Predigt zu Matthäus 1,1.16.18-25 von Rainer Stahl
1,1-25

Predigt zu Matthäus 1,1.16.18-25 von Rainer Stahl

Hinweise zum Predigttext:

Mit dem Predigttext aus Mt 1 zur Christnacht ist uns eine ganz besondere Herausforderung vorgelegt. Sie verlangt – so finde ich – eine Reflexion zum Text und seinen Problemen, bevor dann der Versuch unternommen werden kann, die Botschaft dieses Bibelwortes zu predigen.

Indem der Evangelist Matthäus im Rahmen seiner Erzählung über die Herkunft des Christus Jes 7,14 in einer sehr eigenständigen Weise zitiert, wird uns abverlangt, den Sinn dieses Textes zu bestimmen. Vor 20 Jahren habe ich über Jes 7,1-17 grundlegend gearbeitet[1] und begründet, dass Jes 7,1-8b.9.10-14.16 eine zusammenhängende Einheit vielleicht sogar aus der Verarbeitungszeit des so genannten syrisch-efraimitischen Krieges zur Wende vom 8. zum 7. Jh. v. Chr. aus Juda darstellt,[2] die als Folgetext zu Jesaja 6, der Berufungsszene, die in einen Verstockungsauftrag am Volk mündet, bewusst einen schillernden Eindruck vermittelt: Zwischen der positiven Gewissheit, dass „Gott mit uns ist“, und der zweifelnden, flehenden Einsicht, dass „Gott bei uns sei“.[3] Ausgedrückt wird dies auch im Hoffnungsbild, dass eine spezifische junge Frau – „die Junge“, wie Martin Buber verdeutscht; wohl mit Sicherheit eine Frau im Harem des Königs – schwanger werden, einen Sohn gebären und ihm den Namen »Immanuel« geben wird.[4]

Die Hinzufügung von V. 15 stellt klar, dass mit dem »Immanuel« messianische Zeiten des Überflusses anbrechen werden.

Die Übersetzungsleistung der alexandrinischen Juden zum Jesajabuch im 3. Jh. v. Chr., die Teil der griechischen Bibel, der Septuaginta, geworden ist, führt die positive Linie weiter und interpretiert den Text noch messianischer: Jetzt ist „die Junge“ mit einem Begriff angesprochen, der zumindest auch als „die Jungfrau“ verstanden werden kann und wird der Vater dem Sohn den Namen »Immanuel« geben – oder die Namensgabe ist unpersönlich pluralisch formuliert, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass es Gott selbst ist, der sich durch den Namen zum Neugeborenen bekennt.[5]

In genau dieser Weise hat dann Matthäus die biblische Tradition aufgegriffen und dem Zitat aus dem Jesajabuch eine typische Gestalt gegeben:

            „Siehe, die Jungfrau wird im Schoße haben
            und einen Sohn gebären,
            und man wird seinen Namen nennen »Immanuel«“ (Mt 1,23).

In jüngster Zeit wird die Diskussion um das Verstehen dieses Bibelwortes in interessanter Weise innerhalb der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) geführt: Prof. Dr. Achim Behrens von der Kirchlichen Hochschule der SELK in Oberursel hat vor einem Jahr eine grundlegende Studie zu unserem Text vorgelegt und auch herausgearbeitet, dass der heute vorliegende biblische Text das Ergebnis einer ganzen Theologiegeschichte darstellt, die zu heilstheologischen Einsichten, zu messianischen Erkenntnissen geführt hat.[6]

Dieser Position, die prinzipiell meiner eigenen entspricht, hat in diesem Jahr der Pfarrer der SELK in Fürstenwalde, Matthias Krieser, widersprochen. Er versteht schon den hebräischen Text als Aussage über die Schwangerschaft einer „Jungfrau“, also ein übernatürliches Zeichen, das über die mögliche Ursprungssituation im ausgehenden 8. Jh. v. Chr. hinausweist. Deshalb sei es sinnvoll und richtig, entsprechend dem reformatorischen Grundsatz, dass sich die Bibel selbst auslegt, alttestamentliche und neutestamentliche Aussagen in ihrer Bezogenheit aufeinander zu verstehen. Für den Bezug zwischen Jes 7,14 und Mt 1,23 spricht er von einem „Nacheinander, wobei das Neue Testament den Wortsinn im alttestamentlichen Kontext nicht ändert oder aufhebt, sondern im Gegenteil zu seiner Vollendung führt. Dabei kann es geschehen, dass ein zunächst über den historischen Wortsinn hinausgehendes ‚Sinnpotential’ nun zum von der Heiligen Schrift selbst autorisierten Vollsinn bzw. Hauptsinn wird. Es ist dann zugleich der historische Wortsinn – des neutestamentlichen Textes nämlich –, der die Erfüllungsbotschaft enthält.“[7]

