Predigt zu Markus 3, 31-35 von Ulrich Kappes
3,31
Unsere Erzählung führt uns in den Hof eines Hauses im alten Israel. Jesus steht in der Mitte. Er ist von einer Menschenmenge umringt. Auf der Straße vor dem Haus stehen seine Mutter und seine Brüder.
Wenige Verse zuvor wird von einem dramatischen Konflikt zwischen Jesus und seiner Familie berichtet. Sie wollte sich seiner geradezu handgreiflich bemächtigen und verhindern, dass weitere Wunder geschehen und er das Predigen fortsetzt. Ihre Meinung über den abgefallenen Sohn drückten sie in den Worten: „Er ist von Sinnen“ aus.[1]
Hier, in dieser Erzählung, ist davon mit keinem Wort mehr die Rede. Seine Mutter und seine Brüder kommen, um ihn aufzusuchen. Wir erfahren nichts über ihr Motiv. Man könnte spekulieren und sagen, dass sie sich vielleicht nach dem Vorgefallenen mit Sohn und Bruder treffen wollen, vielleicht – alles ist Vermutung – eine Art Versöhnung anstreben. Genaues aber wissen wir nicht.
Markus zieht einen Kreis um Jesus, bestehend aus seinen Hörern. Dieser Kreis ist geschlossen. Er zieht einen weiteren Kreis um Jesu Familie. Dieser Kreis ist auch geschlossen. Die Familie ist „draußen“. Die da „draußen“ sind, schicken einen Boten zu ihm, und bitten ihn zu sich.
Nach dem 4. Gebot und seiner rabbinischen Auslegung hatte Jesus dem Ruf seiner Mutter zu gehorchen. Die ihn umgebenden Menschen im inneren Kreis unterstreichen das wie ein Chor im antiken Theater: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder suchen dich.“
Der „Chor“ will vermitteln: ‚ Da draußen stehen deine Mutter und deine Brüder. Willst du dich nicht zu ihnen gehen, wo sie nun einmal hierher kamen? Was gibt es wichtigeres nach unserer Thora als die Familie? Du predigst hier zu uns, aber nach der Thora lebst du nicht.’
Die Antwort Jesu, wir erinnern uns, erfolgt mit den Worten: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder?“ Und Markus berichtet, dass von Jesus auf diese Frage als Fortsetzung gesagt wird: „Und er sah auf die, die um ihn im Kreise saßen und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, siehe, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Der  jüdische Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin stellt dazu fest, dass Jesus mit der Abweisung seiner Familie ‚den starken Familiensinn der Juden förmlich beleidigt’.[2]
Geht es uns anders? Viele von uns haben einen Sohn oder eine Tochter. Wie würden sie sich verhalten, wenn Sohn oder Tochter in aller Öffentlichkeit erklärten, dass ihre Familie die Gruppe sei, die sie umgibt, nicht aber ihre leiblichen Eltern und Geschwister?
Eltern leben für ihre Kinder. Das ist für viele das wichtigste im Leben überhaupt. Ihre Hoffnung ist, dass die besondere Beziehung zum Kind bis ins Alter erhalten bleibt. Mit welcher Verzweiflung würden sie reagieren, wenn sich ihr Kind wie Jesus verhielte: ‚Das da ist nicht meine Mutter. Das ist nicht meine Schwester. Das ist nicht mein Bruder. Es ist, sagen wir, meine Herkunftsfamilie. Die Familie, in der ich jetzt lebe, ist meine wahre Familie.’
Wir fragen betroffen, wie wir das verstehen sollen. Fest zu stellen ist, dass es sich bei der vernommenen Lesung nicht  um eine Art Sonderüberlieferung des Markus handelt, uns also nicht ein Einzelstück, ein bizarres und ausgefallenes Stück im Neuen Testament vorliegt. Nein, Matthäus und Lukas überliefern nahezu wortwörtlich die gleiche Jesusrede.
Gehen wir noch einen Schritt weiter, so lesen wir im Neuen Testament, dass die Thematik „Familie und Familienbindung“ von Jesus weiter in Blick auf seine Jüngerinnen und Jünger entfaltet wird. Im Matthäusevangelium (10,37) ist zu lesen: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ Gesteigert wird diese Aussage bei Lukas (14,25): „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, der kann nicht mein Jünger sein.“ 
Ist es uns möglich einen Zugang zu diesen Worten zu finden?  Können wir uns vorstellen, dass uns dieses Evangelium etwas sagt und wir es annehmen?  Es ist ein so ganz anderer Jesus, der hier vor unseren Augen steht, als wir ihn kennen und lieben. Er hat eine  harte und einseitige Sicht auf das, was uns lieb und wert ist.
Wie finden wir ein Verhältnis zu diesen Worten?
