Predigt zu Matthäus 10, 26-33 von Heinrich Braunschweiger
10,26

Predigt zu Matthäus 10, 26-33 von Heinrich Braunschweiger

Liebe Gemeinde!
  
  Der Papst war da. Zum zweiten Mal im Stammland der Reformation. Er habe keine ökumenischen Geschenke dabei, soll er in Erfurt im Gespräch mit den Evangelischen gesagt haben.
  Nun ja, wir wollen und brauchen ja auch keine Papstgeschenke, sondern uns reichen die Gottesgeschenke: unser Leben z.B., Nahrung, Kleidung, Dach über dem Kopf, die ganze Schöpfung und dann noch die speziellen Geschenke des Hl. Geistes, z.B. Glaube, Hoffnung und Liebe. Auch noch unsere Kirche, die durchaus eine fehlbare, also eine sündige ist, aber nichts desto trotz eine gerechtfertigte und von Gott gestiftete und geliebte, so wie wir Christen alle – übrigens auch die katholischen und die orthodoxen – und auch die übrigen Menschen sind von Gott geschaffen und geliebt, was nicht heißt, dass er alles billigt, was sie, was wir tun. Heißt auch nicht, dass diese Liebe nicht  im Zorn entflammen könnte über all das Verkehrte und Schreckliche, was der Mensch anstellt.
  
  Aber nochmals zurück zum Papst.
  Es wird folgende Geschichte erzählt:
  Der Papst ist gestorben. Auch Päpste sind sterblich. Wir wissen es. Der Papst kommt also an die Himmelspforte. Sie ist geschlossen. Aber kein Problem. Der Papst als Stellvertreter Christi hat ja die Himmelsschlüssel. Er probiert den einen, er probiert den anderen. Keiner passt. Da klopft er wütend ans Himmelstor. Nach einiger Zeit öffnet sich ein kleines Fenster, und Petrus schaut nach, wer da ist. Ach, der Papst, sagt er. Und dieser schon etwas aufgebracht: „Warum passen denn meine Schlüssel nicht?“ „ Ja, weißt du“, sagt da Petrus, „als damals Luther hochkam, da hat er gleich alle Schlösser auswechseln lassen.“
  Ja, liebe Gemeinde, mit Schlüsseln und Schlössern hat die Reformation zu tun. Aber nicht ganz so wie in dieser Geschichte.
  Martin Luther hat den Schlüssel wiedergefunden, den Schlüssel zum Himmelreich, zur Wirklichkeit Gottes, zum Sinn unserer Tage,
  den Schlüssel, der im Verlauf des Mittelalters in Kirche und Theologie verloren ging, - unter theologischem und auch ganz profanem Kirchenschutt begraben. Die Papstkirche hat dann einen eigenen Schlüssel machen lassen, der aber – wie in der eben erzählten Geschichte - nicht passte, mit dem die Kirche dann den Menschen eine gehörige  Angst vor Fegefeuer und Hölle einjagte, um zu Luthers Zeiten auch noch per Ablasshandel Geld in die päpstlichen Kassen fließen zu lassen.
  Im sogenannten Turmerlebnis in den Maitagen 1513 hat Luther den Schlüssel wieder gefunden. Er selber erzählt davon:
  „Mich hatte der heiße Wunsch gepackt, Paulus in seinem Römerbrief zu verstehen. Dem widersetzte sich immer wieder – nicht die Kälte meines Herzens – sondern das einzige Wort: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart.’ Ich hasste dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes’. Ich zürnte Gott mit gewaltigem Murren. Muss Gott auch noch durch das Evangelium Schmerz auf Schmerz häufen? Ich raste mit verwundetem und verwirrtem Gewissen, klopfte aber doch immer wieder stürmisch bei dieser Paulusstelle an. Indem ich Tag und Nacht darüber nachdachte, achtete ich endlich auf den Zusammenhang: ‚Das Evangelium (ist es doch), das die Gerechtigkeit offenbart’! Ein Geschenk ist der Sinn.
  Da fühlte ich mich wie völlig neugeboren! Die Tür war aufgetan. Ich war in das Paradies eingetreten.“
  Das also war das Schlüsselerlebnis Luthers.
   
