Predigt zu Markus 1, 32-39 von Christoph Dinkel
1,32
Liebe Gemeinde!
Der erste Ort, an dem Jesus nach dem Markusevangelium öffentlich wirksam wird, ist Kapernaum am See Genezareth. Dorthin kommt Jesus mit den von ihm berufenen Jüngern. Von einem Besessenen treibt er in Kapernaum einen bösen Geist aus, und er heilt auch die Schwiegermutter des Petrus von einem Fieber. Diese beiden Heilungen erzeugen Aufmerksamkeit und unser Predigttext aus Markus 1,32-39 berichtet wie der Tag in Kapernaum weiterging:
Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er half vielen Kranken, die mit mancherlei Gebrechen beladen waren, und trieb viele böse Geister aus und ließ die Geister nicht reden; denn sie kannten ihn.
Und am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort. Simon aber und die bei ihm waren, eilten ihm nach. Und als sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich. Und er sprach zu ihnen: Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Städte, dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die bösen Geister aus.
Liebe Gemeinde!
1. Reden wir heute einmal über böse Geister und wie man sie austreibt. Reden wir also über Exorzismus. Sie werden vielleicht sagen: Böse Geister gibt es gar nicht und Exorzismus ist eine zum Glück längst überholte mittelalterliche Praxis. Und ich werde Ihnen dann gerne zustimmen: Ja, es gibt keine bösen Geister und: ja, was als Exorzismus betrieben wurde, war oft genug grausam und menschenverachtend. Und dennoch will ich heute über böse Geister reden und wie man sie austreibt. Denn von Jesus wird in unserem Predigttext genau das berichtet, dass er böse Geister austrieb und es wird auch berichtet, dass ihn die Menschen dafür verehrten.
Menschen vergangener Epochen glaubten fest, dass es böse Geister gibt, dass sie von Menschen Besitz ergreifen können und dass manche, besonders begnadete Menschen auch in der Lage sind, solch böse Geister zu bändigen oder auszutreiben. In vielen Gegenden Afrikas oder Lateinamerikas glauben das die Menschen bis heute. Der Umgang mit Geistern gehört dort zur alltäglichen Religionspraxis und christliche Geistliche müssen in der Lage sein, damit umzugehen. Ohne kompetente Geistbeherrschung braucht man als christlicher Prediger dort gar nicht erst anzufangen. Der Glaube an Geister hängt am Weltbild und an der Weltgegegend. In manchen Gegenden würde die Erzählung von der Geisteraustreibung in Kapernaum auch heute unmittelbar einleuchten. Unser mitteleuropäisches-modernes Weltbild jedoch hat den Geisterglauben überwunden. Auf uns wirkt der Bericht aus Kapernaum eher irritierend. Der Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann hat die Sache in seinem berühmten Aufsatz zur Entmythologisierung im Jahr 1941 so auf den Punkt gebracht:
„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ (Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie, 1941, 18)
Bultmann schlug damals vor, die mythologische Sprache der Bibel existential zu interpretieren. Er schloss damit an den Philosophen Martin Heidegger an, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband – bis Heidegger der nationalsozialistischen Ideologie verfiel. Rudolf Bultmann hingegen fand die Nazis absolut abstoßend, er verachtete sie mit Nachdruck, verhalf vielen jüdischen Freunden zur Flucht und hielt sehr aufrechte Predigten gegen den nationalsozialistischen Wahn. Womit wir wieder beim Thema wären, dem Wahn und den bösen Geistern und ihrer Bekämpfung.
2. An böse Geister, wie sie die Menschen früherer Zeiten kannten oder in anderen Weltgegenden noch kennen, werden die wenigsten von uns glauben. Aber trotz dieser Fremde und Distanz können wir doch teilweise entschlüsseln, was damit gemeint ist: Es geht bei der Besessenheit durch böse Geister darum, dass Menschen nicht mehr bei Sinnen sind, dass sie auf befremdliche Weise nicht als sie selbst erscheinen, dass sie sich sozial höchst auffällig verhalten oder dass sie sich selbst und andere zu zerstören suchen. Die meisten derer, die in der Bibel Besessene genannt werden, würden heute als psychisch krank beschrieben. Wenn man die einschlägigen Artikel zu Psychose, Borderline oder Dissoziation nachschlägt, so begegnen einem lauter Beschreibungen, die sich mit der biblischen Schilderung von Besessenheit decken.
