Predigt zu Markus 7, 31-37 von Hans-Hermann Jantzen
7, 31-37

Predigt zu Markus 7, 31-37 von Hans-Hermann Jantzen

Und als Jesus wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte.

Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege.

Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephata!, das heißt: Tu dich auf!

Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.

Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus.

Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

(Mk. 7, 31-37)

Liebe Gemeinde,

manchmal verwischen sich unsere Wahrnehmungen. Orte und Worte gehen ineinander über. So geht es mir mit dem Schlüsselwort unserer Predigtgeschichte: „Hephata!“ Viele Häuser der Diakonie tragen diesen merkwürdigen Namen. Ursprünglich ist das jedoch kein Ort, sondern ein Wort. Wir haben es eben im Evangelium gehört: Jesus spricht dieses Wort aus, mit einem tiefen Seufzer und einem inständigen Blick zum Himmel, als er dem Taubstummen im wahrsten Sinn des Wortes „in den Ohren liegt“. „Hephata: Tu dich auf!“ Ein Wort; ja mehr als das: ein vollmächtiger Befehl an die Mächte, die diesem geplagten Menschen die Ohren verstopfen und die Zunge fesseln.

Wir wissen das: Wer von Geburt an nichts hören kann, lernt auch nicht sprechen. Der hat keinen Anteil an der menschlichsten aller Kommunikationsformen, an der Sprache. Auch unter uns leben viele gehörlose Mitmenschen. Wir versuchen, ihnen in unserer Kirche Heimat zu geben, indem wir Seelsorger in der Gebärdensprache ausbilden. Auf dem Kirchentag in Stuttgart im letzten Juni habe ich wieder sehr eindrücklich erlebt, wie bei Vorträgen und Gottesdiensten ein Dolmetscher oder eine Dolmetscherin die gesprochenen Worte zeitgleich in Gebärden übersetzte. Man konnte der Gruppe der Gehörlosen anmerken, dass sie sich dadurch in die Gemeinde hineingenommen fühlten.

Hephata! Für viele Menschen ist dieses öffnende Wort zum Ort geworden, zu einem Ort, an dem sie erfahren dürfen: trotz unserer Behinderung sind wir geliebt und angenommen! Auch mit unserer Einschränkung haben wir Anteil am Leben, an dem Leben, das Gott uns zugedacht hat.

Hephata: kein Ort, sondern ein Wort. Und dabei beginnt die aufregende Episode im Markusevangelium mit einer ganzen Reihe von Orten: Jesus kommt von Tyrus, im heutigen Libanon am Mittelmeer gelegen, und zieht über Sidon, noch weiter nördlich an der Küste, vorbei am See Genezareth in das Gebiet der sog. Zehn Städte (Dekapolis) östlich des Jordan im heutigen Syrien (V. 31). Eine etwas unsinnige Reiseroute, die, wenn Sie sie auf der Landkarte nachzeichnen, eine merkwürdige Zickzacklinie ergibt. Das wäre so, als würden wir sagen: Und als Jesus fortging aus Ostfriesland, kam er über Cuxhaven an die Müritz und weiter in die Lüneburger Heide. Markus hatte offenbar keine besonders gute Ortskenntnis. Aber es kam ihm auch gar nicht auf geografische Genauigkeit an. Seine Botschaft ist eine andere: das Evangelium, das öffnende, befreiende Wort von der Liebe Gottes hängt nicht im luftleeren Raum. Es ereignet sich immer „vor Ort“. Es braucht einen konkreten Ort, um auf Erden anzukommen und erfahrbar zu werden.

Eine pikante kleine Beobachtung am Rande: Die Gegend um Tyrus und Sidon galt genau wie die Dekapolis zurzeit Jesu als heidnisches Gebiet. Die Menschen dort waren dem Glauben gegenüber nicht besonders aufgeschlossen. Gerade hier will sich das Wort ereignen und beheimaten. Manchmal kommt eben auch der Glaube zu den Menschen und nicht nur Menschen zum Glauben.

Vom Ort zum Wort. So könnten wir den Weg bezeichnen, den Markus in dieser Geschichte mit uns geht. Vom Ort zum Wort; von der feindseligen, ablehnenden Gegend zur heilsamen Mitte. Von der „fremden Heimat Kirche“ zum öffnenden Wort Gottes. Mensch geworden in Jesus von Nazareth.

Der nächste Schritt auf diesem Weg zieht den Kreis enger und nimmt einen einzelnen konkreten Menschen in den Blick. Wenn es um den Glauben geht, geht es immer auch um den einzelnen, nicht nur um eine gesellschaftliche Atmosphäre, um eine kirchenfeindliche oder kirchenfreundliche Haltung. (V. 32.33a: Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war… Und er nahm ihn aus der Menge beiseite.)

