Predigt zu Markus 10,35-45 von Hans Joachim Schliep
10,35-45

Predigt zu Markus 10,35-45 von Hans Joachim Schliep

35Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: »Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden.« 36Er sprach zu ihnen: »Was wollt ihr, dass ich für euch tue?« 37Sie sprachen zu ihm: »Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.« 38Jesus aber sprach zu ihnen: »Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?« 39Sie sprachen zu ihm: »Ja, das können wir.« Jesus aber sprach zu ihnen: »Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; 40zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.«

41Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. 42Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: »Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. 43Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; 44und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.«

Liebe Gemeinde!

[1] Das Evangelium ist u-topisch. Es hat keinen Ort in dieser Welt, jedenfalls keinen festen. Wir begegnen seinen Spuren, doch es ist weiter als wir sind. Udo Jürgens hat gesungen: „Wir sollten uns schon heut’ / die Töne borgen / von einem morgigen Akkord!“ Doch wird es jemals gelingen, die Herrscher vom Herrschen und die Mächtigen von der Gewalt abzubringen, sie aus dem Irrtum zu befreien, nur groß sein zu können, wenn sie andere klein halten? Oder ist das bloß ›Herz-Jesu-Anarchismus‹: »Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.«?

Gestern vor 50 Jahren, am 21. März 1965,1 begann der dritte Marsch von Selma nach Montgomery im US-Staat Alabama, der am 25. März mit einem Konzert von Joan Baez, Harry Belafonte, Sammy Davis jr., Bob Dylan endete. Der erste Versuch der afro-amerikanischen Bevölkerung der Kleinstadt Selma, am 7. März durch einen Marsch in die Hauptstadt Montgomery ihr Recht auf ungehinderte Eintragung in die Wählerliste durchzusetzen, wurde von der Polizei brutal niedergeknüppelt. Dieses dramatische Geschehen zeigt der Film „Selma“. Ich erinnere mich besonders an eine Szene beim zweiten Marsch am 9. März. Diesmal ist der Bürgerrechtler Martin Luther King mit dabei. Als die Demonstranten auf der Brücke über den Alabama River auf die schwer bewaffnete Polizei zugehen, gibt diese unerwartet den Weg frei. Vernünftige Einsicht oder ein Hinterhalt? Martin Luther King stoppt den Marsch, kniet auf der Brücke nieder, betet und kehrt um. Zögernd folgen ihm die demonstrierenden Frauen und Männer. Nachher streiten sie heftig. Wollte King nicht in eine Falle tappen? Ist er ein Opportunist, der dem Verlangen weißer Kongressabgeordneter nach Ruhe folgte? Oder ein Taktiker, der ein neues Wahlrechtsgesetz zugunsten der Afro-Amerikaner nicht gefährden will? Ich meine, in diesem erstaunlichen Verzicht auf eine machtvolle Demonstration noch ein anderes Motiv, ein Kernprinzip der gewaltlosen Bürgerrechtsbewegung („Civil Rights Movement“) erkennen zu sollen: Martin Luther King will die Siegerpose vermeiden. Er will keine Gewinner und Verlierer, kein neues Machtgefälle, das nur das bisherige Elend mit anderen Vorzeichen fortsetzt!

Vorher wurde im Film eine nächtliche Szene gespielt, in der Martin Luther King, von Selbstzweifeln und Ängsten geplagt, nach langen inneren Ausweichversuchen zu dem Schluss kommt, den ich so in Erinnerung habe: „Das Leben eines Menschen erfüllt sich erst dann, wenn er bereit ist, es für die Rechte seiner Lieben hinzugeben.“ Mit diesem oft variierten Grundsatz gab er kraft seiner Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden, die sich an Jesu Botschaft vom Reich Gottes entzündet hatte, aller Welt zu verstehen: Zur rechten Gesinnung gehört der unbedingte Einsatz für Rechtsverhältnisse, die Macht als bloße Herrschaft von Menschen über Menschen ausschließen und jeder Willkür ein Ende setzen.

[2] Spuren, Lichtpunkte des Evangeliums, die umso deutlicher zeigen, wie weit voraus es uns ist. Wer sich darauf, wer sich auf Jesus Christus einlässt, borgt sich die Töne von einem morgigen Akkord. Lassen Sie uns, um schon weit vor dem Festsaal nach dieser Musik tanzen zu können, genauer hören auf die Verse 35 bis 45 im Evangelium nach Markus:

Wer ›Markus‹ ist, bleibt uns unbekannt. Er schreibt ein Griechisch, das auf Hebräisch als Muttersprache schließen lässt. Wahrscheinlich für Christen, die einmal Juden waren. Aber um auch von Griechen und Römern verstanden zu werden, erklärt er jüdische Ausdrücke und Riten. Hat er sein Evangelium in Rom verfasst oder in Syrien? Die Forschung ist uneins. Eines aber ist klar: Das Evangelium nach Markus ist an Menschen gerichtet, die Herrschergewalt erlitten haben, vielleicht am eigenen Leib: die Pogrome des Kaisers Nero. Jedenfalls ist auch für die frühe Christenheit das Jahr 70 nach Christus ein Trauma: die völlige Zerstörung und Plünderung Jerusalems, die Schändung und Zertrümmerung des Tempels, von dem bis heute nur die sog. ›Klagemauer‹ steht. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dem Evangelium nach Markus und dem triumphalen Einzug des Kaisers Vespasian und seines Sohnes Titus in Rom im Jahr 71. Zur Siegesfeier werden die Beutestücke aus dem Jerusalemer Tempel durch die Straßen getragen. Das Volk, das sich im Siegerglanz sonnt, huldigt der Macht. Die meisten Juden aber müssen ihr Auskommen in der Diaspora suchen und dort, in der Zerstreuung, eine besondere Steuer bezahlen. Die Christen gelten als jüdische Sekte. Diese Verbundenheit zerbricht, als der staatliche Schutz verlorengeht. Nun müssen Juden wie Christen, ganz auf sich selbst gestellt, eine jeweils eigene Identität ausbilden.

Dann brechen elementare Fragen auf: Wird unser Glaube der Bedrängnis standhalten? Wo müssen und wie können wir Widerstand leisten? Welche innere Ordnung soll in unseren Gemeinden gelten? Ist das Gottesreich in ferne Zukunft gerückt oder spielt es hinein in die Gegenwart?

Den späteren Ärger der zehn anderen Jesusjünger teile ich nicht. In meiner Sicht stellen Jakobus und Johannes eine ganz wichtige Frage: die nach der Macht. In der Kirche schieben wir sie gerne beiseite. Wo wir aber die Macht vergessen, sind wir schnell auf sie versessen. Zudem hat die Machtfrage einen existentiellen Hintergrund. Denn zum Leben ermächtigt, haben wir alle teil an der Macht zum Sein. Niemand von uns ist ganz ohne Macht. Da kann ich nachvollziehen, dass Jakobus und Johannes wissen wollen, wie es im Reich Gottes sein wird. Und sie artikulieren ihren Anspruch offen heraus: Sie begehren die beiden Ehrenplätze. Denn wer zur Rechten und zur Linken des Höchsten sitzt, erstrahlt selbst in Siegerglanz und Machtfülle. Wie bei den kaiserlichen Triumphzügen. So ist es in der Geschichte immer gewesen, besonders in Diktaturen, sogar in Demokratien soll es vorkommen. Es ist zugleich die existentielle Frage nach Lebenserfüllung: Hat mein Leben Sinn? Werde ich anerkannt mit dem, was ich getan und unterlassen habe?

Auf solche Lebensfragen geht Jesus bereitwillig ein. Er hat sie ja selbst hervorgelockt. Denn als Jakobus und Johannes an ihn herantreten, erklärt er, tun zu wollen, was er könne. Aber er macht sie darauf aufmerksam, dass sein Machtgebrauch ein anderer ist. Diejenigen gebrauchen ihre Macht falsch, die andere in die Knie zwingen. Wer andere verletzt, ist nicht mächtig, sondern gibt nur die eigenen Verletzungen weiter. Wer andere verachtet, hat keine wirkliche Selbstachtung. Wer sich durch solches Machtgebaren verwirklichen will, wird sein Leben verwirken. Darum stellte Jesus schon vorher auf eine ähnliche Frage aus dem Jüngerkreis ein Kind in die Mitte (Mk 9,33-37): »Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.« Immer wieder optiert Jesus für die Kleinen und Armen, die Verachteten und Gescheiterten. Und kündigt seinen eigenen Leidensweg an, zum dritten Mal unmittelbar vor der Frage von Jakobus und Johannes (Mk 10,32-34). Noch davor hat er Kinder gesegnet (Mk 10,13-16). Sind Kinder besser als Erwachsene, Kleine besser als Große, Ohnmächtige besser als Mächtige, Gescheiterte besser als Erfolgreiche? Nein, nur sind eben alle Kinder Gottes! Also von Gott ermächtigt, ein eigener Mensch zu sein. Wer so ermächtigt ist zum selbstständigen Leben, ist weder wehrloses Objekt des Handelns anderer noch muss er auf der Kommandobrücke des Lebensschiffes stehen, sondern kann dort sein, wo die schweren Ruder gehen.

Dazu sind Jakobus und Johannes bereit. Bereit, den Passionsweg Jesu mitzugehen. So akzeptieren sie sich selbst als ›pathische Existenzen‹, als verletzliche, hinfällige, ergänzungsbedürftige Wesen. Bis dahin reicht ja auch unsere Einsicht, wenn wir genau hinschauen auf die immer engeren Grenzen im Fortgang unseres Lebens, bis wir uns in der Demenz gnädig selbst vergessen dürfen. Doch schnell schleicht sich ein Missverständnis ein, das gerade so versessen darauf macht, im Machtgefüge irgendwann ganz oben zu stehen. Der Kelch und die Taufe als Zeichen für Hingabe und Todesangst sind keine Tauschmittel, sie sind bar jeder Belohnung. Das Reich Gottes lässt sich nicht verdienen, es kennt weder Kompensation noch Äquivalent wie wir in unserer Finanz- und Warenwelt. Denn die Gottesbeziehung ist Gnade - und Gnade ist das, was kommt, ohne geschuldet zu sein. Glaube, Hoffnung, Liebe sind eben kein geldwertes Tauschgeschäft. Der Glaube - ja, er ist Lebensermächtigung. Aber er ist kein Machtverhältnis, in dem im günstigen Fall die jeweiligen Stärken ausbalanciert werden oder im ungünstigen Fall der Stärkere sich im Recht wähnt, nur weil er die Macht hat. Darum hat im Glauben, darum hat im Reich Gottes: im ungeteilten Gottesverhältnis jede Gewalt ihr Recht verloren. Sie rechnet mit Siegern und Besiegten. Sie offenbart die Schwäche derjenigen, die mit Druck und Propaganda ihre Herrschaft sichern wollen. Dagegen entlarvt Jesus, dass die real Herrschenden nur Geltungsansprüche haben, keine wahre Geltung. Ein geradezu subversiver Zug des Evangeliums! Jesus will die Hierarchien des Herrschens ersetzen durch die ›Herrschaft Gottes‹: durch den Verzicht auf alle Herrschsucht und Gewalt. So erkennen wir an Jesu Lebenshingabe: Was aus Glaube, Hoffnung und Liebe kommt, hat die Macht, sein eigener Lohn zu sein!

Darum ist es jetzt weder an der Zeit noch Jesu Aufgabe, irgendwelche Rangplätze zu vergeben: Zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. Bitte denke niemand an Vorherbestimmung! Es ist damit nur gesagt, dass im Blick auf das Reich Gottes keine Voraussagen möglich sind, sondern eine einzige Zusage gilt: Es ist Platz für alle Kleinen, für die also, die die Gnade annehmen als das Ungeschuldete und Nichtkäufliche. Und die kraft dieser Gnade es unterlassen, ihre Macht auszuspielen und Gewalt auszuüben.

Hierin sehe ich die eigentliche Herausforderung dieses Evangeliums: die Herausforderung zu einem Perspektivwechsel, der mit dem Bild „klein statt groß“ nur angedeutet ist. Wie radikal der sein muss, erkenne ich an den Jüngern. In ihrem Neid und Zorn auf Jakobus und Johannes sind sie noch der alten Herrschaftsideologie verhaftet. Sie denken weiterhin in den Hierarchien von Rang und Namen. Also steht ihnen noch bevor zu erkennen, was vom Fundament ihres Glaubens her schon „Sache ist“: »Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.« Da eilt Jesus einmal mehr seiner Kirche weit voraus, wenn er den Perspektivwechsel „klein statt groß“ als vollzogen feststellt. Zugleich ist er ganz bei uns. Denn durch Jesus Christus sind wir allemal schon, was wir noch werden sollen. Er ist jetzt schon unsere Zukunft, weil er mit diesem Perspektivwechsel längst ernst gemacht hat: »Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.«

Meint für viele etwa nur für einige? Es meint Alle. Das griechische Wort „Viele“ (polýs) steht für die Fülle, die unüberbietbar alles umfasst. Ist mit Lösegeld (lýtron) etwa eine Sühneleistung gemeint? Das Opfer- und Sühne-Denken hat hier keinen Platz. Einzig darum geht es, dass Menschen mit dem, was sie haben, eintreten für das, was anderen fehlt. Jesus tut es mit seinem ganzen Leben. Er gibt »sein Leben … als Lösegeld« nicht an Gott, sondern von Gottes Nähe erfüllt für die Menschen. So bestimmt er von Gottes Gegenwelt her die Gegenwart seiner Gemeinde. So ist Jesu Lebenseinsatz Ausdruck seines Glaubens, seiner Hoffnung, seiner Liebe. Das ist wahre Bürgschaft, dort ist echte Stellvertretung, wo jemand sich für jemanden einsetzt, ohne diese Person zu ersetzen. Vom Ersetzen keine Spur! Denn wer an die Stelle des leibeigenen Knechtes tritt, will ja dessen Freiheit, dessen selbstständiges Leben! Vom Ersetzen wirklich keine Spur! Denn wer noch die Geringsten neu in ihre Gotteskindschaft einsetzt, ermächtigt sie damit aufs Neue zum Leben! Darum bedeutet »Diener« und »Knecht aller sein« weder Selbstverkleinerung noch Sklavengeist, sondern in der Begegnung mit anderen Menschen die gemeinsame Ermächtigung zum Leben auszubilden in gegenseitiger Anerkennung und Achtung, auf Augenhöhe, jenseits des bekannten Machtgefälles und der berechnenden Tauschverhältnisse.

Indes: Jesu Lebenshingabe lässt mich eine Liebe erblicken, die mein Fassungsvermögen übersteigt. Auch die Jünger, wie sie Markus schildert, standen fassungslos vor seiner Botschaft, seine Passion werde kein Scheitern sein, das alle Hoffnung zunichte macht, sondern der tiefste Ausdruck seiner liebenden Gemeinschaft mit ihnen, Grund und Kraft der christlichen Gemeinde. Grund und Kraft, die durch jede Bedrängnis hindurchträgt. Indem wir unsere letzten psychischen und sozialen Ressourcen mobilisieren? Nein! Indem wir uns von einer Liebe finden lassen, die sich dem Tod aussetzt, ihm den letzten Stachel nimmt, ihn nicht das letzte Wort Gottes sein lässt! Gleichwohl wage ich kaum nachzusprechen, was mir Jesus mit seinem Weg ans Kreuz sagt: Liebe aus Glaube und Hoffnung ist bereit, den Tod auf sich zu nehmen. 

