Predigt zu Matthäus 10, 26b-33 von Harald Klöpper
10,26

Predigt zu Matthäus 10, 26b-33 von Harald Klöpper

„Geld allein macht nicht glücklich. Aber es beruhigt ungemein, “ sagt ein Sprichwort. Bei Martin Luther ist es 1517 eher anders: das Geld beunruhigt ihn, weil der Wittenberger Mönch und Professor seine Kirche nicht mehr versteht: Wie kann sie es zulassen, dass ein Fundraising-Modell sich dermaßen verselbständigt, dass Recht und Ordnung, ja selbst das Evangelium ihm nachgeordnet wird? Wo soll alles enden, wenn sich Leute ohne Beichte und Buße, dafür aber mit Segen der Kirche von den größten Verbrechen frei kaufen können[1]?
Je mehr Luther darüber nachdenkt, desto unruhiger wird er. Er greift zur Feder. Das Ergebnis kennen wir, es sind die berühmten 95 Thesen gegen den damals enorm erfolgreichen Ablasshandel. Und so legt Luther los:
 [21. Die Ablassprediger irren], die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und los werde.
[24.] Deswegen wird zwangsläufig ein Großteil des Volkes durch jenes in Bausch und Bogen und großsprecherisch gegebene Versprechen des Straferlasses getäuscht.
Ob Luther konkrete Fälle vor Augen hatte? Wir wissen es nicht. Aber noch wichtiger als das Strafrecht war ihm das seiner Ansicht nach groteske Verhalten der Wittenberger. Statt Trost und Weisung in der Kirche zu suchen, sah er selbst einfache Menschen fast täglich aus dem nahen Jüterbog und Zerbst beglückt mit ihren Ablassbriefen zurückkommen. Ihnen weiß er sich verantwortlich und fährt darum fort:
[27.] Menschenlehre verkündigen die, die sagen, dass die Seele (aus dem Fegefeuer) emporfliege, sobald das Geld im Kasten klingt.
[28.] Gewiss, sobald das Geld im Kasten klingt, können Gewinn und Habgier wachsen, aber die Fürbitte der Kirche steht allein auf dem Willen Gottes.
[36. Darum:] Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrief.
Die Nachricht verbreitet sich wie ein Steppenbrand. Dabei war das Original auf Latein geschrieben gewesen und somit eigentlich nur den damaligen Gelehrten zugänglich. Luther war deshalb auch eher erschrocken, wie schnell seine 95 Thesen ohne seine Mitwirkung gedruckt und ins Deutsche übersetzt wurden. Aber selbst jetzt, wo ihm die Sache über den Kopf zu wachsen droht, lenkt er weder ein, noch gibt er klein bei. Im Gegenteil: 5 Monate später lässt er den Sermon von Ablass und Gnade drucken, in welchem er die Thesen allgemeinverständlich und auf Deutsch erklärt.
Offensichtlich hatte Luther den Nerv seiner Zeit getroffen. Die 43. These wird bis heute sicherlich dazu beigetragen haben:
[43.] Man soll den Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen.
Am Anfang der Reformation hatten sich Theologie und soziale Fragen also so miteinander verwoben, dass Drucker selbst ohne kirchlichen Auftrag zur Verbreitung der neuen Ideen beitrugen.
Wir kommen zum heutigen Predigtabschnitt, der diese Ereignisse in einen biblischen Zusammenhang bringen soll:
Matthäus 10
  26b Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.
  27 Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.
  28 Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.
  29 Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.
  30 Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt.
  31 Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.
  32 Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.
  33 Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.
Was uns Matthäus hier vorlegt, ist eine kühne Vorausschau: Am Evangelium muss doch mehr dran sein, als dass das Wissen von Jesus Christus auf nächtliche Treffen und Gespräche hinter vorgehaltener Hand beschränkt bleiben kann. Schließlich geht es doch um den ganzen Menschen, um Leib und Seele, um eine gegenseitige Durchdringung von Alltag und Gottesdienst.
Matthäus bleibt dabei durchaus realistisch:  in einem weitgehend nichtchristlichen Umfeld wird das durchaus immer wieder einmal auf Unannehmlichkeiten und Widerstand stoßen, selbst wenn es nicht gleich der Tod ist. Das hier eingeforderte, offene Bekenntnis zu Jesus Christus beinhaltet stattdessen die Zusage einer ungeahnten Nähe und Gegenwart Gottes, die Paulus bereits im Leitvers zum Eingangspsalm hat anklingen lassen:
Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes,
  die selig macht alle, die daran glauben. Römer 1,16
Zurück zur Reformation: Die inhaltliche Verschränkung von Theologie und sozialer Gerechtigkeit, die Sorge um Seele und Leib war nicht lange aufrecht zu halten. Die Schriften von 1520 sind zwar noch voll damit, aber spätestens der Bauernkrieg 1525 und die Gemeindevisitationen 1529 setzen auf die uns bis heute als Kernkompetenz empfohlenen inneren und somit seelischen Kirchenbelange. Natürlich bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel. Aber die Selbstverständlichkeit aus der Anfangszeit der Reformation, alles vom christlichen Glauben her zu beleuchten, sie wurde zunehmend eingeengt. Immer größer wurde der Druck, das bereits Erreichte nach innen und außen abzusichern.
Später kamen noch fatale Verengungen wie die sogenannte „Zwei-Reiche-Lehre“ hinzu, die teilweise bis in die 70er Jahre den politischen Bereich komplett sich selbst überließ. Auch das werden wir bei einer Gedenkfeier zum Reformationstag 2011 kritisch zu bedenken haben, dass wir unseren ursprünglichen Ansatz der Verschränkung von Leib und Seele nur mit Mühe aufrechterhalten konnten.
Das Thema des Reformationstages wäre aber verfehlt, wenn wir bei Schuld und schlechtem Gewissen stehen bleiben würden. Schließlich geht es ja nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft der „ecclesia semper reformanda“, der Kirche, die sich ins Stammbuch geschrieben hat, sich vom Evangelium her immer wieder neu auszurichten, oder wie es in den Abschlussthesen heißt:
Man soll die Christen ermutigen, dass sie ihrem Haupt Christus … nachzufolgen trachten und dass die lieber darauf trauen, durch viele Trübsale ins Himmelreich einzugehen, als sich in falscher geistlicher Sicherheit zu beruhigen[2].
Das Vertrauen auf einen Gott, dem wir bis in die Haarspitzen wertvoll sind, wird dabei ausschlaggebend sein. Denn er hält uns schützend in seiner Hand wie einen verletzten Vogel. Das gibt uns den Rückhalt, uns mit Rat und Tat als Christen und Kirche auch öffentlich einzumischen. Wir werden unsere Stimme finden zu Griechenlandkrise, Arbeitsplatzabbau und selbst „Occupy Wall-Street“…
Wahrscheinlich erst als ein Fischen im Trüben, zunehmend aber auch in Gesprächen im kleinen Kreis, hoffentlich bald aber auch im öffentlichen Rampenlicht und von den Dächern.
Gott schenke uns dazu seinen Segen.

  
    [1] 75. These: Es ist irrsinnig zu meinen, dass der päpstliche Ablass mächtig genug sei, einen Menschen loszusprechen, auch wenn er - was ja unmöglich ist - der Gottesgebärerin Gewalt angetan hätte.
  
  
    [2] Thesen 94 und 95