Wir können spontan sagen, dass Jesus für uns mit seiner Abwertung der natürlichen Familienbande  nicht akzeptabel ist. Da das Evangelium, das er lehrt und der Menschheit bringt, immer „verstanden“ sein will, ist es zugestanden, zu sagen, wir verstehen es nicht und lehnen darum diese Form des Umgangs mit Familie ab. Die „Akte Jesu“ enthält viele wichtige und gute Texte. Dieser Teil aber seiner Akte ist für uns geschlossen.
Das wäre eine nahe liegende Reaktion.
Warum ist dieser Text dann aber, so muss man fragen, Bestandteil der offiziellen Predigttexte und  seit Jahrzehnten dem heutigen Sonntag zugeordnet?[3] Was haben sich die Väter und Mütter der Liturgischen Konferenz dabei gedacht, dass sie auch bei der letzten Neuordnung der Predigttexte diese Worte nicht aus dem Predigtplan nahmen?
Man kann sich der Dramatik unserer Worte entziehen. Wir wollen das nicht tun.
Ich denke, diese Jesusworte können nur im Zusammenhang mit den anderen Worten, die er über die Stellung seiner Jüngerinnen und Jünger zur Familie sagte, ausgelegt werden. Dabei werden wir sozusagen als einen ersten Extrakt, uns der Forderung zu stellen haben, dass es im Leben der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu eine Reihenfolge gibt. Sie lautet: Erst kommt Jesus, dann die Familie. Wir werden das so sagen müssen, wollen wir die Worte des Herrn nicht verbiegen und verharmlosen.
Das, was Gott, unverständlich genug für viele von uns, einst von Abraham forderte, nämlich Gott mehr zu lieben als sein eigenes Kind, überträgt Jesus auf sich: Bist du meine Jüngerin oder mein Jünger, so lass mich das erste und wichtigste in deinem Leben sein.
Wir wollen festhalten, dass es sich bei dieser Lebenseinstellung nicht um ein jederzeit abrufbares Verhalten handelt. Gelingt es uns hier und dort, IHN das erste und wichtigste in unserem Leben sein zu lassen, so kann diese Haltung  nur eine Frucht des Gebetes sein.
Welche Kennzeichen haben Menschen, die zu der unsichtbaren Familie des Herrn gehören?
Der Text selbst gibt zwei Antworten. Zum einen streckt Jesus seinen Arm aus und zeigt  auf die, die um ihn herum wie in einem geschlossenen Kreis sitzen oder stehen.
Seine Familie besteht aus solchen, die auf Ihn hören.
Und er fügt dann zweitens dazu: „Meine Familie sind die, die den Willen des Vaters im Himmel tun.“  Zu Jesu Familie zu gehören, ist für andere, für „die draußen“ daran erkennbar, dass Menschen nach dem Willen Gottes suchen und dann nach diesem Willen leben.
Wir fragen, ob dieses „nach dem Willen Gottes fragen und ihn tun“  allein für die Jesus – Familie gilt.  Ein Ausleger weist darauf hin, dass dieses Wort unseres Herrn eine jüdische Forderung wiedergebe, wonach „nur der ein Jude heißt, der den Willen Gottes erkennt und erfüllt.“[4] Dürfte das nicht auch für den Islam gelten, dass ein wahrer Moslem allein derjenige ist, der sich unter den Willen Allahs beuge, ihn suche und in seinem Leben zu verwirklichen bemüht ist?
Was macht den Unterschied?
Ich denke, dass es für Christinnen und Christen prägend ist, dass sie in der Beugung unter Gottes Willen auf den schauen, der für sie im Mittelpunkt ihres Lebens steht.[5]
Wie erkennen wir den Willen Gottes in unserem Leben?
Wir erkennen ihn und sehen ihn, so denke ich, in der Bindung an Jesus. Wir haben ihn in der Mitte unseres Lebens, wir haben ihn an unserer Seite, wir haben ihn, der uns trägt, wenn die Füße keine Kraft haben, der Spur des Gotteswillens zu folgen. Es gibt Ihn für uns und mit Ihm und durch Ihn streben wir einen Weg an, nach dem Willen des Vaters zu leben. In der Gemeinschaft mit Ihm werden uns die Augen dafür geöffnet, was Gottes konkreter Wille über uns ist.