Darauf hat im selben Heft von „Lutherische Theologie und Kirche“ Achim Behrens kurz reagiert und die Argumente dafür zusammengestellt, dass die verschiedenen Schriftfassungen eine Theologiegeschichte, ja: eine Offenbarungsgeschichte zum Ausdruck bringen[8] – vom hebräischen Bibeltext, der sowohl jüdisch als auch christlich gelesen werden kann, bis hin zum Text des Matthäusevangeliums im christlichen Neuen Testament.

Trotz mancher Unterschiede in der Methodik wirken die Ergebnisse beider Herangehensweisen doch wiederum recht ähnlich auf mich. Und dieses einander ähnliche Verständnis liegt denn auch hinter meinem eigenen Predigtversuch.

Dazu hebe ich noch hervor, dass ich in den letzten Jahren aus Veröffentlichungen von römisch-katholischer Seite manche interessante Differenzierung zur Kenntnis nehmen konnte: Der frühere Professor an der Universität Gießen, Dr. Ingo Broer, hat 2009 eindeutig zur Beziehung von Jes 7,14 zu Mt 1,23 festgehalten: „Man könnte nun annehmen, dass hier eine direkte innerbiblische ‚Quelle’ der Idee der Jungfrauengeburt vorliege. Das kommt aber nicht infrage, da weder im hebräischen noch im griechischen Text des Alten Testaments die Unberührtheit der jungen Frau hervorgehoben ist. […] Die Gedanken der göttlichen Zeugung und der Gottessohnschaft sind in der Jesajastelle nicht enthalten.“[9]

In besonderer Weise ist interessant, dass seit zwei Jahren eine umfangreiche Studie des benediktischen Bibelexegeten Raphael Schulte vorliegt.[10] Die überwältigende Fülle seiner Arbeitsschritte und Erkenntnisse kann hier in keiner Weise referiert werden. Einige entscheidende Erkenntnisse seien festgehalten:

„In Jes 7 ist ja auch, wie die Exegeten herausstellen, nicht zu erkennen, wer genau mit der ‚[…] Jungfrau’ gemeint ist, noch wer der dort angesagte Immanuel ist; das AT selbst gibt (noch) keine Antwort auf unsere Frage. […] Das Jes-Zitat ist das Wort Jahwes, das er in der damaligen Situation durch Jesaja an das Haus David […] richtete, in die selbstverschuldete äußerste Krisensituation hinein […]. Genau das sieht Matthäus jetzt als erfüllt an! Jahwe hat erfüllt, was er damals verheißen hat […].“[11]

Für den neutestamentlichen Bibeltext gilt nun, dass er vieles nur andeutet und also offen ist für weitergehende Interpretationen, es aber sinnvoll ist, bei den Aussagen zu bleiben, die wirklich eindeutig zur Sprache gebracht werden:

dass „Gott das Hauptsubjekt dessen ist, was dort als Evangelium im matthäischen Sinn ausgesprochen wird“[12],

dass „dem, den Maria gebären wird, der Name ‚Jesus’ gegeben werden soll“, womit zum Ausdruck gebracht wird: „Er ist also persönlich Jahwe-Heil und er erfüllt das, in seinem Lebensauftrag […]“[13],

und schließlich, dass diese Glaubenseinsicht von der Gemeinde rezipiert wird, deren Selbstverständnis in diesem Bibelwort zum Ausdruck kommt: „Jetzt, da Matthäus schreibt, ist es die Jahwe- und Jesus-glaubende Gemeinde, die aufgrund des persönlichen Daseins und Wirkens Jesu erkannt hat und preisend anerkennt, dass er dieser ‚Immanuel’ in Jes 7,14 ist, es im Wirken vollbracht hat und darin bleibt, was ‚Immanuel’ als Wirklichkeit unaufhörlich erleben lässt: Gott-mit-uns, was ja schlicht dasselbe sagt, was ‚Jahwe – Ich-bin-euer (Gott)’ ausspricht (28,20).“[14]

In einer besonderen Weise werde ich die Einsichten von Raphael Schulte aufnehmen: indem ich weitestgehend seiner Übersetzung unseres Bibelwortes folgen werde.[15]