Der Taubstumme lebt in seiner eigenen verschlossenen Welt. Er ist darauf angewiesen, dass sich das Wort zu ihm auf den Weg macht, damit sich in seinem Leben etwas öffnen kann. Er braucht wohlmeinende Menschen, die ihn auf diesem Weg an die Hand nehmen.

Was jetzt folgt, ist höchst dramatisch. In dem Geschehen zwischen Jesus und dem Taubstummen geht es hart zur Sache. Kein sanftes therapeutisches Handeln, wie es die Leute offenbar von anderen charismatischen Wunderheilern kannten und nun auch von Jesus erwarteten: „Sie baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege“. Es ist vielmehr ein regelrechter Kampf; ein Ringen mit den Mächten, die einen Menschen quälen und kaputt machen können; die ihn hör- und sprachunfähig machen. Nicht durch Energiefluss, nicht durch die Übertragung geistiger Kräfte mittels Handauflegung dringt Jesus in die Welt des Kranken vor, sondern mit großer Kraftanstrengung. Der heilende Messias bei Markus ist „ein schwer atmender ärztlicher Handwerker“ (Johanna Haberer in: GPM 2015, S. 391). Luthers deutsche Übersetzung: „Er legte ihm die Finger in die Ohren“ ist eigentlich zu harmlos. Wörtlich muss es heißen: „Er stieß ihm die Finger in die Ohren“. Fast gewaltsam durchbricht Jesus die Barrieren, die den Zugang des Wortes in die geschlossene Welt des Taubstummen bisher verhinderten. Jesus spuckt in die Hände und berührt auch die Zunge des Kranken. Vermutlich ist die deutsche Übersetzung auch hier zu sanft. Eine ganze Reihe von alten Handschriften bezeugt die drastischere Lesart: Jesus „spuckte aus“ – angewidert von den lebenszerstörenden Mächten. Ich glaube, dies ist die sinnlichste Heilungsgeschichte im ganzen Neuen Testament.

„Und er sah zum Himmel auf und seufzte...“ Jesus handelt als Bittender. Seine Vollmacht ist eine von Gott im Gebet empfangene Macht. Was jetzt geschehen wird, hat mit Gott zu tun. Es geht nicht nur um körperliche Hilfe. Auch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch soll neu werden. Das heilende Wort kann nur zum Menschen kommen, wenn seine Verbindung zu Gott wieder hergestellt wird. Heilung und Heil gehören zusammen.

Mit einem modernen Begriff bezeichnen wir das heute als „ganzheitliche Hilfe“. Vor allem in der Diakonie betonen wir das gern. Es geht uns um Leib und Seele der uns anvertrauten Menschen. Werden wir diesem Anspruch gerecht? Oder bleibt nicht die Seele im Wettlauf um Pflegeminuten und abrechnungsfähige Leistungen oft auf der Strecke? Ich befürchte, als Mitarbeiter einer Diakoniestation müsste Jesus vor der Einsatzleiterin rechtfertigen, warum er sich so viel Zeit für einen einzelnen Patienten nimmt. „Und er sah zum Himmel auf und seufzte...“

„Hephata!“ Da ist es endlich, das entscheidende, das lösende Wort. Der Boden ist bereitet. „Hephata!“ Und es wirkt! (V. 35: Sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich.) Wenn ein Wort erst einmal ausgesprochen ist, breitet es sich aus, ist nicht mehr zurück zu holen. Es schafft seine eigene Wirklichkeit. Das ist schon bei unseren alltäglichen menschlichen Worten so, z.B. wenn eine Mutter ihr Kind tröstet: „Alles wird gut!“; wenn zwei Liebende sich ins Ohr flüstern „Ich liebe dich!“; oder auch wenn einer eine Drohung ausstößt: „Das wirst du mir büßen!“ Wie viel mehr dann bei diesem Wort Jesu: „Hephata!“ Das ist kein Zauberwort, kein „Simsalabim“. Es ist ein machtvolles, ein vollmächtiges Wort, das die Wirklichkeit des Taubstummen total verändert. Auf die neue Wahrnehmungs-fähigkeit mit den Ohren folgt so­gleich seine Sprachfähigkeit. Der in sich selbst eingesperrte Mensch wird wieder kommunikationsfähig, wenn Gottes Wort ihn erreicht. Er wird wieder Mensch. „Und er redete richtig.“ Nicht aus eigener Kraft, sondern als gelöster, als erlöster Mensch antwortet er auf das „Hephata!“ -

Und was ist mit dem Wunder? Vielleicht fragen Sie sich das schon die ganze Zeit. Vielleicht haben Sie das Gefühl, ich hätte nur mit vielen Worten die Unmöglichkeit eines solchen Wunders zugedeckt. Ich weiß, dass die meisten Zeitgenossen heute bei solchen Wundergeschichten ein Unbehagen empfinden. Mir geht es nicht anders. Wir sind befangen in unserer eindimensionalen naturwissenschaftlichen Weltsicht. Aber schon ein Blick über den westlichen Tellerrand lehrt uns, dass Menschen in Indien, Afrika oder Lateinamerika ganz anders empfinden. Glaubensheilungen kommen vor und haben durchaus Platz in ihrem Denken.

