Predigt zu Markus 2, 23-28 von Helmut Liebs
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Predigt zu Markus 2, 23-28 von Helmut Liebs

Hunger hatten sie, schlicht Hunger, liebe Gemeinde. Wieder einmal. Sie waren viel unterwegs, und nicht immer fanden sie ein offenes Haus und eine sättigende Mahlzeit. Und jetzt war einmal mehr so ein Tag, an dem sie von einem Ort zum anderen wanderten, die Jünger gemeinsam mit ihrem Meister Jesus. Genächtigt hatten sie im Freien, leidlich durch Strauchwerk geschützt. Gegessen hatten sie ein paar Brocken Brot, getrunken aus einem Wasserlauf am Weg. Unbewohnt war die Gegend, durch die sie an diesem Tag gewandert waren; bis sie gegen Abend endlich den nächsten Ort vor sich sahen.
Hunger hatten sie, mächtig Hunger. Hunger, von dem sie nicht wussten, ob er durch einen gastfreundlichen Menschen in dem Ort gestillt werden würde. Schon hatten sie – die Jünger gemeinsam mit Jesus – die ersten Häuser des Ortes erreicht. Der Weg führte durch ein Kornfeld, welches – wie in der Gegend üblich – zwischen den Häusern lag. Und einer hat dann damit angefangen, hat die Hände durch die Ähren streifen lassen und dabei ein paar Körner gezupft. Ein paar Körner hier und ein paar Körner da, bis die Hände gut voll waren. Zwischen den Handflächen hat er die Körner zerrieben, damit sich die die strohernen Spelzen lösen, und dann …schmeckte es schlicht gut.
„Können Sie nicht lesen?! Einfahrt freihalten. Tag und Nacht. Zuwiderhandelnde werden kostenpflichtig abgeschleppt.“ – „Ich bitte um Verzeihung, aber ich muss hier kurz halten, um meine Mutter vom Arzt abzuholen.“ – „Gilt nicht. Ich muss jederzeit, ich betone j e d e r z e i t, raus- und reinfahren können. Keine Ausnahmen. Auch nicht für Sie!“
Unterdessen hatte nicht nur der eine Jünger mit einigen Handvoll zerriebener Körner einigermaßen seinen Hunger gestillt. Das Kornfeld war groß, und die Ähren trugen reichlich, und ein Jünger nach dem anderen griff zu. Sie waren selig, am Ende eines langen Tages endlich essen zu können. Wenig zwar, aber immerhin. Immerhin das. Und einen Schluck Wasser würden sie auch noch irgendwo finden. Offen hingegen war die Frage des Nachtlagers. Aber an solche Unwägbarkeiten hatten sie sich schon gewöhnt. „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel haben Nester, aber der Menschensohn“ – so bezeichnete Jesus sich selbst – , „er hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlege.“ Das hatten sie von ihrem Herrn und Meister gelernt. Und auch hatten sie gelernt, dass der himmlische Vater noch stets für sie gesorgt hatte. Wenn auch auf manchmal nicht besonders bequeme oder reichliche Weise.
„Das Betreten der Grünflächen ist streng verboten. Das gilt auch für Ihre Kinder!“ – „Aber das ist doch ein öffentlicher Park. Und die Kinder spielen nur ein bisschen Fangen. Gönnen Sie doch das Vergnügen.“ – „Was glauben Sie, warum das verboten ist? Wenn alle Kinder, die hier unterwegs sind, die Wiese zertrampeln, kostet es mein und Ihr Steuergeld, die Wiese wieder zu richten. Also rufen Sie Ihre Kinder zurück!“
Liebe Gemeinde, wie halten Sie es mit Verboten? Halten Sie sich an Verbote? An alle? An manche? An welche gerne, an welche ungerne, an welche überhaupt nicht? Es kommt drauf an, nicht wahr? Eine generelle Haltung zu Verboten ist schwierig zu formulieren. Es kommt drauf an, wer die Verbote ausspricht beziehungsweise in wessen Namen, Auftrag, Legitimation sie ausgesprochen werden. Meistens ja in schriftlicher Form. Beispielsweise am Zaun einer Baustelle: Betreten verboten. Da der Baugrund jemandes Eigentum ist, ist klar, dass man – bei Übertretung im wahrsten Sinne des Wortes – sich auf fremdes Eigentum begibt. Das tut man üblicherweise nicht. Aus Respekt. Weil man umgekehrt will, das eigenes Eigentum ebenfalls respektiert wird.