Hinzu kommt noch eine weitere Beobachtung: Der Wortlaut des Textes des Matthäusevangeliums ist in unserem Zusammenhang nicht völlig einheitlich. Es gibt gewichtige Unterschiede zwischen den verschiedenen Textzeugen. Diese Unterschiede machen eine überraschende Beobachtung möglich: Alte Textgestalten in syrischer Sprache bieten unserem Vorverständnis sehr entgegenkommende Formen an. Dabei wurde für mich eine erstaunliche Variante zu Mt 1,21 zum Ausgangspunkt der Aufmerksamkeit auf diese Textformen:

„[…] du sollst ihm den Namen Jesus geben,
denn er wird die Welt von ihren Sünden erretten.“

Hier wird also der Auftrag des Jesus an seinem Volk, an den Juden, ausgeweitet auf uns alle – sofern wir ihm vertrauen und glauben! Deshalb werde ich an den Anfang meiner Predigt eine Textfassung stellen, die die Varianten dieser syrischen Textgestalt berücksichtigt.

Diese Textfassung verstehe ich so, dass mit ihrer Hilfe ein Ausgleich versucht wird zwischen der Aussage der „Davidssohnschaft“ des Christus und der Feststellung, dass er ganz von Gott herkommt. In der allgemein bekannten Textfassung des Matthäusevangeliums wird die Davidssohnschaft über eine Adoption verwirklicht, indem Josef Jesus an Sohnes Statt annimmt. Die Fassung des syrischen Textes hält beides gleichzeitig aus: Josef ist der Vater des Jesus aus Nazaret. Dieser ist aber auch aus Gottesgeist.

Diese Gleichzeitigkeit halte ich für hochinteressant. Sie lässt uns einer bestimmten Frage bewusst werden: Wieso verhalten wir uns an dieser Stelle oft so altmodisch und „materialistisch“? Warum meinen wir, dass ein natürlicher Ursprung des Jesus aus Nazaret die geistliche Einsicht ausschlösse, dass er aus Gottesgeist, dass er also der Christus ist? Kann nicht beides zusammen ausgehalten werden? Ich denke jedenfalls, dass es uns im Jahr 2014 leichter würde, das Wunder der Geburt und des Wirkens des Jesus aus Nazaret wahrzunehmen und anzunehmen, wenn wir beides zusammenhalten können – die natürliche Herkunft Christi und seine Herkunft aus Gottesgeist!

Predigt:

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!“
V. 1     „Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams: […]
V. 16:  Jakob zeugte den Josef, Josef aber, dem Maria, die Jungfrau, verlobt war, zeugte
            Jesus, den Christus Genannten.[16] […]
V. 18:  Die Herkunft Christi war so:
            Als seine Mutter Maria mit Josef verehelicht war,
            noch bevor sie zusammengekommen waren, fand es sich,
dass sie im Schoße hatte aus Gottesgeist.
V. 19:  Josef aber, ihr Mann, der ein Gerechter war und nicht willens, sie der Öffentlichkeit
auszusetzen, wollte sie in aller Stille freigeben.
V. 20:  Als er das alles bedachte,
            siehe da erschien ihm im Traum der Bote des Herrn, der sprach:
            ‚Josef, Sohn Davids, scheue dich nicht, Maria, deine Ehefrau, zu dir zu nehmen,
            weil, wahrhaftig, das in ihr Gezeugte aus Gottesgeist ist.
V. 21:  Sie wird dir einen Sohn gebären,
            und du sollst ihm den Namen Jesus geben,
            denn er wird die Welt von ihren Sünden erretten.
V. 22:  Dies alles aber ist geschehen, damit erfüllt würde,
das Gesagte vom Herrn durch Jesaja, den Propheten, der spricht:
Siehe, die Jungfrau wird im Schoße haben
                        und einen Sohn gebären,
                        und man wird seinen Namen nennen »Immanuel«,
            das ist übersetzt: »Mit-uns-Gott«.’
V. 24:  Aufgewacht vom Schlaf tat Josef, wie ihm der Bote des Herrn befohlen hatte,
            und nahm seine Frau zu sich.
V. 25:  Und er erkannte sie nicht, bis die ihm einen Sohn gebar.
            Und er nannte seinen Namen »Jesus«.“

Liebe Schwestern und Brüder,

liebe Leserinnen und Leser!

