Predigt zu Markus 8, 22-26 von Lucie Panzer
8,22

Predigt zu Markus 8, 22-26 von Lucie Panzer

Klar sehen: was für ein Wunder!
  
  Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, dann ist man blind für das große Ganze. Dann bleibt man an den Details hängen und sieht nicht das große Ziel.
  Wenn einer den sogenannten Tunnelblick hat, dann übersieht er das Naheliegende. Dann ist er blind für das, was die Menschen neben ihm brauchen, weil er eine Vision hat und Großes erreichen will.
  Wut kann einen blind machen und Liebe auch, sagt man.
  Und natürlich: wer kranke Augen hat, der kann auch nichts sehen.
  Es gibt verschiedene Arten von Blindheit.
  
  Eines aber haben alle Formen der Blindheit gemeinsam, scheint mir: Alleine kann man das Problem nicht beheben. Wer blind ist, kann sich nicht selber helfen. Manchmal merkt man nicht einmal, wie blind man eigentlich ist. Manchmal nur auf einem Auge, manchmal auf beiden. Man braucht jemanden, der einem die Augen öffnet. Jemanden, der einem hilft, wieder klar zu sehen.
  Die Bibel erzählt, dass Jesus das gekonnt hat. Zum Beispiel in der Geschichte, die uns heute als Predigttext gegeben ist.
  Ich lese Mk 8, 22-26:
  
  22Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. 23Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas? 24Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.
  25Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte.
  26Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!
  
  Einer der blind war, kann wieder sehen. Das gibt’s doch nicht, möchte man eigentlich sagen. Nur mit ein bisschen Spucke und Handauflegen und gut zureden.
  Das ist ein Wunder – sagen dann die einen. Jesus konnte Wunder tun. Wer an ihn glaubt, der wird es erleben. Und manche sind schrecklich enttäuscht, weil für sie so ein Wunder anscheinend nicht geschieht.
  Andere sagen: Das kann nicht sein. Das gibt es nicht. Und manche gehen noch weiter. Da seht ihr mal, sagen sie, was an eurem Glauben dran ist, wenn ihr an solche Wunder glaubt. Was an eurer Bibel dran ist, wenn da solche Geschichten drin stehen.
  
  meine Vorstellungen und Gottes Möglichkeiten
  Ganz verschieden kann man über die Wunder Jesu denken. Könnte es sein, dass da jeder von uns auf einem Auge blind ist, wenn es um Wunder geht? Manche auf dem einen Auge und manche auf dem anderen? Und dass ich es vielleicht gar nicht merke, wie blind ich bin?
  Ob vielleicht Jesus auch uns da die Augen aufmachen könnte, wenn von seinen Wundern erzählt wird, Ihnen und mir? Dem möchte ich heute Morgen nachgehen. Vielleicht, dass wir ein bisschen mehr sehen, wenn wir gemeinsam nachdenken über die Wunder. Und besonders über diese eine Geschichte, die das Markusevangelium uns erzählt.
  
  Da ist etwas passiert, was wir uns nicht erklären können. Ein Wunder, sagen wir deshalb.
  Ein Blinder kann wieder sehen, als ihm ein bekannter Heiler und Arzt die Hände auflegt und seine Augen mit Speichel berührt. Für die Leute damals war das gar nichts so Besonderes. Sicher, jeder konnte das nicht. Aber es gibt Berichte von antiken Ärzten, die solche Heilungen bewirkt haben. Wir heute dagegen, wir fragen nach Ursachen und Wirkungen. Wenn man eine wirksame Therapie hat, ein wirksames Medikament – dann kann man eine Krankheit heilen. Sonst nicht. Das Medikament, die OP: das sind die Ursachen der Heilung. Einer kann wieder sehen, ohne OP, ohne Laser, ohne Medikamente, ohne Mikrochip? Das gibt es nicht, sagen wir, weil wir keine Ursache sehen. Wir sehen keine. Unsere Logik von Ursache und Wirkung macht uns blind. Kann das sein? Dass wir sagen, das gibt es nicht – weil wir nicht sehen können, was unserer Logik widerspricht? Unsere Logik macht uns blind für die Möglichkeiten Gottes – und dann sagen wir: Das kann doch nicht sein. Wer wird denn an Wunder glauben. Was ist das überhaupt für ein unlogischer Glaube, der sich mit Wundergeschichten abgibt?
  