  Und der Schlüssel hat einen Namen: Evangelium. Nicht unser Tun, sondern Gottes Tat.
  Nicht Drohbotschaft, sondern Frohbotschaft. Und die Gerechtigkeit Gottes ist sein Liebe, mit der er uns sucht und zu sich zieht. Von dieser frohen Botschaft hören wir nun heute für das Reformationsfest 2011 im Matthäusevangelium, im 10. Kapitel. Dort spricht Christus:
  
  „Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.
  Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.
  Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.
  Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.
  Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt.
  Darum fürchtet euch nicht; ihr geltet mehr als viele Sperlinge.
  Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will auch ich bekennen vor meinem himmlischen Vater.
  Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“
  Ja wie, liebe Gemeinde, soll das eine frohe Botschaft sein?
  „…fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle“?
  Wo bleibt da der reformatorische Erkenntnisgewinn?
  Da müssen wir nun genauer hinschauen. Luther hat ja die Hölle nicht abgeschafft. Wie könnte er auch?!
  Die irdischen Höllen zumindest sind unübersehbar, produziert von solchen, die die Hölle in sich tragen.
  „Hölle“ hat ja nichts mit der absurden Vorstellung zu tun, dass ein Todsünder eine unendliche Zeit lang gefoltert würde. „Hölle“ ist ein Qualitätsbegriff.
  Die Riegel der Hölle sind innen, sagt ein Sprichwort. Offenbar gibt es Menschen, die sich gegen jeglichen Anhauch des Geistes Gottes einmauern. Es ist die totale Sinnwidrigkeit einer Existenz und Lebensform, die gegen ihren Schöpfer und Erlöser gelebt wird.
  
  Das hat übriges zunächst nichts mit Atheismus zu tun.
  Einer, der angesichts des Zustands der Welt und dessen, dass Menschen anderen Menschen die Hölle bereiten dürfen, nicht glauben kann, dass diese Welt in den Händen eines Gottes ist, der es gut mit uns meint, der hat seine guten Gründe. Und dennoch kann er offen sein für das Wehen des Geistes. Es gibt einen frommen Atheismus, der dem biblischen Glauben näher ist als eine auf Fröhlichkeit getrimmte Religion.
  „Hölle“ aber  ist die totale Abriegelung gegen Gott. Und Gott könnte ja nun seinerseits sich von diesem Menschen abwenden, könnte ihn dorthin fallen lassen, wohin er sich eingesperrt hat: in die Geistes- und Gottesisolation.
  Das wäre letztlich das Nichts. Denn da, wo der Geist Gottes nicht wirkt, da ist das Nichts.
  
  Gott könnte also einen Menschen, der sich gegen ihn, gegen die Liebe selber,  total verschlossen hat, seiner eigenen Hölle überlassen, d.h. im Nichts versinken lassen. Er könnte! Und Jesus spricht ja auch davon, dass wir uns vor dem fürchten sollen, der Leib und Seele in der Hölle verderben kann. Aber tut er es auch?
  Im Glaubensbekenntnis heißt es: „hinabgestiegen in das Reich des Todes“, früher hieß die Übersetzung des lateinischen „descendit ad inferos: „hinabgefahren zur Hölle“. Christus hat also die Hölle entriegelt.
  Und darum jubelt Paulus im 1. Korintherbrief:
  „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“
  
  Das also ist der reformatorische Erkenntnisgewinn:
  Die Hölle ist entriegelt! Der Himmel ist offen!
  Und der Vater steht da mit offenen Armen und wartet sehnlichst auf die Heimkehr der verlorenen Söhne und Töchter, wie in jenem Gleichnis von den beiden Söhnen – der eine ein Hallodri, der sein Erbe in der Fremde verschleudert und bei den Säuen landet, und der andere einer, der zuhause beim Vater bleibt und dabei – wie man im Schwäbischen sagt: „verrechtet“, also in seiner Moral sozusagen versumpft und deshalb dem heimgekehrten Bruder die Hölle heiß machen will.
  