[3] Liebe Gemeinde, was ich kaum aussprechen kann - viele christliche Märtyrerinnen und Märtyrer haben es so erfahren. Es gibt sie weltweit wieder. Zigtausende. Besonders unter dem Terror der IS-Banden. Menschen, deren Leben früh abgebrochen wurde, waren auch Dietrich Bonhoeffer, Dag Hammarskjöld, Martin Luther King. Diese Vorbilder geben zugleich die Richtung an für die Konsequenzen von Markus 10 Verse 35 bis 45, die persönlichen und die politischen. Denn Markus will zwar kein Christentum, das nach Art der Zeloten gewaltsame Aufstände anzettelt, sondern das gewaltlosen Widerstand bevorzugt. Aber er will auch keinen vergeistigten, nur auf das Innerliche gerichteten Glauben. Ohnehin will der wahre innere Friede den äußeren. Auch darum profiliert Markus die Jesus-Gestalt als kritisches Gegenüber zu den römischen Triumphatoren. Denn Jesu wunderbare Taten, die den Menschen wieder auf die Beine bringen, sind das Gegenmodell zu den herrscherlichen Versuchen, das abhängige Volk durch Brot und Spiele zu besänftigen, damit die eigene Macht erhalten bleibt.

▷ Ohne Macht keine Gesellschaft, kein Staat. Aber nur mit zivilisierter Macht, die durch Wahl verliehen, auf Zeit befristet und öffentlich kontrolliert wird.

▷ Ohne Macht auch keine Kirche. Aber dann keine verschwiegene, sondern eine transparente, kritisierbare Macht. Nach meiner Wahrnehmung sind die Hierarchien in unserer Kirche flach. Das müssen sie auch sein und immer wieder werden. Denn Kirche soll sich nach Jesu Willen von Gesellschaft unterscheiden, ihr kritisches Ferment sein.

▷ Aus staatspolitischen Gründen bin ich gegen einen Laizismus. Denn im Sinne positiver Religionsfreiheit muss der Staat der Religion seiner Bürgerinnen und Bürger Freiräume garantieren. Doch stellen wir uns darauf ein, dass das alte Staatskirchenrecht umgebildet werden wird zu einem Religionsverfassungsrecht, das anderen Religionen denselben Schutz wie uns gewährt. Allerdings, noch als ›Volkskirche in der Minderheit‹ befinden wir uns in einer Ausnahmesituation. Sind wir bereit, Kirche auch ohne jede weitere Absicherung und ohne äußere Machtstützen zu sein? Nirgendwo ist der Kirche verheißen, es werde ihr gut gehen. Verheißen ist ihr nur, sie werde auskommen mit ein paar Nägeln an der Wand, die schon ein Kreuz bilden.

▷ Das Evangelium ist eine soziale Botschaft. Es hat einen subversiven Zug zum Egalitären. Es ist eine Option für die Armen. Es verlangt, den Skandal zu beseitigen, dass zuerst und vor allem die ärmsten Länder die Folgen des Klimawandels tragen. Was kommt auf uns zu? Angesichts unseres Ressourcenverbrauchs stellt sich für uns die Frage anders: Was kommt uns überhaupt noch zu?

▷ Nun spreche ich noch eine Entwicklung an, an der bereits intensiv gearbeitet wird und die unsere bisherigen Denkmuster über den Haufen werfen könnte: Nach Meinung vieler seriöser Wissenschaftler befinden wir uns längst im Erdzeitalter des ›Anthropozän‹. Denn der Mensch wirkt an der Evolution des Lebens selbst mit. Dabei richten sich die Utopien nicht mehr auf politische Befreiung von Macht und Ausbeutung, sondern auf eine Befreiung von den Bindungen der Menschennatur. Die ›Synthetische Biologie‹ schickt sich an, Organismen zu schaffen, die bisher noch unbekannt sind. Die Robotik setzt auf ›Künstliche Intelligenz‹, die sich selbst steuernde und erneuernde Systeme schafft. Die ›Converging Technologies‹ genannte Verbindung von Nano-, Bio- und Informationstechnologie mit den Neurowissenschaften (NBIC) wird zu einer weiteren enormen Lebensverlängerung führen. Der Entwicklungschef von Google, Ray Kurzweil,2 sieht ab dem Jahr 2045 (!) eine neue ›Singularität‹ nahen, in der der Transhumanismus den Humanismus in Richtung auf einen optimierten Menschen überwindet. Einen Menschen mit höherer Intelligenz in gesteigerter Transzendenz, die das Biologische hinter sich lässt, der Unendlichkeit und dem Friedensideal näher kommt. Das explosionsartige Wachstum der Evolution führe zur Befreiung des Denkens und sei ein durch und durch spirituelles Unternehmen, der Sieg des Geistes über die Materie. Wir haben es also mit der Ankündigung und dem Anspruch zu tun, die Menschheit werde in naher Zukunft einen Riesensprung in der technologischen, moralischen und spirituellen Evolution machen. Werden damit Jesu Aussagen zu Macht und Gewalt, die wir heute bedacht haben, überholt sein? Wird das Evangelium endlich einen festen Ort bekommen? Nun, sollte es so kommen, stellen sich dennoch Fragen: Wie kann die dann noch gewaltigere Kluft zwischen Vermögenden und Unvermögenden mit all den internationalen politischen Verwerfungen wieder geschlossen werden? Wie gehen wir mit Konstrukten um, die wir so mit Informationen ausgestattet haben, dass sie menschenähnliche Emotionen haben, für die die Frage nach Tradition und Religion, Herkunft und Glaube aber keine Plausibilität mehr hat? In welcher Schärfe wird sich dann die Frage nach Macht und Gewalt stellen? Wird gerade der Transhumanismus, der mir von Jesu Botschaft ganz weit weg zu sein scheint, eine rigorose Moral benötigen, die aber keine humane mehr ist, weil lückenlose Überwachung und genaueste Befolgung von Regeln an die Stelle von Freiheit tritt? Wenn, wovon Transhumanisten überzeugt sind, Endlichkeit verschwindet und es keine Sünde mehr geben darf, dann wird wohl erst recht gelten: Gnade uns Gott!  

[4] Das Evangelium ist u-topisch. Es ist da, doch es eilt uns voraus. Es sucht Menschen, die ihm nachfolgen. Es schafft sich eine Kirche, die Trost-, Hoffnungs- und Widerstandsgemeinschaft ist. Wollen wir dazu gehören? Wir sind frei, eine neue Welt im Sinne der Reich-Gottes-Botschaft Jesu nicht für so wichtig zu halten, weil wir zu sehr an der alten hängen. Aber nähmen wir dann uns selbst noch ernst, die wir in jeder Nacht auf einen neuen Morgen hoffen? Zu dieser Hoffnung gehört der Blick über uns selbst hinaus. „Nur derjenige hofft existentiell aufrichtig in seinem Leben auf etwas,“ schreibt Holm Tetens, Philosoph an der Berliner Freien Universität, in seinem Buch ›Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie‹, „der so viel wie eben möglich bereits hier und jetzt von dem vorwegzunehmen versucht, was er für die Zukunft endgültig und uneingeschränkt erwartet. Wer hofft, dass Gott nichts und niemanden in der Welt endgültig verloren gegeben hat, der versucht, seinen Mitmenschen genau so jetzt schon zu begegnen.“3 Und das, füge ich hinzu, kann nur geschehen in der Macht der Liebe, mit der Gott uns alle Morgen erweckt. Amen.

 

Anmerkungen:

1 Es sei auf weitere Daten hingewiesen:

· Am 21. März 1685, vor 330 Jahren, wurde Johann Sebastian Bach geboren.

· Am 21. März 1960, vor 75 Jahren, fand das Massaker in Sharpeville/Südafrika statt, bei dem 69 friedlich gegen das Apartheids-Regime demonstrierende schwarze Bürgerinnen und Bürger von der Polizei erschossen wurden. Deshalb wurde der 21. März zum ›Internationalen Tag gegen des Rassismus‹ ausgerufen.

· Genau am 22. März 1903 wurde Jochen Klepper geboren, dessen Lied “Er weckt mich alle Morgen…” (EG 455) ich als Eingangslied empfehle und das im letzten Satz der Predigt anklingen soll.

2 Ray Kurzweil: Menschheit 2.0: Die Singularität naht, Berlin 2014. Siehe auch das Schlusskapitel in Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2013; sowie Jens Jessen: Der neue Mensch, ZEIT ONLINE vom 29.12.2014 (www.zeit.de/2014/52/jahresrückblick-2014>).

3 Holm Tetens: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015. Vgl. Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, 3. Aufl., München 2015.