  Wir sind blind für die Möglichkeiten Gottes. Wir erwarten ein Wunder, das genau unseren Vorstellungen entspricht. Sonst können wir es nicht sehen. Vielleicht ist es ja auch das: Unsere Vorstellungen machen uns blind für die Möglichkeiten Gottes. Und deshalb eben auch blind für die Wunder in unserem Leben.
  Darauf hat mich die blinde Susanne Krahe aufmerksam gemacht. Susanne Krahe ist 52 und seit 20 Jahren blind. Sie sagt: „Ich hoffe nicht auf ein Wunder, das mir die verlorene Sehkraft zurück bringt. Meine Erblindung hat mir neue Dimensionen eröffnet, die ich als Sehende nicht gefunden hätte.“
  Mir gibt das zu denken, denn immer wieder treffe ich Menschen, die warten auf ein Wunder. Eltern hoffen für ihr behindertes Kind auf ein Wunder. Eine junge Mutter, dass sie den Krebs doch noch besiegen kann. Wer könnte das nicht verstehen!
  Und nun sagt die erblindete Susanne Krahe: Warum seht ihr Gesunden nur die Defizite? Warum könnt ihr nicht sehen, was die Kranken und Behinderten können? „Menschen mit Behinderungen erfahren von Kindheit an, dass es den Maßstäben selbst der eigenen Eltern nicht genügt, wie sie sind. Sie erleben: ich bin eigentlich eine Enttäuschung.“ Das ist die Erfahrung einer blinden Frau. Mir hat das die Augen geöffnet. Kann es sein, dass ich deshalb auf ein Wunder hoffe, weil ich nicht sehe, was die Kranken und Behinderten können, sondern nur das, was sie nicht können? Wäre es nicht für manches behinderte Kind wichtiger, seine Begabungen und Stärken ausfindig zu machen und zu stärken, statt beharrlich daran zu arbeiten, dass es endlich „normal“ wird? Oder, wenn ärztliche Kunst am Ende ist, auf ein Wunder zu hoffen?
  Ich denke an den Apostel Paulus. Der hatte anscheinend eine schwere Krankheit und schreibt in einem Brief: „Ich habe immer wieder um ein Wunder gebetet. Aber Gott hat mir geantwortet: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Kor 12,9). Gerade so hat er den Glauben der Christen in der ganzen damals bekannten Welt verbreitet. Deshalb glaube ich: Gottes Kraft kann Wunder tun. Oft aber anders, als ich mir das vorstellen kann.
  Die blinde Susanne Krahe schreibt Bücher. Ein Contergan-Geschädigter ist ein weltberühmter Sänger. Ein Mann im Rollstuhl ist Finanzminister. Eine schwer kranke Frau hat mir gesagt: „Ich hätte nie begriffen, wie lieb mich alle haben, wenn ich nicht so krank geworden wäre“ – und ist schließlich getröstet in den Armen ihres Mannes gestorben.
  Es ist viel mehr möglich, als ich mir vorstellen könnte. Ich finde, das sind Wunder. Und wer nur darauf wartet, dass seine eigenen Vorstellungen Wirklichkeit werden – der sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Der ist blind für die wunderbaren Möglichkeiten Gottes.
  
  Ein neuer Blick – eine neue Weltsicht
  Und Jesus? Hat der denn nicht die Blinden sehend gemacht und dafür gesorgt, dass Gelähmte wieder auf die Beine gekommen sind? So, wie es unser Predigttext ja auch erzählt? Ja, das hat er. Aber er hat damals natürlich längst nicht alle geheilt und gesund gemacht. Ich glaube: Jesus wollte zeigen und spürbar machen, wie es einmal in Gottes neuer Welt sein wird. Und dass gerade die Kranken und Behinderten dort gut aufgehoben sein werden.
  
  Und bis dahin? Bis dahin will ich nicht so sehr nach den medizinischen Vorgängen fragen, die da geschehen sind und wie das möglich war. Sondern lieber genau hinschauen, was für Erfahrungen denn dieser Mann gemacht hat, der zunächst blind war und dem Jesus die Augen geöffnet hat.
  