Erlauben Sie mir, dass ich vielleicht überraschend beginne: Josef ben Mattanja, der jüdische Historiker des 1. Jh. n. Chr., der unter seinem latinisierten Namen Flavius Josephus bekannter ist, hat ab 71 n. Chr. in Rom gelebt. In dieser Zeit hat er auch sein Werk „Jüdische Altertümer“ geschrieben. In deren 18. Buch erwähnt er Jesus ganz kurz und knapp. Die Wissenschaftler sind sich nicht einig, wie sie diese Notiz bewerten sollen. Manche halten sie für echt, manche für völlig unecht, andere wieder für überarbeitet. Diese dritte Sicht der Dinge würde bedeuten, dass Josef ben Mattanja wirklich Jesus kurz erwähnt hat, dass aber später christliche Abschreiber ihre Glaubensüberzeugungen beim Abschreiben des Textes eingefügt haben. Vielleicht ist ursprünglich: „Zu dieser Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch […]. Und als Pilatus nach Hinweisen unserer führenden Männer ihn zum Kreuz verurteilte, gaben diejenigen, die ihn zuerst geliebt hatten, nicht auf. […] Und noch heute ist der nach ihm genannte Volksstamm der Christen, nicht verschwunden.“ Christliche Abschreiber haben dann Hinzufügungen vorgenommen: „[…] ein weiser Mensch, wenn man ihn einen Menschen nennen darf.“ „Er war der Christus.“ „[…] gaben diejenigen, die ihn zuerst geliebt hatten, nicht auf. Er erschien ihnen nämlich am dritten Tage wieder lebend […].“[17]

Die Aussagen, die also vielleicht in den Text des Josef ben Mattanja eingetragen wurden, verkündigen denselben Glauben, den auch unsere Szene in der Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums predigt: Jesus aus Nazaret ist nicht nur ein bedeutender Mensch gewesen. Er war die Verwirklichung Gottes auf Erden, er ist der Christus. Nach der grausamen Kreuzigungshinrichtung wurde und wird er als auferstanden erlebt und von nun an als der auferstandene Gekreuzigte geglaubt. Das sind die Voraussetzungen für unser Weihnachtsevangelium! Wenden wir uns ihm nun direkt zu:

Wer am Abend des Weihnachtsfestes, faktisch in der Nacht dieses Festes, also zur „Christ-nacht“, wie wir auch sagen, in den Gottesdienst geht oder eben eine Predigt liest, will durchdringen zum eigentlichen Wesen des Festes.

An den vielfältigen Angeboten unserer Weihnachtskultur in unseren Städten und Dörfern haben wir Anteil genommen, sie auch mit gestaltet: An den großartigen Konzerten – wie zum Beispiel in der Frauenkirche in Dresden. An den Weihnachtsmärkten auf so vielen Plätzen unserer Städte – wie zum Beispiel am Christkindlesmarkt in Nürnberg und dem interessanten Markt der internationalen Partnerstädte, der dazugehört. An Unternehmungen mit Freunden – wie zum Beispiel einem Skiwochenende in den Salzburger Alpen. An den gemeinsamen Feierstunden der eigenen Familie – wie zum Beispiel an den Adventssonntagen, zu denen immer eine Kerze mehr entzündet wurde. An den Feiern der Christvesper in unseren Kirchen – vielleicht mit Krippenspiel. Und natürlich an der Feier des Heiligen Abends mit kleinen und größeren Geschenken – wie zum Beispiel im Studentenwohnheim des Martin-Luther-Bundes in Erlangen, in dessen Saal zu jedem Weihnachtsabend die Studierenden und Stipendiaten zusammen feiern, die am 24. und 25. Dezember nicht nach Hause fahren konnten.

All das bringen wir mit und sehen uns neu konfrontiert mit diesem so bekannten und so fremden Bibeltext. Bewusst steht vor unseren Augen nicht einfach die Lutherübersetzung, sondern eine eigene, eine moderne Übersetzung (übrigens von dem österreichischen römisch-katholischen Theologen Raphael Schulte), die ich an den Stellen geändert habe, an denen durch alte syrische Handschriften eine interessante Textgestaltung deutlich wird.

Eine große Frage stellt sich mir: Was verkündigt dieses Bibelwort zum Weihnachtsfest 2014 als Gottesbotschaft? Womit konfrontiert es uns? Worauf stößt es uns?