Was also die Alten als Besessenheit von bösen Geistern beschrieben haben, heißt zu einem guten Teil in der Sprache unserer rationalen Welt psychische Erkrankung. Behandelt werden diese Erkrankungen dann auch nicht mehr durch Exorzismen, sondern durch moderne Methoden. Ein moderner geisteraustreibender Jesus käme also vermutlich mit weißem Arztkittel und Rezeptblock daher, er verstünde etwas von Diagnostik und allerlei wissenschaftlich fundierten Therapien. Ganz gewiss würde Jesus in unseren Tagen und in unseren Breitengraden nicht mehr die Methoden verwenden, die er einst in Kapernaum anwandte. Er wäre froh, dass heute wirksamer geholfen werden kann und würde Gott dafür loben, dass er uns die moderne Medizin geschenkt hat.
An dieser Stelle einmal ein ganz herzlicher Dank an alle Ärztinnen und Ärzte, an alle Pflegerinnen und Pfleger, an alle Pharmazeutinnen und Pharmazeuten, die sich um körperlich und seelisch erkrankte Menschen kümmern. Ihre Arbeit steht ganz unmittelbar in der Nachfolge Jesu. Durch ihre Arbeit hilft Gott den Menschen und macht sie gesund. Eine großartige Sache, ein Grund Gott zu loben!
3. Wir reden heute über böse Geister und wie man sie austreibt. Fasst man die bösen Geister medizinisch auf, dann wird aus Besessenheit Krankheit und die Vertreibung erfolgt durch medizinische Therapie. Aber man kann die Sprache des Mythos auch anders entschlüsseln. Ja, vielleicht muss man sie gar nicht immer entschlüsseln, vielleicht transportiert die Sprache des Mythos etwas, das sich eben am besten mythologisch, nur in Metaphern und Bildern, nur mit Hilfe der Rede von bösen und guten Mächten beschreiben lässt.
Dietrich Bonhoeffer jedenfalls hat als Gefangener der Nazis zur Bezwingung seiner Angst von guten Mächten gedichtet, die ihn umgeben. Obwohl auch dies mythologische Sprache ist, ist sie uns nicht fremd, sondern vertraut. Als gute Mächte beschreibt Bonhoeffer alles Freundliche, das ihm widerfährt, alles, was ihn stärkt: Psalmen und Gedichte, die er liest, die guten Gedanken und Gebete seiner Familie und seiner Freunde, jede Hilfe und jede gute Erfahrung. Sie sind alle Zeichen der Gegenwart Gottes, der einen guten Macht, die uns umgibt und hält und birgt in allem, was geschieht.
Wenn Bonhoeffer die guten Mächte anruft, dann stellt er sich damit ganz bewusst und gezielt jenen bösen Mächten entgegen, denen er und seine Zeit brutal ausgeliefert sind: Der Gewalt des Nazi-Regimes, dem sinnlosen Töten im Krieg und in den Vernichtungslagern. Angesichts der ungezügelten Mordmaschine des Nationalsozialismus versagte und versagt die unmythologische Sprache. Der Unheilszusammenhang, der damals Deutschland und die Welt beherrschte, kann mit den üblichen Kategorien nicht erfasst werden. Die nationalsozialistischen Akteure waren Besessene einer teuflischen Macht. Es war der Kampf des Bösen gegen das Gute, die Ausmaße und das Unheil waren apokalyptisch. Und ganz lange fand sich keine Macht, die dem Wüten des Bösen Einhalt gebot.
Ein Dank an dieser Stelle den alliierten Mächten und allen, die Widerstand leisteten gegen das nationalsozialistische Morden. Dass der Spuk überwunden wurde, ist ihr Verdienst. Manchmal kann nur Gewalt für Frieden sorgen. Schlimm, dass es so ist. Ein Dank an alle, die in diesem Kampf für unsere Freiheit ihr Leben ließen.
4. Die Religion hat sich seit alters der Sprache des Mythos bedient. Heute tut sie das etwas verschämt und müht sich, die mythologische Sprache zu erklären. Das ist gut so, denn ohne Entymthologisierung würde der christliche Glaube den Anschluss an die Moderne verlieren. Zugleich aber kann man beobachten, dass es neben der mächtigen Bewegung der Entmythologisierung in unserer Kultur auch eine Remythologisierung gibt. Literatur und Kino bedienen sich mit Lust und Hingabe der Mythologie. George Lucas hat mit „Star Wars“ ein ganzes mythologisches Großreich geschaffen, genauso wie J.R.R. Tolkien mit „Herr der Ringe“ oder Joanne K. Rowling mit „Harry Potter“. Dahinter steckt eine große Lust zum Fabulieren, dahinter steckt aber auch die große Kunst, menschliches Leben durch Verfremdung zu deuten und auf neue Weise verständlich zu machen.
