Predigt zu Lukas 8,4-8.11-15 von Sven Keppler
8,4-15

I. Ein Muslimbruder wird zum französischen Präsidenten gewählt. Die berühmte Pariser Sorbonne wird von saudischen Geldgebern übernommen und zur islamischen Universität umgebaut. Der Charakter der französischen Gesellschaft wandelt sich in kürzester Zeit: An die Stelle des liberalen Individualismus tritt ein traditionelles Patriarchat. Die Laizität, also die Trennung von Religion und Staat, wird aufgegeben. In kürzester Zeit verschwinden Miniröcke und Boutiquen für körperbetonte Frauenkleidung aus dem Stadtbild.

Liebe Gemeinde, dieses Zukunftsbild des Jahres 2022 entwirft Michel Houellebecq in seinem neuen Roman ‚Unterwerfung‘. Das Buch erschien gleichzeitig mit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift ‚Charlie Hebdo‘. Eines der Opfer war ein enger Freund von Houellebecq. Und so erreicht der Roman enorme Verkaufszahlen. Auch in Deutschland steht er an der Spitze der Bestsellerliste.

Dieses Buch ist jedoch nicht einfach das Werk eines „Islamkritikers“. Houellebecqs erster Roman erschien 1994. Seitdem ist er ein ätzender Analytiker unserer westlichen Kultur. Die Islamisierung West- und Mitteleuropas ist bei ihm nicht das Werk finsterer Terroristen. Sondern sie erscheint ganz einfach als die Folge davon, dass unsere christlich-liberale Kultur innerlich hohl geworden sei.

Individualismus und Liberalität – das sind Schlüsselwörter dieser Kultur. Der unantastbare Wert und die Würde des einzelnen Menschen. Und das Recht jedes Menschen, sich frei zu entfalten. In Houellebecqs Augen sind davon nur frustrierende Trümmer übrig geblieben. Die Freiheit der Märkte und des Konsums. Die Vereinzelung der bindungslosen Menschen. Und eine tabulose Sexualität, die immer mehr zur Ware wird.

Zweimal bemüht sich der Erzähler, wieder mit der christlichen Tradition in Kontakt zu kommen: in einem Kloster und in einer Wallfahrtskirche. Aber diese Versuche scheitern. Er kommt zu dem Schluss, dass das Christentum seine lebendige Kraft ausgehaucht habe. Der Grund dafür sei geradezu eine tödliche Ansteckung. Die Verbindung mit den liberalen Gedanken habe zum Untergang des Christentums geführt.

II. Michel Houellebecq erzählt seine Geschichte ganz lakonisch: unaufgeregt, knapp, schnörkellos. Was eigentlich unerhört wäre, erscheint dadurch fast zwangsläufig. Wie eine ganze Gesellschaft sich widerstandslos von den Freiheitsrechten verabschiedet, die sie in 200 Jahren erkämpft hat: von der Gleichberechtigung der Frau, von der weltanschaulich neutralen Bildung, von der sozialen Fürsorge des Staates.

Liebe Gemeinde, Michel Houellebecq hat ja Recht: Tatsächlich ist heute der christliche Glaube ganz eng verbunden mit der Würdigung des einzelnen Menschen und seiner Freiheit. Ist das eine Fehlentwicklung? Eine Verformung unseres Glaubens? Ein Unfall der Neuzeit? Oder gehört das zum christlichen Glauben wesentlich dazu? Diese Fragen möchte ich an unseren heutigen Predigttext stellen – das berühmte Gleichnis vom Sämann. Ich lese aus dem 8. Kapitel des Lukasevangeliums [Lk 8, 4-8].

Bei seinem Gleichnis hatte Jesus eine ganz bestimmte Pointe im Sinn. Er wollte sagen: Wenn das Reich Gottes auch noch so klein anfängt – am Ende wird es überwältigend groß. Wie im Gleichnis vom Senfkorn: Aus einem winzigen Korn wird ein erstaunlich großer Strauch. So ist es auch bei der Saat: Auch wenn eine Menge daneben geht, gibt es trotzdem eine große Ernte. Weil die Saat auf gutem Boden hundertfach Frucht bringt und den Verlust mehr als ausgleicht.

Als Lukas sein Evangelium schrieb, hatte sich jedoch eine andere Deutung des Gleichnisses durchgesetzt. Weg, Fels, Dornen und gutes Land wurden auf die unterschiedlichen Menschentypen gedeutet. Ich lese wiederum aus dem Evangelium nach Lukas [Lk 8,11-15]

III. Es war eine Erfahrung von Anfang an: Die Samenkörner bringen nicht überall Frucht. Wenn die Saat gleichmäßig verstreut wird, ist das Ergebnis ernüchternd. Auf dem Weg werden die Körner zertreten und weggepickt. Auf dem Felsen reicht es allenfalls für ein kurzes Aufblühen. Und unter den Dornen kann sich nichts entfalten. Nur auf gutem Land bringt die Saat gute Frucht.

Von Anfang an wurde diese Erfahrung auch mit Menschen gemacht. Nicht jeder ist empfänglich für die Botschaft von Jesus. Manche sind verhärtet. Bei anderen löst das Evangelium nur ein Strohfeuer aus. Und bei wieder anderen werden die ersten Ansätze erstickt durch das, was sonst ihr Leben bestimmt.

Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Das ist nicht erst eine Erkenntnis unserer Zeit. Sondern eine Erfahrung von Anfang an. Die Deutung des Gleichnisses erklärt diese Erfahrung mit der Unterschiedlichkeit der Menschen. Ob Gottes Wort fruchtet oder nicht – das hat mit der Verschiedenartigkeit der Menschen zu tun. Ob sie verhärtet sind. Oder leichtfertig. Ob ihr Alltag sie im Griff hat. Oder ob sie sich öffnen können.

Jesus begründet den unterschiedlichen Erfolg nicht mit Gottes Vorsehung. Hätte er das gewollt, dann hätte er das Gleichnis anders erzählt: Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen. Und er fand ein großes Feld. Und er säte hierhin und dorthin. Wohin sein Same fiel, da brachte er große Frucht. Der Rest des Feldes aber blieb brach.

So nicht. Sondern schon zu Beginn des Christentums wurden die Unterschiede der Menschen gesehen. Die Vielfalt der Persönlichkeiten und Charaktere. Und man wusste: Ob ein Mensch zum Glauben kommt, das entscheidet sich ganz individuell. Ganz persönlich. Das ist keine Frage des Kollektivs oder der traditionellen Gemeinschaft. Sondern eine Sache zwischen Gott und dem Einzelnen.

IV. Wenn das Gleichnis auf die verschiedenen Menschentypen gedeutet wird, kommt jedoch eine neue Frage auf: Was wird aus den Menschen, bei denen Gottes Wort nicht fruchtet? Bei Weizenkörnern lässt sich der Verlust ja verschmerzen. Und wenn ein Weg nicht zum blühenden Feld wird, ist das ja sogar ganz in Ordnung: Er soll ja auch ein Weg sein. Da würde es nur stören, wenn auf ihm etwas wüchse.

Wenn das Gleichnis jedoch auf Menschen gemünzt wird, dann lässt sich nicht so locker sagen: Es ist egal, wenn der Glaube bei manchen nicht fruchtet. Es gibt ja noch genügend andere. – Dann drängt sich doch vielmehr die Frage auf: Was wird aus den Menschen, bei denen die Saat nicht aufgeht? Wenn wir Michel Houellebecq glauben, dann werden das immer mehr.

Es passt überhaupt nicht zu Jesus, dass ihm diese Menschen gleichgültig gewesen sein sollten. Denken Sie an das Gleichnis vom verlorenen Schaf: Jesus geht jedem Einzelnen nach. Dem Zöllner. Der Ehebrecherin. Dem ausgegrenzten Kranken. Niemand soll verloren gehen!

Aber wie soll das gehen bei den Menschen, die wie ein Weg sind? Wie ein Fels? Wie ein von Dornen überwucherter Boden? Müssen sie doch alle zum Acker werden? Alle gleich?

Ich glaube, dass Gott mit jedem Menschen etwas ganz Eigenes vor hat. Denken Sie daran, was Paulus zu den unterschiedlichen Gaben schreibt: Viele verschiedene Glieder bilden einen Leib. Gerade in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt werden die Menschen gewürdigt. Gerade darin gehören sie zur bunten Gemeinschaft des Christentums.

Im Gleichnis gesprochen: Vielleicht werden die Wegtypen ja gerade nicht als Acker gebraucht. Sondern sie sind wertvoll, damit die Ernte zur Scheune gelangen kann. Und von dort zur Mühle und zum Bäcker. Vielleicht werden die Felstypen gebraucht, damit aus ihnen Bausteine werden. Für Scheunen, Mühlen und Backstuben. Und die unter den Dornen: Vielleicht wären sie ja gutes Ackerland. Aber sie müssen erst befreit werden von den belastenden Wucherungen ihres Lebens.

V. Liebe Gemeinde, die Auseinandersetzung mit dem Gleichnis hat zu drei Einsichten geführt.

Erstens: In unserem Glauben wird der Einzelne gewürdigt in seiner Unverwechselbarkeit und seiner Freiheit! Das ist nicht erst ein neuzeitlicher Gedanke. Er ist tief im Christentum verwurzelt. Anders können wir den Glauben nicht haben als individuell und vielgestaltig. Und es gibt keinen Glauben ohne die Freiheit, sich gegen ihn zu entscheiden.

Zweitens: Trotz aller Freiheit will Gott, dass kein Mensch verloren geht! Der Weg der Vielfalt ist nicht ungefährlich. Welche Fehlentwicklungen dabei möglich sind, das führt Houellebecq unerbittlich vor Augen. Aber einfacher ist der Glaube nicht zu haben. Vertrauen wir trotzdem und gerade deshalb auf Gottes Fürsorglichkeit!

Und drittens: Es gibt keinen Grund zur Verzagtheit! Wo Houellebecq resigniert. Wo er provokativ beschreibt, wie sich eine ausgelaugte westliche Kultur dem Islam unterwirft. Wo vielleicht auch wir zu resignieren drohen in unserer immer stärker entchristlichten Welt. Da gibt das Gleichnis vom Sämann Trost: Selbst wenn nur wenige Samenkörner auf fruchtbaren Boden fallen – sie werden hundertfach Frucht bringen. Amen.

 

Perikope
08.02.2015
8,4-15