Vor 17 Jahren habe ich in Südindien eine ähnliche Erfahrung gemacht. Zusammen mit einem Kollegen besuchte ich die ev.-luth. Kirche Zum Barmherzigen Samariter in Andhra Pradesh. In einem See hatten wir etwa 60 Menschen im Alter von 16 bis 66 Jahren getauft. Alle Täuflinge waren bereits wieder ans Ufer gestiegen, da bekam eine junge Frau einen Anfall. Sie verkrampfte sich, schlug um sich und stieß unartikulierte Schreie aus. Ich werde nie vergessen, wie die Ältesten der Gemeinde die Frau packten und lautstark beteten. Ein regelrechter Kampf, bis die Krämpfe der Frau sich lösten und sie ganz ruhig wurde.

Auch in den biblischen Wundererzählungen geht es nicht darum, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Heilung und Heil vollziehen sich innerhalb des vertrauten Weltbildes. Von daher wäre es eine Engführung, unsere Predigtgeschichte nur als Bericht über eine erfolgreiche körperliche Heilung zu sehen. Als solcher würde er nur Enttäuschungen hervorrufen. Bei vielen Menschen bleibt ja die Behinderung oder die Krankheit, trotz intensiven Betens. Auch Jesus hat nicht alle gesund gemacht.

Der Horizont ist viel weiter gesteckt. Der Klang des Hephata hat sich ausgebreitet. Nicht nur der Taubstumme ist durch ihn verändert und neu geworden; auch die Umstehenden werden durch ihn erreicht, mitten im heidnischen Gebiet, in der Gottesferne.  Gottes Wort öffnet die Ohren und löst die Zunge. Mehr noch: es eröff-net Lebensraum – in der menschlichen Gemeinschaft, in der ich lebe, und in meiner Beziehung zu Gott. Ist das nicht das viel größere Wunder? Es öffnet den Himmel über mir, damit ich mich meines Lebens auf der Erde freuen kann. So weitet sich die Wirkung dieses Wortes noch einmal und erinnert an den neuen Himmel und die neue Erde, die Gott verheißen hat. Der Lobpreis am Schluss schlägt den Bogen von der ersten zur neuen Schöpfung: „Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“

Hephata: ein langer Weg vom Ort zum Wort und wieder zurück zum Ort. Am Ende ist die Frage, ob es sich nun um ein Wort oder um einen Ort handelt, überflüssig. Gottes befreiende Liebe kommt zu uns im Wort und ereignet sich vor Ort. Es eröffnet neue Räume. Klangräume. Lebensräume. Handlungsräume. Spielräume. Wie im Himmel, so auf Erden. Dafür bürgt Jesus Christus, das Fleisch gewordene Wort Gottes.

Hephata: das ist eine Ermutigung für uns als christliche Gemeinde, dem öffnenden und lösenden Wort Gottes mehr zuzutrauen! Gottes Wort macht uns kommunikationsfähig, hör- und sprachfähig. Es will unser Schweigen brechen und unsere Zunge lösen, dass wir in sein Lob einstimmen und es weiter verbreiten.

Das meint mehr als schöne Gottesdienste feiern. Das meint auch, in einer gottlosen Welt denen in den Ohren liegen, die Menschen unterdrücken, sie aus der Gemeinschaft ausgrenzen oder ihr Leid ausnutzen, um daran zu verdienen. Das fängt hier im eigenen Land an, wenn wir uns z.B. in Kirche und Diakonie dafür stark machen, dass Alte, Kranke und Sterbende menschenwürdig gepflegt und begleitet werden. Oder wenn wir Gesicht zeigen gegen rechtsextreme Parolen, alle Fremden aus unserm Land fernzuhalten. Und das ist da nicht zu Ende, wo wir uns für eine offene und menschliche europäische Flüchtlingspolitik einsetzen und an einer Willkommenskultur für diejenigen mitarbeiten, die bei uns eine neue Heimat suchen. Vor kurzem hat die evangelische Kirchengemeinde Wangerooge zu einem Sommerfest für einen 20-jährigen Somali eingeladen, der seit einem Jahr im Kirchenasyl auf der Insel lebt. Ein schönes Beispiel dafür, wie Gottes liebendes und lösendes Wort seinen heilsamen Ort unter uns findet. Hephata!

Amen.