn wäre sie rechtlos, wie Freiwild. Und nun stirbt auch ihr Sohn.  Die jüdische Beerdigungsfeier mit vielen Trauergästen verläuft eindrucksvoll. Aber ihr Leid ist grauenhaft. Kurz vor der Grablegung begegnet der Trauerzug Jesus Christus. Er hat tiefes Mitleid mit dieser ihm unbekannten Frau. Er rührt den Sarg an. Er ruft den toten an: Steh auf! Dieser richtet sich auf und redet. Und Jesus gibt ihn seiner Mutter zurück. – Deren Reaktion wird nicht beschrieben. Aber die Reaktion der Menge war Erstaunen: Ein großer Prophet ist unter uns! Gott hat sein Volk besucht!
Ist das ein Trost gewesen?  Ich möchte Ihnen das Urteil überlassen!
Die 3. Szene ereignete sich 1915: Der Postbote steht vor der Tür. Er händigte Ehefrau Christa die Nachricht vom Tod ihres Mannes auf dem Schlachtfeld von Verdun aus. Mit tiefem Beileid. Christa schreit und schluchzt vor Ohnmacht. Aber ihr einziger Sohn tröstet sie: „Ich werde Papa rächen. Ich melde mich freiwillig!“ Ihr Nein half nichts. Er zog ins Feld. – Ein Jahr später steht der Postbote wieder vor der Tür. Er händigt Christa die Nachricht vom Tod auch ihres Sohnes aus. Christa zerbricht. – Die Freunde trösten sie: Beide seien den Heldentod gestorben. Und in der Kirche wurde für beide eine Gedenktafel aufgestellt.
Ist das ein Trost gewesen? Ich möchte Ihnen das Urteil überlassen!
Die 4. Szene betrifft eine Frau in unseren Tagen: Sie hat ihren sehr geliebten Mann durch Krebs verloren. Und zwei Jahre später stirbt ihr Sohn, ihr einziges Kind, bei einem Verkehrsunfall. Sie bricht zusammen. Bei der Trauerfeier des Sohnes trägt die Pfarrerin  unsere Erzählung von Jesus Christus und der Witwe in Nain vor. Die Kernaussage ihrer sehr einfühlsamen Predigt lautete: Dein Sohn wird auferstehen. Wir alle werden eines Tages auferstehen. Das ist die Botschaft dieser Tat Jesu, auf die wir uns verlassen können. Und die Pfarrerin fügte hinzu: Christus gibt Dir schon heute Deinen Sohn zurück. Nimm ihn auf. Er lebt in Dir! Bei Dir ist er schon jetzt auferstanden!
Ist das ein Trost gewesen? Wieder möchte ich Ihnen, liebe Predigt-Gemeinde, das Urteil überlassen. Aber ich möchte meine eigene tiefe Überzeugung hinzufügen:  Ja, ich glaube, dass wir nach unserem Tod – ich sage es mit einem Symbol: in Gottes Hand fallen werden. Ich nenne es gerne „Auferstehung“ und neues „Ewiges Leben“. Ich versage mir, auszumalen, wie das aussehen könnte.  Aber ich halte diese Hoffnung für die verzweifelte Frau und für jeden Trauernden für einen möglichen Trost.  -  Und für besonders trostreich halte ich die Vorstellung, dass mein lebendiges erinnerndes Zusammenleben mit dem Verstorbenen schon eine Vorahnung solcher Auferstehung ist.  Ja, ich verstehe diese Erinnerung so, dass mir Gott durch den auferstandenen Christus den geliebten Toten „wieder zurückgibt“, so wie Jesus der Witwe ihren Sohn „zurückgegeben hat“. Ob das auch für die direkt Betroffenen am Grab ein Trost sein kann? Ich bezweifle es. Es ist ein oft langer Weg, bis wir unsere liebende Erinnerung an Gestorbene als „Rückgabe aus Gottes Hand“ verstehen.  
Senecas Trostbrief  hat Marcia sicherlich getröstet. Die Heldengedenktafel mag in der damaligen Zeit Ehefrau Christa auch getröstet haben.  Vielleicht haben auch sie diesen Trost als Tröstung von Gott angenommen. Uns ist das heute, besonders im Fall von Christa, so kaum noch möglich. Aber auch die Rede von unserer „Auferstehung“ ist den meisten Menschen heute fremd. Wir müssen mit ihr vorsichtig, wie mit einem Geheimnis, umgehen. Für uns  aber ist es eine Gewissheit: Unsere Geliebten, die verstorben sind, leben mit uns als „Auferstandene“.
Gottes Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen