Predigt zu Markus 1, 40-45 von Bernd Giehl
1,40
Begegnen sich zwei auf der Straße. „Hallo, Kurt, wie geht’s dir? Lange nicht gesehen.“ „Och Hans, soweit ganz gut.“ „Was macht die Emmy?“ „Danke der Nachfrage, die schafft noch immer ihre Arbeit.“ „Freut mich zu hören. Solang jeder noch seine Arbeit machen kann … Und selbst?“ „Du siehst doch: Unkraut vergeht nicht.“ „Dann grüß mir mal die Emmy.“ „Danke, mach ich. Und du grüß die Gerda von mir.“ „Dann bis zum nächsten mal.“ „Ja, du, mach’s gut.“ „Du auch.“
Die beiden gehen weiter. Der eine hat gerade seine Arbeit verloren und der Andere hat vor ein paar Wochen erfahren, dass er Krebs hat.
Soweit also alles ganz normal.
*
Und jetzt verändern wir die Geschichte ein klein wenig. Geht einer mit weißen Flecken auf der Haut durchs Dorf. Die, die ihn von weitem sehen, wechseln die Straßenseite. Ein paar Kinder schleichen in sicherem Abstand hinter ihm her. Sie rufen hinter ihm her: „Lepra Klaus, Lepra Klaus, schaff dich aus dem Ort hinaus. Niemand will dich hier mehr sehen, schnell sollst du nach Hause gehen. Lepra Klaus, Lepra Klaus, geh zurück ins Lepra Haus.“ Der Mann dreht sich um und tut so, als wolle er den Kindern nachlaufen. Schreiend laufen die Kinder weg. Schon kommen ein paar Erwachsene aus ihren Häusern. Sie drohen dem Mann. Der wendet sich um und geht.
*
Und wenn ich Sie nun fragen würde, welche Geschichte leichter erträglich ist, was würden Sie dann sagen? Die zweite Geschichte vielleicht, weil sie weiter weg ist von uns? Weil Lepra bei uns einfach nicht mehr vorkommt? Nicht in unseren Breiten jedenfalls. Im Mittelalter war die Krankheit in Europa eher verbreitet; vermutlich eingeschleppt durch die heimkehrenden Kreuzfahrer. Die Ironie des Ganzen ist, dass sie nicht ansteckend ist, dass die Menschen sich aber vor ihr fast genauso fürchteten wie vor der Pest. Um diese Krankheit ranken sich eine Menge Mythen; zum Beispiel, dass die Glieder abfallen, wenn sie nur weit genug fortgeschritten ist. Richtig daran ist, dass die Kranken in den befallenen Körperteilen das Gefühl für Wärme, Kälte oder Schmerz verlieren und sich dadurch verletzen und mit Wundbrand infizieren können. Womöglich sind da tatsächlich hin und wieder einmal Glieder abgestorben.
Aber wie gesagt: Das alles ist weit weg von uns. Lepra ist eine Krankheit, die heute in Europa so gut wie nicht mehr vorkommt, und die deshalb auch ihren Schrecken verloren hat. Allerdings gab es in Norwegen noch um das Jahr 1870 herum etwa 2000 Leprakranke bei einer Gesamtbevölkerung von 2.000.000. Und in Rumänien gab es noch in diesem Jahrhundert eine Leprakolonie.
*
Aber vermutlich ist die Krankheit gar nicht das Schlimmste. Sie ist schlimm genug, ganz sicher, aber das Schlimmste ist die Angst der Gesunden vor der Ansteckung. Und damit auch vor dem Kranken selbst. Er oder sie wird aus der Gemeinschaft des Dorfes ausgeschlossen. Er darf sich seinem Dorf nur noch auf eine gewissen Entfernung nähern. Auch zu seinen Angehörigen darf er den Kontakt nicht mehr pflegen. Womöglich gibt es andere, denen er sich anschließt. Leute mit demselben Schicksal wie seinem. Mitleidige Dorfbewohner stellen ihnen ab und zu etwas zu essen hin. Wenn Gesunde sich ihnen nähern, müssen sie ihre Klapper betätigen, die sie als Aussätzige kennzeichnet.
Aussätzig sein – damals hieß es so gut wie tot zu sein. Oder womöglich noch schlimmer als tot zu sein.
*
Und wenn ich jetzt noch einmal zu meinem Anfang zurückkehre? Am Anfang hatte ich von zwei Menschen erzählt, die sich auf der Straße begegnen. Beide haben ein schlimmes Schicksal erlitten. Der eine hat Krebs und der andere hat seine Arbeit verloren. Aber keiner von beiden redet darüber. Beiden geht es angeblich gut. Nur ja nicht vom eigenen Unglück sprechen. Irgendwie haben wir das ja alle verinnerlicht.
Nur der Mann in unserer Geschichte scheint das nicht realisiert zu haben. Er tut das, was keiner von ihm erwartet. Er betätigt nicht etwa seine Klapper und ruft „Aussätzig, aussätzig“ als Jesus in seine Nähe kommt. Ganz im Gegenteil. Er geht auf Jesus zu. „Er kniete vor ihm nieder“ heißt es in der Geschichte. Was die Jünger wohl gedacht haben? Vielleicht haben sie gedacht, Jesus habe den Verstand verloren, als der den Mann nicht zum Teufel schickt. Sich auch nicht angeekelt von ihm abwendet. Es gibt eine Geschichte über Franz von Assisi, die uns vielleicht klarmacht, wie weit außerhalb der Gemeinschaft ein Aussätziger über Jahrhunderte hin stand. Kurz nach seiner Bekehrung, kurz nachdem er sich von seinem Vater und seinem Reichtum losgesagt hat und nun als Bettler durchs Land zieht und sich von Kartoffelschalen und verschimmeltem Brot ernährt, begegnet Franz einem Aussätzigen und umarmt ihn. Und dazu muss selbst er, der wie der Ärmste der Armen lebt, sich noch überwinden. Allein diese Geschichte zeigt, wie außergewöhnlich es war, einen Aussätzigen nicht wie einen räudigen Hund zu behandeln.
Ob Jesus vielleicht auch … Der vielleicht ungewöhnlichste Zug dieser Geschichte ist jedenfalls der, der fast beiläufig vorkommt. Jesus jedenfalls wendet sich nicht von dem Mann nicht ab, der ihm so viel Vertrauen entgegenbringt. „Es jammerte ihn“, heißt es in der Geschichte, und dann tut er das, was wohl kein normaler Mensch dieser Zeit getan hätte: Er berührt ihn. Und sagt dazu: „Ich will es; sei rein.“
*
Habe ich jetzt den heikelsten Punkt dieser Geschichte einfach ausgespart? Bleibt natürlich immer noch die Frage, wie Jesus etwas gelingen konnte, was sonst keinem gelingt. Vielleicht ist es möglich. Lepra im Anfangsstadium mit Medikamenten zu heilen. Wahrscheinlich kann man sie in einem fortgeschrittenen Stadium immer noch zum Stillstand bringen. Heute sind viele Krankheiten heilbar, die es früher nicht waren. Aber dieser Prozess dauert seine Zeit, und dass die Haut am Ende aussieht wie vor der Krankheit ist wohl eher unwahrscheinlich.
Insofern ist es nur schwer vorstellbar, was Markus berichtet: „Und sofort wich der Aussatz von ihm.“ Im Grunde sehe ich nur zwei Möglichkeiten, diese Stelle zu interpretieren, wenn man nicht von vornherein sagen will: So kann es nicht gewesen sein. Die eine Möglichkeit ist zu sagen: Jesus hatte Möglichkeiten, die uns nicht zur Verfügung stehen, weil wir rational denken und sofort nach dem Ursache-Wirkungszusammenhang fragen. Er hatte sie, weil er Gottes Sohn ist oder er hatte sie, weil er einen ganz anderen Zugang zu seinen inneren Kräften hatte als wir ihn haben.
Die andere Möglichkeit ist der Zugang über das Begriffspaar „rein-unrein“. Auch aus anderen Zusammenhängen wissen wir, dass Jesus die strikte Unterscheidung zwischen „rein“ und „unrein“ nicht mitgemacht hat. Diese Unterscheidung, die so wichtig war für die Mehrheit seines Volkes stellte Jesus grundlegend in Frage, weil sie viele Menschen ausschloss, sie sozusagen „aussätzig“ machte. Jesu will nicht, dass Menschen ausgeschlossen werden und in ihrer Einsamkeit verdämmern. Insofern könnte auch die andere Lesart von Vers 41 stimmen, die sagt: „Da ward Jesus von Zorn ergriffen.“ Es macht ihn zornig, wie Menschen da mit anderen Menschen umgehen, wie sie über sie urteilen. Er holt Menschen, die zuvor ausgeschlossen waren, in seine Gemeinschaft und gibt ihnen so die Chance, wieder neues Vertrauen zu fassen. Weil er sie hereinholt, können sie wieder neu zu leben anfangen. Sie können sich öffnen, statt sich nur zu wappnen gegen den Schmerz.
Allerdings braucht es dazu ein großes Vertrauen. Der Aussätzige bringt es auf, wenn er zu Jesus sagt: „Herr, wenn du willst, kannst du mir helfen.“ Selbst einer wie Jesus könnte da nicht helfen, wenn dieses grundlegende Vertrauen nicht da wäre. Es ist der erste Schritt zur Heilung.
*
Aber am Ende bleibt da doch immer noch ein ungutes Gefühl. Wo sind wir eigentlich vorgekommen? Das Problem mit dieser Geschichte ist ja zunächst einmal, dass wir Lepra als Mitteleuropäer nur aus der Literatur kennen. Wir wissen, dass es sie gibt; das ja, aber wir haben keine Erfahrung mit ihr.
Oder ist es das immer noch nicht? Je länger ich über diese Geschichte nachdenke, desto mehr spüre ich in mir einen Widerstand. Zunächst sprachlos, kommt er mir allmählich ins Bewusstsein. Wie gesagt: Ich bin in meinem ganzen Leben noch keinem Leprakranken begegnet. Und doch spüre ich einen Widerstand, der erst allmählich Gestalt annimmt: Auch ich möchte ihn nicht berühren. Obwohl ich mich doch rational mit diesem Thema auseinander-
gesetzt habe.
Womöglich geht es also in dieser Geschichte auch um unsere tiefsten Tabus. Was ist es, vor dem ich mich fürchte? Ist es die Krankheit? Ist es die eigene Ohnmacht, nicht helfen zu können, obwohl ich es doch will? Manchmal spüre ich diese Ohnmacht, wenn ich einen Schwerkranken besuche. Ich möchte ihm gern sagen, das wird schon wieder, aber die Ehrlichkeit verbietet es mir. Was ist, wenn er sich ans Leben klammert? Wenn er noch nicht bereit ist zu sterben? Im Grunde kann ich ja verstehen, dass man als Gesunder einem Kranken lieber nicht begegnen will, weil man sich selbst dann so hilflos vorkommt.
Wenn ich mich dann aber in die Person des Kranken hineinversetze, dann denke ich: Er ist auf den Gesunden angewiesen. Womöglich ist es ja gar nicht so wichtig, dass der ihm Hoffnung gibt. Viel wichtiger ist, dass einer da ist, der ihm zuhört. Der nicht vor dem Leid flieht. Einer, der ein wenig mitträgt. Der ihn nicht allein lässt mit seinen Grübeleien. Schon dass einer zuhört und nicht gleich sagt: Das wird schon, kann ja entlasten.
Und am Ende kann man ja immer noch mit ihm beten.
Die beiden gehen weiter. Der eine hat gerade seine Arbeit verloren und der Andere hat vor ein paar Wochen erfahren, dass er Krebs hat.
Soweit also alles ganz normal.
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Und jetzt verändern wir die Geschichte ein klein wenig. Geht einer mit weißen Flecken auf der Haut durchs Dorf. Die, die ihn von weitem sehen, wechseln die Straßenseite. Ein paar Kinder schleichen in sicherem Abstand hinter ihm her. Sie rufen hinter ihm her: „Lepra Klaus, Lepra Klaus, schaff dich aus dem Ort hinaus. Niemand will dich hier mehr sehen, schnell sollst du nach Hause gehen. Lepra Klaus, Lepra Klaus, geh zurück ins Lepra Haus.“ Der Mann dreht sich um und tut so, als wolle er den Kindern nachlaufen. Schreiend laufen die Kinder weg. Schon kommen ein paar Erwachsene aus ihren Häusern. Sie drohen dem Mann. Der wendet sich um und geht.
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Und wenn ich Sie nun fragen würde, welche Geschichte leichter erträglich ist, was würden Sie dann sagen? Die zweite Geschichte vielleicht, weil sie weiter weg ist von uns? Weil Lepra bei uns einfach nicht mehr vorkommt? Nicht in unseren Breiten jedenfalls. Im Mittelalter war die Krankheit in Europa eher verbreitet; vermutlich eingeschleppt durch die heimkehrenden Kreuzfahrer. Die Ironie des Ganzen ist, dass sie nicht ansteckend ist, dass die Menschen sich aber vor ihr fast genauso fürchteten wie vor der Pest. Um diese Krankheit ranken sich eine Menge Mythen; zum Beispiel, dass die Glieder abfallen, wenn sie nur weit genug fortgeschritten ist. Richtig daran ist, dass die Kranken in den befallenen Körperteilen das Gefühl für Wärme, Kälte oder Schmerz verlieren und sich dadurch verletzen und mit Wundbrand infizieren können. Womöglich sind da tatsächlich hin und wieder einmal Glieder abgestorben.
Aber wie gesagt: Das alles ist weit weg von uns. Lepra ist eine Krankheit, die heute in Europa so gut wie nicht mehr vorkommt, und die deshalb auch ihren Schrecken verloren hat. Allerdings gab es in Norwegen noch um das Jahr 1870 herum etwa 2000 Leprakranke bei einer Gesamtbevölkerung von 2.000.000. Und in Rumänien gab es noch in diesem Jahrhundert eine Leprakolonie.
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Aber vermutlich ist die Krankheit gar nicht das Schlimmste. Sie ist schlimm genug, ganz sicher, aber das Schlimmste ist die Angst der Gesunden vor der Ansteckung. Und damit auch vor dem Kranken selbst. Er oder sie wird aus der Gemeinschaft des Dorfes ausgeschlossen. Er darf sich seinem Dorf nur noch auf eine gewissen Entfernung nähern. Auch zu seinen Angehörigen darf er den Kontakt nicht mehr pflegen. Womöglich gibt es andere, denen er sich anschließt. Leute mit demselben Schicksal wie seinem. Mitleidige Dorfbewohner stellen ihnen ab und zu etwas zu essen hin. Wenn Gesunde sich ihnen nähern, müssen sie ihre Klapper betätigen, die sie als Aussätzige kennzeichnet.
Aussätzig sein – damals hieß es so gut wie tot zu sein. Oder womöglich noch schlimmer als tot zu sein.
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Und wenn ich jetzt noch einmal zu meinem Anfang zurückkehre? Am Anfang hatte ich von zwei Menschen erzählt, die sich auf der Straße begegnen. Beide haben ein schlimmes Schicksal erlitten. Der eine hat Krebs und der andere hat seine Arbeit verloren. Aber keiner von beiden redet darüber. Beiden geht es angeblich gut. Nur ja nicht vom eigenen Unglück sprechen. Irgendwie haben wir das ja alle verinnerlicht.
Nur der Mann in unserer Geschichte scheint das nicht realisiert zu haben. Er tut das, was keiner von ihm erwartet. Er betätigt nicht etwa seine Klapper und ruft „Aussätzig, aussätzig“ als Jesus in seine Nähe kommt. Ganz im Gegenteil. Er geht auf Jesus zu. „Er kniete vor ihm nieder“ heißt es in der Geschichte. Was die Jünger wohl gedacht haben? Vielleicht haben sie gedacht, Jesus habe den Verstand verloren, als der den Mann nicht zum Teufel schickt. Sich auch nicht angeekelt von ihm abwendet. Es gibt eine Geschichte über Franz von Assisi, die uns vielleicht klarmacht, wie weit außerhalb der Gemeinschaft ein Aussätziger über Jahrhunderte hin stand. Kurz nach seiner Bekehrung, kurz nachdem er sich von seinem Vater und seinem Reichtum losgesagt hat und nun als Bettler durchs Land zieht und sich von Kartoffelschalen und verschimmeltem Brot ernährt, begegnet Franz einem Aussätzigen und umarmt ihn. Und dazu muss selbst er, der wie der Ärmste der Armen lebt, sich noch überwinden. Allein diese Geschichte zeigt, wie außergewöhnlich es war, einen Aussätzigen nicht wie einen räudigen Hund zu behandeln.
Ob Jesus vielleicht auch … Der vielleicht ungewöhnlichste Zug dieser Geschichte ist jedenfalls der, der fast beiläufig vorkommt. Jesus jedenfalls wendet sich nicht von dem Mann nicht ab, der ihm so viel Vertrauen entgegenbringt. „Es jammerte ihn“, heißt es in der Geschichte, und dann tut er das, was wohl kein normaler Mensch dieser Zeit getan hätte: Er berührt ihn. Und sagt dazu: „Ich will es; sei rein.“
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Habe ich jetzt den heikelsten Punkt dieser Geschichte einfach ausgespart? Bleibt natürlich immer noch die Frage, wie Jesus etwas gelingen konnte, was sonst keinem gelingt. Vielleicht ist es möglich. Lepra im Anfangsstadium mit Medikamenten zu heilen. Wahrscheinlich kann man sie in einem fortgeschrittenen Stadium immer noch zum Stillstand bringen. Heute sind viele Krankheiten heilbar, die es früher nicht waren. Aber dieser Prozess dauert seine Zeit, und dass die Haut am Ende aussieht wie vor der Krankheit ist wohl eher unwahrscheinlich.
