Predigt zu Markus 1, 32-39 von Karin Klement
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Predigt zu Markus 1, 32-39 von Karin Klement

Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das Gefühl, dass einem alles über den Kopf wächst?? Man bemüht sich rund um die Uhr, strampelt sich ab mit all der notwendigen Arbeit, die zu tun ist. Und dennoch bleibt immer etwas Wichtiges offen, unerledigt. Da heißt es: sich kümmern, organisieren, machen. Von allen Seiten stürmen Erwartungen, Wünsche auf uns ein: „Könnten Sie nicht einmal ...?“ „Wann hast du Zeit ...?“ „Wir brauchen dringend ...“
Dabei denke ich gar nicht an die vielen zeitraubenden Nebensächlichkeiten, die unvermeidlich zu erledigen sind. Ich meine wichtige Aufgaben. Solche, die sinnvoll und notwendig sind, damit das Leben gelingt: im Beruf Einsatz zeigen, die Familie versorgen, sich um altgewordene Eltern kümmern, Kontakte zu Nachbarn pflegen, an den Geburtstag von Freunden denken… Darüber hinaus ehrenamtlich im Verein, in der Kirche mitarbeiten; viele von anderen oft gar nicht wahrgenommene Aufgaben mittragen.
Eine Zeitlang geht das alles sehr gut, bringt Erfolg und Selbstbestätigung. Irgendwie kriegt man alles unter einen Hut, wirbelt von einem Einsatz zum nächsten und schafft nebenher noch den Haushalt mit links. Doch irgendwann beklagen sich die ersten, zumeist Familienangehörige: „Du hast ja nie Zeit für uns! Können nicht mal andere deine Arbeit übernehmen?“ Und man spürt es selbst auch: Müdigkeit, Unlust, ja manchmal sogar eine riesengroße Erschöpfung. BURN-OUT, ausgebrannt-zu-seinist die heute längst nicht mehr eine Krankheit, die nur Manager betrifft. Burn-out beschreibt ein Stress-Gefühl, das immer mehr Menschen kennen. Man hat zu nichts mehr Lust, keine Energie; fühlt sich ausgepumpt, leer und zerrissen zwischen unzähligen Aufgaben und Interessen. Selbst die kleinsten zusätzlichen Anfragen oder Bitten werden genervt abgewiesen. Es muss ja nicht zu einem völligen Zusammenbruch kommen. Es ist schon schlimm genug, wenn man sich permanent abgehetzt, unter Zeitdruck fühlt; wenn das Leben ständig unter Strom steht und man keine ruhige, müßige Stunde mehr kennt.
Sicher hilft es eine Weile, wenn man die zu leistende Arbeit strukturiert, auflistet, was wann wo wie zu tun ist. Doch das allein reicht nicht, es braucht mehr, um den Alltag zu bewältigen, anstatt von ihm überwältigt zu werden.
In dieser Hinsicht ist der heutige Predigttext besser als jedes ärztliche Rezept; eine wundervolle Wundergeschichte aus dem Mk-Ev. (1, 32 – 39), eine Geschichte über göttliches HEIL und menschliche HEILUNG.              
Jesus fing gerade an, in Galiläa Leute anzusprechen, ihnen als Prediger von Gott zu erzählen. Und die Leute staunen über seine vollmächtigen Worte; sie sehen ihn unglaubliche Dinge tun: Blinde öffnen ihre Augen, Lahme lassen ihre Stützen fallen, seelisch Durcheinandergeratene sprechen wieder klare Worte. Dieser JESUS wirkt, als ob eine Gotteskraft aus ihm herausströmt. Göttliche Heilkraft in einem Menschen! Das spricht sich herum. Menschen suchen ihn auf.
T E X T
JESUS im Stress, ein vielbeschäftigter Mann. Kaum ist mit Sonnenuntergang die geheiligte Sabbatruhe vorbei, strömen die Menschen zu ihm. Sie bringen unheilbar Kranke und Verrückt-Gewordene zu ihm, Menschen, deren Leben aus dem Gleichgewicht ver-rückt ist. Sie empfinden sich körperlich oder seelisch überlastet, manche wie zerrissen und für menschliche Hilfe unheilbar. Die ganze Stadt mit ihrem gesammelten Un-Heil versammelt sich vor seiner Tür.
Welche Erwartungen strömen da auf ihn ein? Wie viele Hoffnungen klammern sich an seine Person. Und die Bereitschaft von Menschen, alles für das Wunder einer Heilung zu geben?Die Not und Verzweiflung auf der einen Seite; ein blinder, fast grenzenloser Glaube auf der anderen: „Du kannst alles, JESUS. Also bitte, tu es!“
Dazwischen Widerspruchsgeister, die sich nicht kampflos geschlagen geben. Wahnideen umgarnen Menschen, dämonische Quäl-Geister fesseln ihren Verstand, ziehen ihre Gefühle herab, nehmen ihnen die Lebensfreude. Doch ihnen wird das Wort abgeschnitten. JESUS diskutiert nicht mit Geistern über deren Verrücktheiten; ihn interessieren die Menschen. Und für ihn sind sie alle „normal“, nur ihre Situation ist aus der Normalität herausgerückt: Körperliches Leiden behindert ihren Lebensfluss; unerträglicher Schmerz verbrennt ihre Seele – kein Wunder, dass ihr Geist, ihr Verstand damit nicht zurechtkommt.
JESUS hört den Leidenden zu; er lässt sie ausreden; er geht auf sie ein. So wie ich es mir selbst wünschen würde, wenn es mir mal nicht gut geht.
Ich stelle mir vor, wie JESUS sich Zeit nimmt für jeden einzelnen, der zu ihm kommt. Er schaut den Menschen in die Augen, lässt sich erzählen, was sie bedrückt. Er hält sie bei ihrer Hand, kümmert sich allein um denjenigen, der gerade vor ihm sitzt. An die vielen anderen, die draußen warten, denkt er nicht. Auch nicht daran, wie viel Zeit es braucht, um allen gerecht zu werden.
Er ist in jedem Augenblick ganz gegenwärtig, hochkonzentriert auf den Menschen, der seine Hilfe sucht und braucht. Und dann, wenn der Kranke sich besser fühlt, widmet er sich mit derselben liebevollen Aufmerksamkeit dem Nächsten. So geht es weiter bis spät in die Nacht.
Und er half vielen Kranken, und trieb viele böse Geister aus. – Am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Er ging an eine einsame Stätte und betete dort.
Mich wundert, dass der Mensch JESUS nach solch einem Heilungs-Marathon am frühen Morgen schon wieder wach ist. Hat er überhaupt geschlafen? Oder konnte er nicht, vielleicht weil seine Gedanken mit menschlichen Schicksalen beschäftigt waren? Was hielt ihn ab? Die Überanstrengung: permanent zu zuhören, Hände aufzulegen, liebevolle Kraft ausströmen zu lassen, immer zugewandt zu bleiben? Wird der Mensch JESUS nicht auch einmal müde? Erschöpft, leergepumpt? Er ist ja nicht nur Gottes Sohn mit wunderbaren Heilungskräften. Er ist auch ein wahrer Mensch. Später am Kreuz wird er elendig leiden, körperlich jämmerlich zugrunde gehen und seelisch sich von Gott verlassen fühlen. Denn er ist immer beides: der Mensch, in dem Gott uns nahekommt. Und ein Kind Gottes, das mit beiden Beinen auf der Erde stehen muss. Darf er nie eine Pause machen? Nie Ruhe haben? Niemals sich selbst entspannen?
Jedermann sucht dich! Vorwurfsvoll klingt die Stimme der Jünger. Gerade sie, seine besten Freunde, reagieren wenig verständnisvoll, ohne Mitgefühl für seine Erschöpfung. Mag sein, dass sie überfordert sind vom Andrang der Kranken und Bedürftigen. Vielleicht haben sie Angst, sie müssten für JESUS einspringen, Heilungswunder vollbringen, die sie sich selbst nicht zutrauen. Oder sind sie überwältigt von der unüberschaubaren Masse an Leiden und Schmerz und ihrem tiefen Wunsch, ihnen allen sollte geholfen werden.
JESUS nimmt sich die Freiheit, auch für sich selbst zu sorgen! Er sucht die Einsamkeit und das Gebet; er birgt sich hinein in Gottes Nähe, damit seine Menschlichkeit Erholung findet und Heil. Kann JESUS nicht auch darin Vorbild für uns sein?
Er nimmt sich eine Auszeit; er geht auf Abstand von den anderen, von der Welt. Er verlässt den Ort, an dem er gebraucht wird. Er entzieht sich Menschen, mit denen er lebt, und lässt einen Berg von Erwartungen hinter sich. Indem er betet, lässt er auch sich selbst los, seinen eigenen Anspruch, alles tun zu müssen, was Gott und die Welt von ihm erwarten. In der Abgeschiedenheit von äußeren Einflüssen findet er einen Platz, wo er ganz er selbst sein kann – un-beobachtet, un-gefragt. Allein mit sich selbst und dem stillen Gott, der nichts anderes macht, als ihm zuzuhören.