  Da fällt mir auf: Wer blind ist für das, was um ihn herum vorgeht, der kann sich oft nicht selber helfen. Manchmal merkt man es ja auch gar nicht, dass man blind ist: auf einem Auge oder sogar auf beiden. Dann ist es wichtig, dass andere aktiv werden. So wie die, die diesen Mann zu Jesus gebracht haben. Ihnen jedenfalls ist es aufgefallen, dass er die Dinge nicht richtig sieht. Sie eigentlich gar nicht sieht. Sie haben ihn darauf angesprochen. Und sie hatten eine Ahnung, wo man Hilfe finden kann. Wo man einen neuen Blick für die Dinge bekommt. Wer einem eine neue Weltsicht vermitteln kann. Wahrscheinlich hatten sie das schon erlebt:
  Wie Jesus Fischern zu einem großen Fang verholfen hat, die immer an der falschen Stelle ihre Netze ausgeworfen haben. Vielleicht, weil sie es schon immer so gemacht haben und blind waren für andere Möglichkeiten.
  Die Leute, die den Blinden gebracht haben, hatten vielleicht gehört, wie Jesus die Barmherzigen glücklich genannt hat und nicht die, die einfach die Ellenbogen ausfahren und die Schwächeren links liegen lassen. Vielleicht hatten sie erlebt, dass die Barmherzigen erfahren, wie es glücklich macht, wenn man lebt, wie Jesus es vorgelebt hat. Barmherzig. Geduldig. Gütig. Großzügig.
  Vielleicht hatten die Leute gesehen, wie Jesus mit Menschen umgegangen ist, die große Fehler und eigentlich alles verkehrt gemacht hatten. Vielleicht konnten sie seitdem mit anderen Augen auf die sehen, die gescheitert waren.
  Ich stelle mir vor, dass es solche Leute waren, die den Blinden zu Jesus gebracht haben. Zu Jesus kommt man nur, wenn einen jemand mitnimmt, dem die Augen aufgegangen sind.
  
  Und dann rührt Jesus den Mann wirklich an, der nichts sehen kann. Allerdings nicht mitten im Getümmel und vor aller Augen. Dass ein Leben heil wird, das ist kein Massenereignis. Jesus enttäuscht alle, die ein Spektakel erwartet hatten. Er nimmt den Mann beiseite und redet mit ihm ganz allein. Fragt ihn nach einiger Zeit, was er sieht. Wie ihm das erscheint, was er vor Augen hat. Und korrigiert ganz sanft und geduldig, wo der Blinde noch immer ein falsches Bild von der Wirklichkeit hat. Vielleicht kann Jesus dem Blinden klar machen, dass seine Freunde es gut mit ihm meinen. Dass sie nicht bloß eine Sensation erleben wollen, sondern wirklich helfen. Weil sie ihn mögen. Der Blinde hat das womöglich so noch gar nicht sehen können. Wahrscheinlich spürt der Blinde jetzt, dass Gott ihm ganz nahe ist. So nahe, wie ihm Jesus jetzt kommt. Er muss nicht länger  meinen, Gott sei nur für die Gesunden und Starken und „Normalen“ da. Das rührt den Blinden an. Und auf einmal sieht er die Welt so, wie sie ist: Als Gottes gute Schöpfung. Und sich, den Blinden, mittendrin. Ein Teil von Gottes Schöpfung. Er nimmt wahr, dass Gott ihm Möglichkeiten gegeben hat und Begabungen und Aussichten. Das rührt den Mann an. Da ist er geheilt. Seine Augen. Oder seine Seele. Wahrscheinlich beides.
  
  Was sagt mir diese Wundergeschichte noch?
  
  Wunder brauchen Zeit, sagt sie mir. Dass einer wieder sehen kann, das geht nicht von jetzt auf gleich. Da braucht es Geduld. Viele Gespräche womöglich. Immer wieder Nachfragen. Behutsames Begleiten. Immer wieder aufmerksam machen auf kleine Fortschritte.
  
  Und die Geschichte sagt mir: Jesus fragt den Blinden nicht: Glaubst Du? Das ist erst einmal gar nicht so wichtig. Jesus will, dass er sieht. „Siehst du?“ fragt er. Er will dem Mann helfen. Helfen, dass er sieht, was für sein Leben wichtig ist. Dass dann auch sein Glaube wächst: Vielleicht ist das für Jesus selbstverständlich. Vielleicht ist es ihm nicht so wichtig. Wer weiß.
  
  Und zuletzt: Geh nicht in das Dorf, sagt Jesus dem, der jetzt klar sieht. Ich verstehe: nicht wieder zurück in die alten Verhältnisse. Nicht wieder dahin, wo sie ihm womöglich sagen: Wir haben keinen Platz für dich. Am besten du bleibst dort, wo du vorher warst. Nicht wieder dahin, wo sie es gewöhnt sind, ihm zu sagen, was er tun soll. Wo sie ihn an der Hand nehmen und dahin leiten, wo sie ihn haben wollen.
  Wer klar sehen kann, der kann seinen Platz selber finden. Der kann selber entscheiden, wo er daheim sein will.
  
  So ist es damals gewesen, als Jesus einem Blinden die Augen geöffnet hat. Ich finde, das ist mehr als eine Wundergeschichte, die man glauben kann oder auch nicht. Das ist eine Geschichte, die mir die Augen öffnet. Besonders dann, wenn ich den Wald nicht sehe vor lauter Bäumen.
  Amen