Denn vieles, was wir erleben und empfinden, lässt sich gar nicht so einfach auf den Begriff bringen. Vieles verschließt sich rationalem Zugang und einer klaren Zuordnung von Ursache und Wirkung. Vieles muss man einfach erzählen, mythisch erzählen, weil es nur dann sichtbar und vorstellbar, nachvollziehbar und begreiflich wird. Unser menschliches Fühlen und Denken vollzieht sich in Bildern und lässt sich deshalb auch nur mit Bildern und in der Sprache des Mythos sinnvoll beschreiben. Großes Glück und abgründiges Leid, schreckliche Angst und glanzvoller Sieg verlangen nach einer Sprache, die den Alltagssprech übersteigt. Wer über Liebe in der Sprache chemischer Formeln spricht, wie es manche Biologen tun, sagt zwar auch etwas Richtiges, aber es hat mit dem, was wir fühlen und empfinden, wenn wir lieben oder geliebt werden, nur sehr entfernt zu tun. Unsere Welt und unser Leben lässt sich nicht nur wissenschaftlich erfassen, es bedarf auch der poetischen, der literarischen, der cineastischen, der künstlerischen und damit oft der mythologischen Beschreibung. Wer böse Angstgeister vertreiben oder bannen will, der kommt nicht umhin, sich der Sprache und Bilderwelt des Mythos zu bedienen.
Ein Dank an dieser Stelle an alle, die uns die Welt auf so herrlich vielfältige Weise zu zeigen und böse Geister künstlerisch zu bannen vermögen: an alle Regisseure und Schauspielerinnen, die unsere Ängste und unser Glück verstehen und darzustellen vermögen. Ein Dank an jene Techniker in den Filmstudios und hinter den Bühnen, die mit Raffinesse gigantische Illusionen erzeugen können. Ein Dank auch an alle Sprachkünstler, die uns mit ihren Worten die Welt neu erschließen.
Jesus war ja auch solch ein Sprachkünstler. Mit seinen Gleichnissen und Predigten hat er die Welt neu zu deuten gewusst. Inmitten von Leid und Elend konnte er von Gottes neuer Welt so berichten, dass sie auf Erden Wirklichkeit wurde.
5. Wenn heute die Medizin Besessene heilt und das Kino die Geister bannt und vertreibt, was bleibt dann noch für die Religion und den christlichen Glauben zu tun? Unser Predigttext enthält dazu einen ersten Hinweis. Nachdem Jesus die Geister ausgetrieben und die Kranken geheilt hat heißt es: „Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort.“ Um selbst den bösen Geistern standhalten zu können, hat Jesus gebetet. Die Kraft, die er für seine Arbeit benötigte, fand Jesus also in seiner religiösen Praxis, in der inneren Einkehr, in der Ausrichtung auf Gottes Willen. Um selbst seelisch gesund zu bleiben, wandte er sich an die guten Mächte, an die eine gute Macht, der wir unser Leben verdanken.
Der christliche Glaube mit seinen Gebeten, der Musik und den Liedern, mit seinen wichtigen Gebärden wie dem Segen oder dem gemeinsamen Abendmahl bildet gleichsam ein Immunsystem gegen die bösen Mächte, gegen das, was Menschen zerstören kann. Seelisch gesund bleiben wir nicht von alleine, dazu sind wir viel zu vielen schädlichen, bedrückenden oder ängstigenden Einflüssen ausgesetzt. Damit unsere Seele gesund bleibt, ist es gut, diesen negativen Einflüssen Positives entgegenzustellen, gute Gedanken, heilsame Gesten, die uns stärken und trösten, Worte, die uns Halt geben und gewiss machen, dass wir bei Gott geborgen sind und er uns liebt.
Mit unserer religiösen Praxis des Singens und Betens, des Segnens und Feierns vertreiben wir vielleicht nicht immer die ganz großen bösen Geister, aber unsere religiöse Praxis hilft uns dabei, all die vielen kleinen und mittelgroßen Geister in Schach zu halten, die uns quälen und unfrei zu machen drohen.
Am Ende daher ein Lob an Gott, der so viele Wege kennt, die bösen Geister zu bekämpfen. Ein Lob an Gott für die Medizin und ihre Heilkraft, ein Lob an Gott für alle, die mutig dem Unrecht widerstehen und für Frieden sorgen, ein Lob an Gott für alle Kunst, die uns das Leben erschließt und uns beglückt, ein Lob an Gott für die Musik, für die Lieder und das Gebet. Ein Lob an Gott als die eine gute Macht, die Angst und Böses zu bändigen weiß. Ein Lob an Gott, der die bösen Geister vertreibt. Ein Lob an Gott: Er ist die eine gute Macht. – Amen.
Perikope
30.10.2011
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