Liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Schwestern und Brüder,
je länger ich über das kommende Osterfest – diese Predigt wurde natürlich vor Ostern verfasst – und diesen Bibeltext meditiere, desto mehr wird mir ein gravierender Unterschied zwischen uns, die wir diesen Bericht heute lesen und hören, und den drei Frauen deutlich, die die menschlichen Akteuerinnen dieses Berichts sind:
Wir gehen mit unseren Vorkenntnissen und Erwartungen auf Ostern zu. Wir setzen uns vielleicht schon zum 55. Male mehr oder weniger bewusst der Botschaft dieses Festes aus. Das wievielte Osterfest ist es für Sie, das Sie bewusst erleben? Für uns ist die Botschaft des „jungen Mannes“ nicht überraschend sondern das Erwartete: „Aufgestanden ist er / auferstanden ist er; nicht ist er hier!“ Für uns sind der Anfang und das Ende dieser Erzählung überraschend und verwunderlich, ja: verstörend.
Dass am ersten Arbeitstag der Woche – was dann später für uns Christen der arbeitsfreie Sonntag werden wird, war und ist in der jüdischen Kultur zur Zeit Jesu und auch heute der erste Arbeitstag der Woche und war in der damaligen römischen Gesellschaft einer der ununterbrochen aneinander gereihten Arbeitstage, aus deren immer gleicher Abfolge nur religiöse Feste herausragten –, dass am ersten Arbeitstag der Woche schon vor Sonnenaufgang für die Einbalsamierung eines Toten spezifische Spezereien eingekauft werden konnten! Gab es damals keine Ladenöffnungszeiten? Was waren das für eine Kultur und Gesellschaft?
Dass die Aussage, der „Gekreuzigte“ sei nicht da – auf dieser Kennzeichnung liegt Gewicht, dass Jesus aus Nazaret gekreuzigt worden war –, „Zittern und Entsetzen“ hervorruft, eine Angstreaktion auslöst, gerade nicht Freude, Begeisterung und neue Hoffnung!
Für die drei Frauen ist ihr gesellschaftliches Umfeld natürlich selbstverständlich, ohne es zu hinterfragen. Und dazu gehörte damals, dass Tote wohlhabender Bevölkerungsschichten – arme Familien haben ihre Toten einfach in ein Tuch gehüllt, in ein Erdgrab gelegt und über sie Erde geschaufelt – fest in Tücher gewickelt, wobei das Gesicht gesondert abgedeckt wurde, und auf die Liege eines Felsengrabes gelegt wurden, wo sie verwesen konnten, bis dann über ein Jahr später ihre Knochen eingesammelt und in einen extra Knochenkasten, ein ossuarium, gelegt wurden, auf das manchmal der Name der Person eingeritzt wurde, deren Knochen eingelegt worden waren – das ossuarium des Hohenpriesters Kajafas ist archäologisch gesichert! Den ersten Schritt dieses Prozesses wollten die Frauen durchführen. Das war schmerzliche, aber selbstverständliche Realität.
Und es ist für sie – das darf ich so schreiben – selbstverständlich, dass die Aussage, der Gekreuzigte lebe, verstörend, entsetzend ist. Bleiben wir einmal kurz bei dieser Aussage und lassen sie trotz aller „Gewöhnung“ an Ostern an uns heran: Stellen wir uns vor, über eine Person, zu der wir starke emotionale Bindungen hatten und deren Tod wir innerlich zu verarbeiten beginnen, werde gesagt: sie lebe. Aber verbunden mit der Aussage: „Nicht hier.“ Ohne, dass wir sie sehen, sollen wir die Aussage, sie sei nicht mehr tot sondern „aufgestanden“ / „auferstanden“, als hilfreich empfinden. Werden wir eine solche Aussage nicht auch als irritierende, als entsetzlich verstehen?
Und nun kommt noch etwas hinzu: Die Frauen funktionieren im Sinne der ihnen anerzogenen Tradition, aber sie werden zu einer ganz neuen und überraschenden Aktivität aufgefordert: Sie sollen diese alles verändernde Nachricht weitergeben und eine Bewegung, eine Wanderschaft aus der Lethargie der Trauer und der Angst auslösen, die nach „Galiläa“ führen soll, denn dort werde man den Auferstanden „sehen“. Zwar heißt es, dass er sogar „vorangehen“ werde. Aber „sehen“ werde man ihn erst am Ziel, in „Galiläa“.
Ist es da nicht verständlich, dass die Frauen mit „Zittern und Entsetzen“ reagieren? Wo sie nach unserer Stundenzählung erst seit etwa 38 Stunden mit dem Bewusstsein umgehen, dass Jesus tot ist! Könnten wir anders reagieren?
Das also ist das Entscheidende dieses Berichts und das ist zugleich das Entscheidende unseres Osterfestes im Jahr 2015:
Dass wir uns in unserem Glaubensleben, dass wir uns als Gemeinde, dass wir uns als christliche Familie oder christliche Gruppe auf einen Weg stellen lassen, der nach „Galiläa“ führt, auf dem der Auferstandene vorangeht, ohne, dass wir ihn „sehen“, an dessen Ziel aber die Begegnung mit dem Auferstandenen stehen wird. Das Geheimnis von Ostern liegt zwischen einem „ist“ und einem „wird“: „Er ist auferstanden!“ Und: „Dort wird er sich sehen lassen!“
Die Auferstehungsbotschaft gibt es nur als etwas „Gehörtes“: „Er ist auferstanden!“ Da heißt es, sich ganz im Sinne und Verstehen Martin Luthers an Worte zu klammern, Worten zu vertrauen, Worten zu glauben. Ohne jede andere Sicherheit. Gerade – und das ist hier ganz entscheidend – ohne Bild. Zu Ostern gibt es nichts zu „sehen“. Alle Auferstehungsbilder, die sich die Christenheit doch gemalt und entworfen hat, sind – neutestamentlich bewertet - unangemessen und falsch.
Aber am Ziel des Weges, der zu Ostern beginnt, in „Galiläa“, werden wir „sehen“, ihn „sehen“. Das ist mein Wunsch für mich und für Sie!
Wo ist „Galiläa“? Genau genommen weiß ich es nicht. Aber ich hoffe, dass es sich mir nach meinem irdischen Tod öffnen wird. Und vielleicht gibt es schon in der Gemeinschaft der Kirche ahnungsvolle Erlebnisse dieses „Galiläa“. Aber das wird Thema von morgen sein.[1]
Amen.
„Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“