Der Aufruf unseres Herrn, die Worte und Meinungen, den  Anspruch und die Fürsorge der leiblichen Familie an die zweite Stelle zu rücken, sollte schließlich, so meine ich, über den Kreis der biologischen Familie ausgeweitet werden. Die „Familie“, die uns leiten und dirigieren will, die uns eine bestimmte Norm aufzwängt, ist ja nicht allein unsere leibliche Familie. Familie als eine Instanz, die uns Normen vorschreibt und Regulativ sein will, kann „die Familie“ einer Schulklasse, einer Studiengruppe, eines Vereins, einer Firma, einer Partei und was auch immer sein. Auch die „Familie“ einer christlichen Gemeinde, zu der wir uns halten, kann eine Art Normgeber und Lenker unseres Verhaltens sei, ob wir es wollen oder nicht. Wir denken und argumentieren wie diese „Familie“ und merken nur bisweilen, welche Fesseln so eine „Familie“ um einen gelegt hat. Wir sind nicht selten gefangen in der Gruppe einer Klasse, einer Studiengruppe, einer Firma, auch einer Gemeinde vor Ort. Den Willen Gottes zu tun, kann explizit heißen, nicht zu tun, was die Klasse und der Verein, die Gemeinde und die Nachbarschaft von uns erwarten und verlangen.
Es ist zu fragen, ob ich der Tyrannei der „Familie“ einer Schulklasse, eines Vereins, einer Firma mit ihren inneren Verflechtungen, einer Gemeinde, wo bestimmte Leute immer alles entscheiden, ich aber gar nichts sage, ob ich also dem Diktat einer solchen „Familie“ widerstehen kann ohne dass ich Jesus an meiner Seite weiß und er für mich stärker ist als die mich beherrschende „Familie“.
Einer, der vor 400 Jahren in beispielhafter Weise mehrfach mit dem Bann und Diktat seiner „Familie“ in biologischer Sicht und im übertragenen Sinn brach, um den „Willen des Vaters im Himmel zu tun“, war Friedrich Spee.[6] Manche wissen vielleicht, dass mehrere unserer Kirchenlieder, wie zum Beispiel „O Heiland reiß die Himmel auf“ oder „Zu Bethlehem geboren“, in unserem Gesangbuch aus seiner Feder stammen.
Der Lyriker, Theologe und, wenn ich so sagen darf, Mann des Widerstandes seiner Zeit Friedrich Spee entschied sich  gegen den Willen seiner wohlhabenden Eltern in den Jesuitenorden einzutreten. 1929 erhielt er eine Professur für Moraltheologie in Paderborn, die ihm der Orden aber nach einiger Zeit wieder entzog, weil seine Anschauungen nicht dem Kanon der rechtgläubigen ‚Ordensfamilie’ entsprach.
Was war geschehen? Er hatte sogenannte Hexen, Frauen, die der Hexerei beschuldigt wurden, auf ihrem Weg zur Hinrichtung begleitet. Am Westerntor in Paderborn, dort wo der Richtplatz stand, fragte er eine Frau nach ihrer Schuld. Unter Tränen sagte sie nach tagelanger Folter zu ihm, sie wisse es nicht. Vor seinen Augen stand eine Frau, die die Obersten der „Familie“ Kirche gefolgert und dann zum Tode verurteilt hatten. Die ganze „Familie“ der Kirche fand nichts daran. Alle standen im Bann dieses Brauches der „Familie“ Kirche, die Landesfürsten, die die Exekution durchführen ließen, ebenso wie das sogenannte einfache Volk.
Friedrich Spee wagte es, dagegen aufzustehen und schrieb unter falschem Namen ein Buch gegen Hexenprozesse und Hexenverbrennung: „Cautio criminalis“, zu deutsch: „Vorsicht, Verbrechen“. Hier stehen so unglaubliche Sätze wie diese, wonach die Christenverfolgung unter Nero mit der Verfolgung unschuldiger Frauen verglichen wird und die Folter kein Mittel zur Wahrheitsfindung sei. Die „Ordensfamilie“ ermittelte bald den Verfasser dieser Worte und versetzte Spee als Beichtvater für Gefängnisse und Krankenhäuser nach Trier. 1635 starb er  an der Pest, weil er sich wiederum der allgemein gültigen Vorsichtsregel entzog und pestkranke Soldaten seelsorgerlich in Trier begleitete.
Was heißt es mit Jesus zu gehen? Friedrich Spee würde antworten: ‚Die Freiheit zu finden, die Freiheit gegenüber dem Bann jeglicher Form von Familie.’ Was heißt es noch? Nach seinem Tod wurde ein Büchlein über Glaube und praktisches Christentum, das sogenannte „Güldene Tugendbuch“ veröffentlicht, von dem Gottfried Wilhelm von Leibniz sagte, er wünsche sich dieses Kleinod aus Glaubensfreude und christlicher Klarheit in die Hände aller Christen.
Wie frei und wie froh ein Mensch sein kann, der dem Willen Gottes folgt, spiegelt sich schließlich in seiner Gedichtsammlung: „Trutznachtigall“, ‚trotzige Nachtigall’. Inmitten dramatischer Verstoßungen, die ihn  bevormunden wollten und es nicht schafften, ihn vom Tun des Willens Gottes abzuhalten, verfasst er lyrische Gedichte über die Schönheit der Erde, des Christusglaubens und unseres Lebens.
So hart und unerbittlich es in unseren Ohren auch klingt, Jesus den wahren Herrn einer geistlichen Familie vor einer leiblichen Familie sein zu lassen, so stark und froh kann dieser Glaube Menschen machen. Er beflügelt, mit  Gedichten und Gesängen das Leben zu preisen.

  
  
    [1] Mk 3,20. Paul Tillich, Das Neue Sein, Stuttgart 1959, Wer sind meine Mutter und Brüder?, 103 – 106 und  Kanzelreden, hrsg. v. Christoph Dinkel, Stuttgart 2010, Christoph Dinkel, Homestory, 335 – 340 sehen einen unmittelbaren Zusammenhang der vorliegenden Perikope zu Mk3,20. Ich sehe es anders. Vgl. auch Rudolf Pesch, Das Markusevangelium, Erster Teil, Freiburg, Basel, Wien 1976, S. 222 zu unserer Perikope: „Die vorausgesetzte Situation ist eine ganz andere als in V. 21; Jesu Familie kommt nicht, um sich seiner zu bemächtigen, sondern wie um ihn zu besuchen.
  
  
    [2] Schalom Ben – Chorin, Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht, München 1987, S.99 – zitiert nach Eugen Drewermann, Das Markusevangelium, Erster Teil, Olten und Freiburg im Breisgau, S.321, Anm. 14.
  
  
    [3] Meine eigenen Unterlagen über die Perikopenpläne sagen aus, dass seit dem Beschluss des Rates der EKD über die Perikopenordnung  (OPT) von 1957 sowie der revidierten Fassung von 1977(OLP) dieser Text als Predigttext dem 13. Sonntag nach Trin. zugeordnet wurde. W. Stählin, Predigthilfen, Kassel 1959 zieht seinerseits die Adventszeit vor. (S. 174)
  
  
    [4] Ernst Lohmeyer, Das Evangelium nach Markus, Göttingen 1951, S. 81.
  
  
    [5] Ich folge Ernst Lohmeyer, a.a.O., S. 81: „Nicht mehr oder nicht mehr allein durch die Vermittlung des Volkes findet der Täter  göttlichen Willens die Gemeinschaft mit Gott, sondern durch den Einen Mittler Jesus; wer mit ihm verbunden ist, ist auch mit Gott verbunden.“
  
  
    [6] Die Zuordnung der Lebensbiographie von Friedrich Spee zu unserer Perikope hat ihren Ursprung bei Eugen Drewermann, a.a.O., S. 319 ff. Als Quellen zu Friedrich Spee dienten darüber hinaus Hellmut Zschoch, Spee von Langenfeld, RGG 4, Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 1548 und Sp. 1549 sowie Friedrich Spee aus Wikepedia, der freien Enzyklopädie.
Perikope
18.09.2011
3,31