Aber in der Not? Wenn es eine tatsächliche Not ist? Wenn ein Verbot zwar gut gemeint, aber nicht gut gemacht ist – darf man es dann übertreten? Letztlich kommt es auf den Sinn an. Es ist zweifelsohne sinnvoll, an einer Verkehrsampel nicht bei Rot über die Kreuzung zu fahren. Aber in der Not, wenn etwa eine hochschwangere Frau wegen Vergiftungsgefahr für das ungeborene Kind dringendst ins Krankenhaus gefahren werden muss. Dann ist das Rot-Verbot zwar immer noch generell sinnvoll, aber die Übertretung rettet möglicherweise Leben. Die Übertretung wäre wirklich not-wendig, weil not-wendend.
Im 5. Buch Mose der Bibel gibt es ein Kapitel, das trägt die Überschrift „Gebote für das Leben des Volkes“. Und in dem Kapitel sind unter anderem folgende Sätze zu lesen: „Wenn du in deines Nächsten Weinberg gehst, so darfst du Trauben essen nach deinem Wunsch, bis du satt bist, aber du sollst nichts in dein Gefäß tun. Und wenn du in das Kornfeld deines Nächsten gehst, so darfst du mit der Hand Ähren abrupfen, aber mit der Sichel sollst du nicht dreinfahren.“ „…darfst Trauben essen, bis du satt bist, aber nichts in dein Gefäß tun; darfst mit der Hand Ähren abrupfen, aber nicht mit der Sichel.“
Behalten Sie diese Gebote fürs Leben, die also kein Verbote sind, sondern eingeschränkte Erlaubnis, für einen Moment im Gedächtnis. Und hören Sie zudem nochmals (wie in der Schriftlesung gehört) das Sabbatgebot aus den Zehn Geboten: „Den Sabbattag sollst du halten, dass du ihn heiligst, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun. Denn du sollst daran denken, dass du Knecht in Ägyptenland warst und der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat. Darum hat dir der Herr, dein Gott geboten, dass du den Sabbattag halten sollst.“
Und nun hören Sie die Geschichte von den ährenpflückenden Jüngern im Wortlaut, wie im Markusevangelium, Kapitel 2, aufgeschrieben: …[folgt Bibeltext] …
Wer hätte das gedacht? Was aus Hunger mit ein paar harmlos scheinenden Griffen ins Kornfeld begann, wuchs sich zu einem Streitgespräch zwischen Jesus und einigen Pharisäern aus. Pharisäer waren eine theologisch und lebenspraktisch besondere Gruppe innerhalb der jüdischen Gemeinde. Eine Gruppe, die sich besonders genau an Gottes Gebote hielt, weil sie mittels der Einhaltung der Gebote hoffte, dass sich die allumfassende Gottesherrschaft einstellen würde. „Wenn Israel nur zweimal den Sabbat wie vorgeschrieben hält, bricht die Erlösung an“; so lautete eine sprichwörtliche Redewendung. Um dieser Erlösung willen achteten die Phärisäer nicht nur innerhalb ihrer Gruppe auf die Einhaltung der Gebote, sondern bemühten sich auch, die weitere Bevölkerung dazu anzuleiten.
Von daher ist es verständlich, dass sie mindestens erschrocken, wenn nicht gar entsetzt waren, dass die Jünger am Sabbat Ähren aus dem Feld pflückten. Nach ihrer Vorstellung handelte es sich dabei um eine am Sabbat nicht erlaubte Arbeit. Arbeit, weil das Rupfen der Körner die logische Vorbereitung für das Weiterverarbeiten zu Mehl und dann Backen von Brot darstellt. Mithin: Übertretung von Gottes Gebot. In der Konsequenz: Einmal mehr die Verunmöglichung der ausstehenden Gottesherrschaft. So dachten sie, so argumentierten sie; nicht wissend, dass nach Jesu Verständnis die Gottesherrschaft bereits begonnen hat.
Alles nur ein Missverständnis? Dessen Aufklärung einfach wäre. Denn sie haben ja nur für den sofortigen Verzehr gepflückt, also das Gebot nicht übertreten. Unnötiger Streit um Spitzfindigkeiten?
Jesus bemüht sich. Er zieht die Heilige Schrift heran und erinnert, dass kein Geringerer als König David einst, vom Priester ermächtigt, in der Not an einem Sabbat von den heiligen Tempelbroten nahm, nämlich um seinen und seiner Leute Hunger zu stillen. Jesus sagt zum Zweiten, dass der Sabbat von Gott um der Menschen willen eingesetzt wurde. Was am Sabbat getan oder unterlassen wird, soll dem Menschen wohl tun. Wenn aber dem Menschen nicht wohl ist, dann steht das Tun, welches dem Guten dient, über dem Lassen, welches das Ungute aufrecht hält. Auch dann, wenn das Tun womöglich gegen die Sabbatruhe verstößt. Und schließlich reklamiert er für diese seine Haltung, dass er in Gottes Auftrag und mit Gottes Vollmacht die Autorität hat, zu unterscheiden, zu unterscheiden, was den Sabbat heiligt und was ihn entheiligt. Und da der Sabbat eben kein Tag des Darbens, sondern ein Tag des Lebens sein soll, war das Tun der Jünger in der Not des Hungerns statthaft.