  Ja, das ist der Vater im Himmel, von dem Jesus sagt, dieser habe sogar alle unsere Haare auf dem Haupt gezählt.
  Und der auch die Spatzen nicht vergisst, wie könnte der seine Menschenkinder vergessen?
  Apropos Spatzen: Im 18. Jahrhundert soll doch der Dresdner Kreuzkirchenpfarrer die Spatzen mit Kirchenbann belegt haben, weil sie das Auditorium von den Predigten ablenkten.
  Was soll man dazu sagen? Ja nun, wenn dieser Pfarrer nur moralisierte und mit der Hölle drohte
   - was ja sein könnte (!) -, dann hat der Geist Gottes ein paar Spatzen in die Kirche geweht, die die Gemeinde von der moralinsauren Predigt ablenkten, und so nahmen sie an ihrer Seele keinen Schaden.
  
  Nur leider haben die Spatzen ein Spatzengehirn und können deshalb das Evangelium nicht von den Dächern pfeifen. Und deshalb sollen es die Jünger tun, sagt ihnen ihr Meister.
  
  Die haben allerdings geschlafen, als Jesus im Garten Gethsemane durch die Hölle der Anfechtung und Verzweiflung ging, und seine Jünger bat, bei ihm auszuharren und mit ihm zu wachen und zu beten.
  Und als es darauf ankam, sich zu ihm zu bekennen im Hof des Hohenpriesters, da hat der zuvor doch so felsenfeste Petrus gestammelt: Nein, ich kenne diesen Menschen nicht.
  Und alle seine Jünger verließen ihn – aus Menschenfurcht.
  
  Wie menschlich-allzumenschlich das doch zugeht im Kreis der Freunde Jesu!
  Da können doch auch wir uns noch einreihen: in diese kleingläubige und bekenntnisschwache Schar.
  
  Auch das ein reformatorischer Erkenntnisgewinn: Keiner aus der Christengemeinde ist unfehlbar, schon gar nicht in Glaubensdingen.
  Gott findet auch und gerade in seiner Kirche fast nur solche vor, die  keine Glaubenshelden sind, dagegen manchmal Maulhelden und moralisch nicht ganz Einwandfreie. Mit einem Wort: Sünder.
  Und mit denen baut er seine Kirche, die im Glaubens-bekenntnis „Gemeinschaft der Heiligen“ genannt wird, nicht weil sie ein so heiligmäßiges, d.h. tugendhaftes Leben führen, sondern schlicht deshalb, weil Gott sie dazu berufen hat, seine frohe Botschaft zu leben und  von den Dächern zu predigen: das ist das wirkmächtige Wort Gottes, das den Menschen aus Knechtschaften und Ängsten befreit, in die er sich immer wieder selber einsperrt.
  
  Einer der subtilsten Angstmacher sitzt ja im Ego des Menschen selber. Immer wieder hämmert er uns ein: Du bist nur das, was du aus dir selber machst. Du musst deinen Marktwert steigern. Du musst mehr haben und sein als andere: gesünder, geschickter, frömmer, erfolgreicher.
   Und so begeben wir uns täglich auf den Markt der Eitelkeiten.
  Ich sage „uns“ und meine zunächst mich. Es könnte ja sein, dass unter uns etliche sitzen, die sich auf diesem Markt nicht tummeln.
  Und dann gibt es derzeit noch ein paar obere Zehntausend, deren Wert proportional zu den Aktienpaketen, ihren Gehältern und Boni steigen oder fallen – und deshalb ist hier ein gnadenloser Kampf um immer Mehr entbrannt, der  inzwischen auf Kosten ganzer Gesellschaften und Länder ausgetragen wird.
  Und am unteren Ende rangiert das  „tote Humankapital“, wie der Deutsche Bank Chef vor Jahren die Hartz 4-Empfänger genannt hat.
  Könnte es nicht sein, dass das alles mit Menschenfurcht zu tun hat, von denen uns das Evangelium befreien will?
  Mit der Furcht, in den Augen der anderen im Ansehen, im Marktwert zu sinken?
  „Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird…“
  Gegenwärtig wird ja vieles offenbar, was wir lange Jahre nicht  wahr haben wollten, obwohl wir es hätten sehen können:
  Dass etwas faul ist an unserem Wirtschaftssystem. Dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Dass der Markt es nicht richten wird. Dass es Grenzen des Wachstums gibt. Dass wir mit unserem Wirtschaften und Konsumieren die Natur zerstören und die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder aufs Spiel setzen.
   