Insofern ist es nur schwer vorstellbar, was Markus berichtet: „Und sofort wich der Aussatz von ihm.“ Im Grunde sehe ich nur zwei Möglichkeiten, diese Stelle zu interpretieren, wenn man nicht von vornherein sagen will: So kann es nicht gewesen sein. Die eine Möglichkeit ist zu sagen: Jesus hatte Möglichkeiten, die uns nicht zur Verfügung stehen, weil wir rational denken und sofort nach dem Ursache-Wirkungszusammenhang fragen. Er hatte sie, weil er Gottes Sohn ist oder er hatte sie, weil er einen ganz anderen Zugang zu seinen inneren Kräften hatte als wir ihn haben.
Die andere Möglichkeit ist der Zugang über das Begriffspaar „rein-unrein“. Auch aus anderen Zusammenhängen wissen wir, dass Jesus die strikte Unterscheidung zwischen „rein“ und „unrein“ nicht mitgemacht hat. Diese Unterscheidung, die so wichtig war für die Mehrheit seines Volkes stellte Jesus grundlegend in Frage, weil sie viele Menschen ausschloss, sie sozusagen „aussätzig“ machte. Jesu will nicht, dass Menschen ausgeschlossen werden und in ihrer Einsamkeit verdämmern. Insofern könnte auch die andere Lesart von Vers 41 stimmen, die sagt: „Da ward Jesus von Zorn ergriffen.“ Es macht ihn zornig, wie Menschen da mit anderen Menschen umgehen, wie sie über sie urteilen. Er holt Menschen, die zuvor ausgeschlossen waren, in seine Gemeinschaft und gibt ihnen so die Chance, wieder neues Vertrauen zu fassen. Weil er sie hereinholt, können sie wieder neu zu leben anfangen. Sie können sich öffnen, statt sich nur zu wappnen gegen den Schmerz.
Allerdings braucht es dazu ein großes Vertrauen. Der Aussätzige bringt es auf, wenn er zu Jesus sagt: „Herr, wenn du willst, kannst du mir helfen.“ Selbst einer wie Jesus könnte da nicht helfen, wenn dieses grundlegende Vertrauen nicht da wäre. Es ist der erste Schritt zur Heilung.
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Aber am Ende bleibt da doch immer noch ein ungutes Gefühl. Wo sind wir eigentlich vorgekommen? Das Problem mit dieser Geschichte ist ja zunächst einmal, dass wir Lepra als Mitteleuropäer nur aus der Literatur kennen. Wir wissen, dass es sie gibt; das ja, aber wir haben keine Erfahrung mit ihr.
Oder ist es das immer noch nicht? Je länger ich über diese Geschichte nachdenke, desto mehr spüre ich in mir einen Widerstand. Zunächst sprachlos, kommt er mir allmählich ins Bewusstsein. Wie gesagt: Ich bin in meinem ganzen Leben noch keinem Leprakranken begegnet. Und doch spüre ich einen Widerstand, der erst allmählich Gestalt annimmt: Auch ich möchte ihn nicht berühren. Obwohl ich mich doch rational mit diesem Thema auseinander-
gesetzt habe.
Womöglich geht es also in dieser Geschichte auch um unsere tiefsten Tabus. Was ist es, vor dem ich mich fürchte? Ist es die Krankheit? Ist es die eigene Ohnmacht, nicht helfen zu können, obwohl ich es doch will? Manchmal spüre ich diese Ohnmacht, wenn ich einen Schwerkranken besuche. Ich möchte ihm gern sagen, das wird schon wieder, aber die Ehrlichkeit verbietet es mir. Was ist, wenn er sich ans Leben klammert? Wenn er noch nicht bereit ist zu sterben? Im Grunde kann ich ja verstehen, dass man als Gesunder einem Kranken lieber nicht begegnen will, weil man sich selbst dann so hilflos vorkommt.
Wenn ich mich dann aber in die Person des Kranken hineinversetze, dann denke ich: Er ist auf den Gesunden angewiesen. Womöglich ist es ja gar nicht so wichtig, dass der ihm Hoffnung gibt. Viel wichtiger ist, dass einer da ist, der ihm zuhört. Der nicht vor dem Leid flieht. Einer, der ein wenig mitträgt. Der ihn nicht allein lässt mit seinen Grübeleien. Schon dass einer zuhört und nicht gleich sagt: Das wird schon, kann ja entlasten.
Und am Ende kann man ja immer noch mit ihm beten.
Perikope