Ach, es wäre ein Leichtes, sich auf die Seite Jesu zu stellen und die starre Prinzipientreue der Pharisäer zu kritisieren und zugleich für eine situationsgerechte Praxis zu plädieren. Aber die Pharisäer hielten ja nicht um der Prinzipien willen sich streng an Gottes Gebote und bemühten sich, andere dasselbe zu lehren. Sie taten es ja um des tieferen Sinnes der Prinzipien willen. Der siebte Tag der Woche als Tag Gottes ist qualifiziert durch das Unterlassen von Arbeit. Stattdessen sollen sein: Rast und Ruhe, Freiheit und Friede, Fülle und Fest. Der Sabbat beziehungsweise der christliche Sonntag – und womöglich auch der muslimische Freitag – ist ein Bild, ein Vor-bild, ein Vorschein der künftig allumfassend heilen und heiligen Welt. Und deshalb darf es doch nicht anders sein, als dass Juden und Christen – womöglich auch Moslems – sich der Heiligkeit des Tages entsprechend verhalten.
Das hebräische Wort „Sabbat“ ist abgeleitet von dem gleichlautenden Verb „sabbat“, und das heißt „aufhören“. Müssten wir nicht tatsächlich anfangen aufhören? Aufhören, mit unseren schulpflichtigen Kindern am Sonntag die Hausaufgaben für Montag zu machen? Aufhören, am Sonntagabend die beruflichen Mails zu checken? Aufhören, Hemden zu bügeln, Kellerregale zu zimmern, Bäume zu schneiden und und und. Müssten wir nicht anfangen, damit aufzuhören: sonntags?
Doch nein, ich bin schon wieder prinzipiell. Bloß, weil Sonntag ist, heißt das ja nicht, dass Hausaufgabenmachen, Mailschecken, Bügeln, Regalbau und Baumschnitt als Mühe, Last und Arbeit empfunden werden. Aber sie haben die Tendenz dazu. Denn es sind genau die Tätigkeiten, die wir auch werktags als Arbeit verrichten. Und wenn wir werktägliche Arbeit auch am Sonntag tun, dann steht der Ruhetag in Gefahr, schleichend zum Werktag zu werden.
Deshalb: Aufhören. Aufhören mit allem, was die heilige, weil heilende Zeit des siebten Tages stört und deshalb womöglich zerstört. Aufhören aber auch mit allem, was Anlass zu Not, Elend, Sorgen, Ängsten, Stress oder – wie bei den Jüngern – zu Hunger gibt.
Lasst uns aber darauf nicht nur am Sonntag achten, sondern auch im Alltag. Heilsame Unterbrechungen können wir auch im Alltag setzen: der kleine Spaziergang in der Mittagspause, der Blick weg vom Bildschirm in den Himmel, ein Gang zum Bücherregal, um ein paar Minuten ein Gedicht zu lesen, das Trinken einer Tasse Tee ohne zugleich aufs Smartphone zu schauen … und manches mehr.
Dorothee Sölle, 1929 geboren, 2003 gestorben, Theologin und Sprachwissenschaftlerin, Mystikerin und Schriftstellerin, hat ein so genanntes „3. Gebot“ gedichtet. Es lautet: Du sollst dich selbst unterbrechen! Das Gedicht geht so:
Du sollst dich selbst unterbrechen.
Zwischen
  Arbeiten und Konsumieren
  soll Stille sein
  und Freude.
Zwischen Aufräumen und Vorbereiten
  sollst du es in dir singen hören,
  Gottes altes Lied von den sechs Tagen
  und dem einen, der anders ist.
Zwischen
  Wegschaffen und Vorplanen
  sollst du dich erinnern
  an diesen Morgen
  deinen und aller Anfang
  als die Sonne aufging
  ohne Zweck
  und du nicht berechnet wurdest
in der Zeit, die niemandem gehört
  außer dem Ewigen.
Liebe Gemeinde,
mit der Unterbrechung durch den einen Tag, der anders ist, will Gott uns frei machen. So frei machen, wie er einst das Volk Israel aus der Knechtsarbeit in Ägypten befreit hat. Es tut uns gut, uns regelmäßig befreien zu lassen. Es tut uns gut, wenn wir immer wieder anfangen aufzuhören.
Wir rasten und werden ruhig.
  Wir nehmen uns Freiheit und stiften Frieden.
  Wir erleben Fülle und feiern sie als Fest.
  Und nicht zuletzt: Wenn wir aufhören, fängt Gott mit uns an.
  Natürlich nicht nur dann, aber dann besonders gerne.
  Denn es ist sein Tag – uns zum Segen geschenkt.
Amen.