  Immer mehr Menschen durchschauen dieses Spiel.
  Viele gehen deshalb auf die Straßen und protestieren gegen dieses System: von London bis New York, von Rom bis Frankfurt und Berlin.
  Und in der arabischen Welt ist der Schrei nach Freiheit unüberhörbar geworden. Selbst Panzer und Kanonen können ihn nicht mehr ersticken.
  Noch ist nicht ausgemacht, wohin dort der Weg gehen wird. Ob diese Sehnsucht nach Freiheit nicht von neuen Gefängniswärtern missbraucht und erstickt wird.
  
  Der Algerier Boualem Salsam, der Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, sprach in seiner Dankesrede von einem neuen Bewusstsein und einer weltweiten kopernikanischen Revolution: Alles, was das Leben ramponiert, verarmen lässt, beschränkt und denaturiert, sei dem Gewissen der Welt unerträglich geworden. (Sein Wort in Gottes Ohr!)
  Der in Tunis angebrochene Frühling sei ein Wind, der in alle Richtungen wehe.
  Ja, die Menschenwachen auf und  horchen, horchen in sich hinein und vernehmen von weither das Lied von der Befreiung mit dem Refrain: „Fürchtet euch nicht vor den Menschen, die den Leib töten können…“ Und: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht…“
  Wo der Ruf nach Freiheit und einem Leben in Würde laut wird, liebe Gemeinde, da ist der Geist dessen am Werk, der zu uns spricht: „Ich bin der Weg und die Wahrheit“ und diese Wahrheit wird euch frei machen.
  Oder sollte dieser Geist-Wind etwa nur im sogenannten christlichen Abendland wehen, für das doch in weiten Teilen Christus zu einem Unbekannten geworden ist?
  
  „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will auch ich bekennen vor meinem himmlischen Vater.“
  Wo einer für die Wahrheit sein Leben aufs Spiel setzt, tut er es, ohne es zu wissen, für Christus.
  Und, liebe Gemeinde, wo einer oder eine für Entrechtete eintritt, bekennt er Christus namenlos mit.
  Und wenn Menschen nach Freiheit und Achtung ihrer Menschenwürde verlangen, dann treibt sie der Geist der Wahrheit… ob das nun Christen, Moslems oder Atheisten sind.
  Keine Religion oder Ideologie hat die Wahrheit gepachtet. Denn die Wahrheit ist ja Christus selber. Und sein Geist weht wann und wo er will. „Und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.“
  
  Liebe Gemeinde,
   die Überschrift und Thema unseres Textes - wie der ganzen Bibel -  ist in ihrem Kern das „Fürchtet euch nicht!“
  
  „Fürchte dich nicht, spricht der HERR; ich bin dein Befreier. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“
  Das ist der Grundton, auf den die Hl. Schrift gestimmt ist.
  Nichts und niemand Endliches hat einen letzten Anspruch und Zugriff auf uns! Auch nicht der Tod.
  Und darum singt Paulus den Römern das Lied der Liebe Gottes vor:
  „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herr.“
  Und den Galatern schreibt er:
  „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So  steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“
  
  Mit diesem Ton, mit diesem Lied im Herzen, stand Luther 1521 vor Kaiser und Kurfürsten und päpstlichen Prälaten zu Worms und verteidigte das wieder entdecktes Evangelium von der Freiheit eines Christenmenschen – obwohl er fürchten musste, wie andere vor ihm, als Ketzer auf dem Scheiterhaufen zu landen.
  Darum feiern wir heute das Reformationsfest in dankbarer Erinnerung, aber auch im Wissen, dass die Reformation nie hinter, sondern immer vor uns liegt,
  weil wir das befreiende Wort Gottes nie als Besitz, nie als Kapital haben. Es muss uns immer wieder neu zugesprochen werden. Darum gehen wir sonntags in die Kirche, um Gottes Wort zu hören: Fürchte dich nicht. Ich bin dein Befreier. Ich habe dich in diese Welt gerufen. Du gehörst für immer zu mir! Amen