Frischgebackene Mütter und Väter finden in den ersten Monaten nach der Geburt ihres Kindes meist wenig Schlaf; kaum Rückzugsmöglichkeiten. Großeltern, Freunde helfen sehr gern, aber ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Und natürlich wollen Eltern von sich aus ALLES tun, um für ihr Kind da zu sein. Nicht nur in den ersten Lebensjahren. Im Grunde, sobald ein Kind da ist, für das ganze Leben. Der Job „Eltern sein“ ist nicht allein ein full-time-Job rund um die Uhr, er ist auch unkündbar und dauert bis an das Lebens-Ende. (Mit umgekehrtem Vorzeichen und umgedrehter Fürsorge, sobald die Eltern selbst alt sind.) Und dennoch – am glücklichsten sind Kinder wohl dann, wenn ihre Eltern zufrieden und im Gleichgewicht mit sich selber leben. Am Verhalten ihrer Eltern lernen sie, wie man mit den Herausforderungen des Lebens umgeht, ohne selbst dabei unterzugehen.
Manchmal hilft es, ein Stück Distanz zu schaffen. Heraus aus dem gewohnten Alltag, dem üblichen Rhythmus, den ewig gleichen, unveränderlich bedrückenden Strukturen. Weg von der Herrschaft des Terminkalenders. Sich einfach mal vergewissern, dass es da noch etwas anderes gibt, eine andere Welt – jenseits von Berufs-Engagement, Familienarbeit oder Schulstress.
Vor einigen Jahren war ich mit Berufskollegen zu einem dreitägigen Konvent im Kloster Bursfelde. Obwohl wir über Stellenkürzungen nachdenken mussten und die drohende Mehrarbeit für alle wie ein Damokles-Schwert über unseren Köpfen hing, schaffte allein der veränderte Raum, die Weite des Klostergartens und das regelmäßige Morgen- und Abendgebet eine beruhigende, entspannte Atmosphäre.
Es fand sich Zeit für vertrauensvolle Gespräche untereinander, für einsame, stille Spaziergänge unter uralten, dicken Bäumen, die im warmen Sonnenlicht glänzten. Es gab Zeit und Raum, um an Seele und Leib aufzutanken, neue Kraft zu schöpfen.
Gerade die Entfernung vom alltäglichen Berufsleben, schärfte den Blick darauf. Und so manches ließ sich in der Distanz besser erkennen, als zuhause.
Diese Erfahrung habe ich mitgenommen. Und immer, wenn ich glaube, ich müsste dies und jenes gleichzeitig tun, weil nichts warten kann, lehne ich mich für einen Moment zurück. Ich höre auf meine inneren Bedürfnisse, kann spüren, was ich brauche. Und plötzlich fließt das Sonnenlicht in meinen Körper, ich höre Bäume rauschen im Wind, Ruhe strömt in mein Herz.
Danach kann ich mich meinen Aufgaben stellen, kann viel besser wahrnehmen, welche wichtig sind und welche nicht, wo ich tatsächlich gebraucht werde, und wo andere ganz gut ohne mich zurechtkommen. Ich lerne meine eigene Mitte zu finden; ein gesundes Pendeln zwischen meinen Fähigkeiten und meinen Grenzen. Und ich wage es, mich fallen zu lassen. Das ist die Haltung desGEBETS, wie Jesus zeigt. Im Gebet weiß ich, dass ich nicht alles tun und nicht alles allein schaffen muss; ich werde aufgefangen von jenem Gott, der mich so liebt, wie ich bin. Und die vielen anderen rings um mich herum ebenso. Diesem Gott muss niemand etwas beweisen.
BETEN ermutigt zu mehr Gelassenheit. Ich bringe mich in Verbindung dem Ursprung meines Lebens, mit dem Grund meines Daseins: Ich lebe, weil GOTT es so will. Ich mache etwas aus meinem Leben, versuche dem nachzufolgen, was JESUS gelebt und gelehrt hat. Und ich bleibe dennoch ein Mensch mit Begrenzungen, über die hinaus ich mich nicht permanent fordern darf. Leben ist ein Dasein für andere und ein Dasein für mich selbst. Ich arbeite, so gut ich kann; ich freue mich über den Erfolg und lerne aus dem, was nicht so gut läuft. Ich genieße die Erschöpfung, wenn ich genug gearbeitet habe, und lächle in mich hinein, wenn ich gar nichts tue. Und beides ist mein Auftrag, meine Aufgabe im Leben.
Als JESUS in der Einsamkeit mit Gott spricht, wird ihm sein Auftrag wieder ganz klar: zu predigen, von Gott zu erzählen gegenüber Menschen, denen Gott fern erscheint. JESUS bringt Heil durch seine Worte und Heilung durch seine Hände.
Er legt uns seine Worte ins Herz, damit wir etwas daraus machen. Auf unsere Weise, mit unseren Begabungen. Ohne Verbissenheit und hektischen Stress, ohne Erfolgszwang, sondern mit heiterer Gelassenheit und dem glühenden Funken Liebe, den er in uns entzündet hat.
AMEN