Predigt zu Matthäus 10, 26b-33 von Günter Goldbach
10,26

Predigt zu Matthäus 10, 26b-33 von Günter Goldbach

„Fürchtet euch nicht!“ – Vielleicht ist das das Erste, was wir von diesem Text aufgenommen haben. Was wir zumindest bewusst gehört haben. Denn es wird ja mehrfach wiederholt: „Fürchtet euch nicht!“.
Sollte jemand fragen: Wieso? Wer fürchtet sich denn?! Und wovor?! Haben wir nicht die ganze Welt ausgerechnet und damit beherrschbar gemacht?! Haben wir nicht durch die von uns entwickelte Technik das Leben selbst manipulierbar und damit verfügbar gemacht?! Haben wir nicht  - zumindest in unserem Teil der Welt – durch den puren Fortschritt von Wirtschaft und Gesellschaft Armut und Elend besiegbar und damit eliminierbar gemacht?! Wovor also sollten wir uns fürchten?!
Die Nachdenklichen unter uns wissen: Solche Fragen zu stellen ist müßig. Der unbestreitbare Fortschritt auf allen Gebieten des Lebens hat einen Januskopf, den jeder sehen kann, der ihn sehen will. Und Gründe, sich zu fürchten, kann jeder benennen, der sie benennen will. Den Nachdenklichen unter uns zeigt die Welt, in der wir leben, ein anderes Bild:
Viele verdrängen die Frage nach dem Sinn. Eine materialistische Weltanschauung hat viele infiziert. Und Götzen beherrschen die Szene. Zwar ist im Augenblick der Thron politischer Götzen verwaist. Die Nazi-Methoden sind aus der Mode. Aber andere Mächte trachten uns nach dem Leben: Die Götter des Konsum fordern Tribut und Menschenopfer. Der Götze „Leistung“ tyrannisiert uns und nimmt uns die Freude am Leben. Die Dämonie der Gewalt breitet sich aus. Die Ambivalenz technischer Entwicklungen hat uns längst katastrophale Aspekte vor Augen geführt; Tschernobyl und Fukushima seien als Stichworte genannt. Die Macht heimtückischer Krankheiten versetzt uns in Angst und Schrecken. Und wir sollten uns nicht fürchten?!
„Fürchtet euch nicht!“  -  diese Botschaft will uns gleichwohl heute erreichen. Das ist natürlich kein Befehl. Das ist mehr als eine bloße Ermahnung. „Fürchtet euch nicht!“  -  das ist eine Einladung! Eine Einladung zu einem Leben ohne Furcht. Das ist eine Zu-mutung. Das heißt: Das Wort des Evangeliums will uns Mut machen zu einem Leben ohne Furcht. Sollten wir uns also nicht auf dieses Wort der Schrift einlassen und unser Herz öffnen?!
1).  Das Erste, was wir uns da sagen lassen müssen, ist eine totale Überraschung: Wir furchtsamen Leute, kaum entschlossen, noch beklommenen Herzens, werden in Auftrag und Dienst genommen. Und der Auftrag lautet: Christus vor allen Menschen zu bekennen!
Und das ist noch erstaunlicher: Durch das Bekenntnis zu Christus soll die Furcht überwunden werden! Sie verschwindet sozusagen aus unserem Herzen, sie stiehlt sich geradezu davon, wenn dieses unser Herz mit dem Mut zum Bekenntnis gefüllt wird. Und im echten Bekenntnis bewährt sich die Furchtlosigkeit! Das soll uns vor Augen geführt werden.
Wohlgemerkt, dieser Auftrag geht an uns ganz persönlich. Hier ist ja von der Kirche als Jüngergemeinde die Rede. Nicht von der Kirche als abstrakter Größe, als theologischem Leitbegriff oder als organisierter Institution. Unzweifelhaft: Wir persönlich sind gemeint! Wir sollen von Christus öffentlich reden, wir alle.
Sind wir nicht überfordert  - mit und ohne Theologiestudium?! Nein, niemand braucht sich überfordert zu fühlen. Denn das ist die nächste Überraschung, besser: eine tröstliche Erfahrung: Er sendet zwar Menschen aus mit seiner Botschaft. Aber trotzdem tragen nicht die Menschen diese Botschaft, sondern diese Botschaft trägt sie! Die Zweideutigkeit, die allem menschlichen Zeugnis anhaftet, will Gott offenbar in Kauf nehmen.
Also, der Versuchung zur Privatisierung unseres Glaubens müssen wir widerstehen. Die Meinung von Abertausenden: Was ich in Wirklichkeit glaube, geht niemanden etwas an  -  diese Meinung dürfen wir nicht teilen. Nein, das Evangelium muss öffentlich ausgerufen werden. Denn es geht jeden etwas an. Es darf nicht geschehen: Einer, der mit uns zu tun gehabt hat, sagt: Evangelium  -  was ist das? Ich habe noch nie davon gehört. Es darf nicht geschehen: Einer, der mit uns gelebt hat, beruft sich darauf, das Evangelium habe sich ihm nie in den Weg gestellt, es sei ihm niemals begegnet als Anlass zur Freude oder zum Ärger. Nein, unser Auftrag lautet: Christus zu bekennen vor den Menschen, von ihm und für ihn zu reden. Allerdings: Reden setzt Hören voraus. Hören aber heißt: zunächst selbst empfangen und anders werden; von den eigenen Gedanken und Meinungen Abstand gewinnen; am Denken und Wollen eines anderen Anteil bekommen.
Das hat Martin Luther ganz großartig verstanden. Eigentlich darin bestand seine reformatorische Tat. Luthers Neuanfang bestand ja nicht in einem Reformprogramm. Es erwuchs nicht aus seiner persönlichen Genialität. Luthers Reformation bestand in Wahrheit aus einem eindringenden, überraschten Hören auf das Evangelium.
Wir wissen es vermutlich alle: Martin Luther war vor allem ein großer Mann in Bezug auf die Ernsthaftigkeit seines geistlichen Bemühens. In Bezug auf die Leidenschaftlichkeit seines mönchischen Lebens. „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“  -  das war die Frage, an der er fast zerbrochen ist.
Gott aber hatte schon vorher gefragt: Wie kriege ich meinen Martin Luther? Das hat Luther schließlich entdeckt! Diese Entdeckung war die eigentliche Entdeckung! Die Grundlage der Reformation. Und diese Entdeckung machte Luther im Hören auf das Evangelium. Im Studium der Bibel.
Dabei hatte sich Luther nur widerstrebend dem Wunsch seiner Ordensoberen gefügt, das theologische Doktorat zu erwerben. Und doch hat er erst und nur auf diesem Wege die Wahrheit gefunden: das Zentrum des Evangeliums, die Mitte der Heiligen Schrift. „Nimm Christus aus der Schrift, was wirst du in ihr dann noch finden?“ So konnte er grundsätzlich fragen. Im Hören auf das Evangelium hat Luther schließlich alles verstanden: „Ich aber doctor Martinus bin dazu beruffen und gezwungen, das ich musste doctor werden… aus lauter gehorsam. Da hab ich das Doctor amt mussen annehmen und meiner allerliebsten heiligen schrift schweren und geloben, sie trewlich und lauter zu predigen und zu leeren…“
Wir verstehen gewiss auch: Was nicht durch das Herz des Menschen gegangen ist, taugt nicht. Aber wenn Gott das hat geschehen lassen, dann ist die Furchtsamkeit besiegt. Und der, an dem es geschehen ist, weiß sich berufen und ausgesandt zu einem furchtlosen Zeugnis für seinen Herrn.
2). Das bringt uns auf ein Zweites: Das Bekenntnis kann in das Leiden führen. Aber diejenigen, die den Bekenner in das Leiden bringen, haben keine Macht über den mit Gott verbundenen inneren Menschen, der von Gottes Trost und Kraft erfüllt ist: Die Mächtigen können nur den Leib töten, nicht aber die Seele dem Verderben anheim geben.
Eben das meint Jesus, wenn er seine Jünger aussendet, ihn zu bekennen. Denn er weiß: Das Leiden kann ihnen nicht erspart bleiben. Aber die Menschen können im schlimmsten Fall immer nur den Leib töten. Eben so werden die Grenzen menschlicher Macht aufgewiesen. Aber eben damit und zugleich werden auch die Grenzen der Furcht  vor den Menschen benannt! Denn zu fürchten ist alleine der, der Leib und Seele, also den ganzen Menschen, ewig und endgültig dem Verderben preisgeben kann. Die letzte und äußerste Gefährdung des Menschen ist nicht der leibliche Tod, sondern die unwiderrufliche Verbannung von Gott, die unheilbare Zerstörung des Menschen. Darum: Die Furcht vor Gott ist das Geheimnis der Tapferkeit der Zeugen. Und eben deshalb hält die Drohung mit dem Tode den Bekenner paradoxerweise nicht im Gefängnis der Furcht; sie gibt ihm eine überlegene Freiheit. Also: Der Hinweis auf das „nur den Leib töten“ in unserem Predigttext will nichts anderes sein als die Enthüllung der Ohnmacht der Feinde des Evangeliums. Mehr als töten können sie nicht!
Martin Luther  -  wie oft hat er sich mit diesem „Nur“-den-Leib-töten  getröstet, wenn ihn die Furcht überwältigen wollte. „Sie werden dich erwürgen. Was wollen sie danach tun? Vielleicht widder auffwecken und noch einmal tödten?“ So konnte er voller Selbstironie fragen.
Am 29. März 1521 hatte der Reichsherold Kaspar Sturm in Wittenberg Martin Luther die Vorladung zum Reichstag in Worms ausgehändigt. Als Luther am 2. April zu der Reise aufbrach, wusste er sehr wohl, was ihm bevorstehen konnte: „Es ist jetzt wahrhaftig ernst. Wir sehen Christus leiden. Mag bisher Schweigen und Demut am Platze gewesen sein, jetzt aber, da in aller Welt … unser Heiland selbst… zum Spott gemacht wird, ich beschwöre Euch: sollen wir da nicht für ihn kämpfen? Sollen wir da nicht den Hals dran wagen?“ So schrieb Luther an Johann von Staupitz, seinen Ordensgeneralvikar.  Luther wusste sehr wohl, dass die weltlichen Machthaber vielleicht ihn, aber nicht sein Bekenntnis umbringen konnten.
Wir wissen es vermutlich alle: Auf dem Reichstag zu Worms wurde Luther mit der Reichsacht belegt. Das heißt, er wurde für vogelfrei erklärt. Jeder konnte ihn gefangen nehmen oder töten, wer immer ihn in die Hände bekam.
Wir wissen es vermutlich auch alle: Luther blieb der Märtyrertod erspart. Vielleicht, wie er damals seinen Auftrag und seine Sendung noch nicht erfüllt hatte.
3). Das bringt uns auf ein Drittes und Letztes: Wer sich durch das Leiden hindurch zu Christus bekennt und an ihm festhält, der gerät in eine Abhängigkeit, die zugleich völlige Geborgenheit ist. Der gewinnt ein Vertrauen, das alle Furcht bannt.
In unserem Predigttext verdeutlicht Jesus dies am Vergleich mit den Sperlingen: Gott weiß alles, selbst um den Tod kleiner billiger Tierchen, die man getroffen und gerupft hat zum Verkauf auf dem Markt für ein paar Cent. Er fällt, der Spatz, „nicht ohne den Vater“. Ist das ein Trost für das „Spatzenleben“ und das „Fallen“ des Jüngers, der in der Nachfolge Jesu irdisch gesehen nichts anderes erlebt als Leiden und Personzerstörung? Aber nein, die Fürsorge Gottes reicht viel weiter. Denn wer sich zu Christus bekennt, den will er, Gott, der Vater, „kennen“. Der soll ihm bekannt gemacht werden. Gültig für Zeit und Ewigkeit. Deshalb: Was immer geschieht mit dem, der sich zu Jesus bekannt hat: Niemals kann er nur zum Menschenmaterial werden, das verheizt wird  -  bei Gott nicht! Niemals kann er nur zu einer namenlosen Nummer werden, die in der Masse untergeht  -  bei Gott nicht! Allerdings soll dies nach den Worten der Heiligen Schrift nur für den gelten, der sein Schicksal in Zeit und Ewigkeit dem einzigen, dem einzig wirklichen Fürsprecher bei Gott anvertraut.
Es ist gewiss kein Zufall, dass sich die Reformation auf das Fest Allerheiligen datiert. Wo die Christen nebenan ihrer Toten gedenken und die Gräber ihrer Angehörigen mit roten Lichtern schmücken. Wo sich den frommen Katholiken die Heiligen und ihre „Werke“ mit den jenseitigen Wegen ihrer Angehörigen geheimnisvoll verweben.
Wir wissen es vermutlich alle, welche große Rolle vor der Reformation die Reliquien und der Ablasshandel gespielt haben. Da trat Martin Luther auf, der mit befreiender Einseitigkeit auf den einen, den einzig helfenden Menschen- und Gottessohn hinwies. Der aller Heiligen „gute Werke“ für überflüssig, ja für gar nicht vorhanden erklärte. Denn: Alle Menschen, selbst die Heiligen, sind schuldig und vor Gott Sünder. Um Christi willen aber wird uns das ewige Leben von Gott umsonst geschenkt, „… damit wir in ihm seien und sein Sein unser Sein ist“, konnte Luther ganz grundsätzlich formulieren. Dies glaubt der Glaube und wird dadurch gerechtfertigt. Eben das bezeichnete Luther als den Artikel, auf dem alles steht, „woran er auch in seinem letzten Abschied von dieser Welt sich vor Gottes allmächtigem Gericht gedenke zu berufen und zu bleiben“.
Als es dann viele Jahre später, am 18. Februar 1546, wirklich so weit kam, blieb Luther bei seinem ernsten Vorsatz. Er war auf einer Reise in Eisleben, um Streitigkeiten unter den Mansfelder Grafen zu schlichten. Da erkrankte er lebensgefährlich an einer Angina pectoris. Bei einem älteren Biografen Luthers liest sich das so: „Das Reiben und Auflegen warmer Tücher und die Arzneien fruchteten nichts mehr gegen die Beklemmungen bei Luther… Von da an wurde er ganz still und schloss die Augen, ohne denen, welche mit jenen Mitteln um ihn beschäftigt waren und ihn ansprachen, mehr zu erwidern. Jonas und Coelius aber riefen, nachdem man seinen Puls mit stärkenden Wassern bestrichen hatte, ihm noch die Frage ins Ohr: ‚Ehrwürdiger Vater, wollt ihr auf Christum und die Lehre, die ihr gepredigt, beständig bleiben?’ Und darauf antwortete er noch ein vernehmliches ‚Ja’. Dann wandte er sich auf die rechte Seite und entschlief…“
Wir sind alle gesandt, Christus vor den Menschen zu bekennen. Was wollen wir tun? Wollen wir uns die Furcht nehmen und von ihm gebrauchen lassen?
Ich schließe mit einer Legende: “Es war einmal ein wunderschöner Garten, der lag im Westen des Landes mitten in einem großen Königreich. Dort pflegte der Herr des Gartens in der Hitze des Tages spazieren zu gehen. Ein edler  Bambusbaum war ihm der schönste und liebste von allen Pflanzen, Bäumen und Gewächsen des Gartens. Jahr für Jahr wuchs dieser Bambus und wurde immer anmutiger. Er wusste es wohl, dass der Herr ihn liebte und seine Freude an ihm hatte. Eines Tages näherte sich der Herr nachdenklich seinem geliebten Baum, und in einem großen Gefühl von Verehrung neigte der Bambus seinen mächtigen Kopf zur Erde. Der Herr sprach zu ihm: ‚Lieber Bambus, ich brauche dich’. Es schien, als sei der Tag der Tage gekommen, der Tag, für den der Bambus geschaffen worden war. Der Bambus antwortete leise: ‚Ich bin bereit, gebrauche mich, wie du willst’.
‚Bambus’, die Stimme des Herrn war ernst, ‚um dich gebrauchen zu können, muss ich dich beschneiden’. – ‚Mich beschneiden? Nein, bitte das nicht!’ – ‚Wenn ich dich nicht beschneide, kann ich dich nicht gebrauchen’.
Im Garten wurde es ganz still. Langsam beugte der Bambus seinen herrlichen Kopf. Dann flüsterte er: ‚Herr, wenn du mich nicht gebrauchen kannst, ohne mich zu beschneiden, dann tu mit mir, wie du willst und beschneide mich.’
‚Ich muss dir aber auch deinen Äste abschneiden’.  – ‚Ach Herr, davor bewahre mich! Zerstöre meine Schönheit, aber lass mir doch bitte Blätter und Äste’.  – ‚Wenn ich sie dir nicht abhaue, kann ich dich nicht gebrauchen’.
Die Sonne versteckte ihr Gesicht. Ein Schmetterling flog ängstlich davon. Und der Bambus, zitternd vor Erwartung dessen, was auf ihn zukam, sagte leise: ‚Herr, schlage sie ab’.
‚Mein Bambus, ich muss dir noch mehr antun, ich muss dich mitten durchschneiden und muss dein Herz herausnehmen. Wenn ich das nicht tue, kann ich dich nicht gebrauchen’.
Da neigte sich der Bambus bis zur Erde: ‚Herr, schneide und teile’.
So beschnitt der Herr des Gartens den Bambus, hieb seine Äste ab, streifte seine Blätter ab, teilte ihn in zwei Teile und schnitt sein Herz heraus. Dann trug er ihn dahin, wo schon aus einer Quelle frisches Wasser sprudelte. Das eine Ende des abgeschnittenen Stammes verband er mit der Quelle, das andere Ende führte er zu der Wasserrinne im Feld. Das klare Wasser schoss durch den zerschlagenen Körper des Bambus und floss auf die dürren Felder, die schon so darauf gewartet hatten. Dann wurde der Reis gepflanzt, die Saat ging auf, wuchs, die Erntezeit kam und sie ernteten reichlich“.
Der Weg ist nicht weit von dieser Geschichte zu uns heute und zu dem, wozu Gott uns brauchen möchte: zur Überwindung der Eigenliebe und der Weltangst in der Beauftragung und Indienstnahme durch Christus. Und eben das gehört zu jenen einfachen und zentralen Grundwahrheiten des christlichen Glaubens, zu denen Martin Luther die ganze Kirche zurückführen wollte.