Wer vielleicht neben diese Übersetzung diejenige unserer lutherischen Tradition legt, wird viele Einzelfragen stellen. Diese können im Rahmen meiner Predigt nicht angesprochen werden. Nur eine sei kurz gestreift: Unser ganzes Vorwissen, unser Herkommen scheint uns dahin zu lenken, dass die Jungfräulichkeit Marias das Entscheidende unserer biblischen Passage sei. Der Benediktiner Raphael Schulte hat in seiner umfänglichen Untersuchung gezeigt, dass das eigentlich gar nicht stimmt. Er hat uns die Augen dafür geöffnet, dass dieses Thema in den Blick tritt, wenn wir über den biblischen Text hinaus denken, Konsequenzen überlegen, Angedeutetes und nicht wirklich Gesagtes erschließen. Wenn wir aber bei dem eigentlichen, knappen und kargen Text bleiben, dann erkennen wir, dass ganz anderes im Vordergrund steht. Das müssen wir an uns heranlassen:

Dass hier Gott als Handelnder verkündigt wird – das ist das Erste. Immer sind Menschen beteiligt. Sie spielen wichtige Rollen. Sie haben die Möglichkeit der richtigen oder der falschen Entscheidung – wie Josef, der erwägt, seine Frau freizugeben, sie vor böser Nachrede zu schützen. Als Gottesfürchtiger wollte er sie nicht der achtungslosen Öffentlichkeit aussetzen, weshalb er sie im Stillen aus der gemeinsam eingegangenen ehelichen Rechtsbindung freizugeben gedachte.[18] Dagegen und dazu wird uns gezeigt, wie Gott korrigiert und zu richtigen Entscheidungen hilft: Gott will nämlich, dass Josef das in Maria werdende Leben als Sohn Davids bestimmt – durch den in Israel allgemein vorgesehenen und ausgeübten Rechtsakt der Namengebung als Erklärung des rechtsverbindlichen Kindseins des Geborenen seitens des Familienhauptes.[19]

Das heißt nun für uns heute: Erkennen wir in unserem Entscheiden und Handeln an, dass Gott schon längst wichtige und gute Fakten geschaffen hat! Die einmalige Situation des Josef soll durchsichtig und durchlässig werden auf die Situationen, in denen wir Entscheidungen treffen und handeln müssen. Weihnachten 2014 sagt uns zuerst: Gott hat schon die nötigen Fakten geschaffen! Darauf können wir bauen!

Nun kenne ich die konkreten Herausforderungen nicht, vor denen Sie stehen, die Sie mit Sorgen oder mit Angst erfüllen. Aber auch für diese gilt die Antwort, die gegeben wird: Hilfe bedeutet die Person, mit der Josef konfrontiert wird, die Maria in sich trägt. Sie ist Helfer auch für uns im ausgehenden Jahr 2014 und im Jahr 2015. Die Art ihrer Hilfe wird durch die Namen zum Ausdruck gebracht, die diese Person trägt: »Jesus«, »Immanuel«.

Vielleicht haben Sie schon beim Lesen jenseits aller Vertrautheit und Gewöhnung doch gestockt und sich gefragt: Wieso konnte Matthäus schreiben:

            „[…] und du sollst ihm den Namen Jesus geben,
           denn er wird die Welt von ihren Sünden erretten.“

Welcher Zusammenhang besteht zwischen »Jesus« und „retten“? Das wird nur aus dem hebräischen Original des Jesus-Namens deutlich. Dies ist ein Satz, der ein Subjekt hat und ein Objekt: „Jahwe ist Rettung“. Sein Name spricht also die Hoffnung auf Rettung aus und nennt zugleich denjenigen, der retten wird: Nämlich Gott. Dieser Glaube ist angesichts der Schreckensbilder und Hiobsbotschaften über unsere Welt eine Zumutung. Doch in Protest gegen diese Erfahrungen sollen wir festhalten: Gott handelt zu unseren Gunsten! Wer das glauben kann, ist ein Kind der Weihnacht.

Und dann dieses Zitat aus dem Alten Testament, das irgendwie vertraut ist, aber auch ganz überraschend und fremd:

„Siehe, die Jungfrau wird im Schoße haben
            und einen Sohn gebären,
            und man wird seinen Namen nennen »Immanuel«,
            (das ist übersetzt: »Mit-uns-Gott«“).

 „Gott mit uns.“ – In der deutschen Geschichte ist dieses Wort schrecklich missbraucht worden: Die Soldaten unserer Armeen trugen es auf dem Koppelschloss, also eingestanzt auf die Gürtelschließe an ihren Hosen. Bis 1945 blieb das so, obwohl Adolf Hitler dies abschaffen wollte – weil er gegen Gott war. Aber durch die Verwendung dieser Worte ist das deutsche Militär geistlich in einer Weise schuldig geworden, wie ich kaum erfassen kann! Solcher Missbrauch darf nie wieder geschehen!

Trotzdem und gerade deshalb gilt uns diese Zusage für Weihnachten 2014 und für das Jahr 2015: Mit uns ist Gott. Wer das zu ahnen und zu glauben beginnt, kann nur erschrecken, aufgerüttelt werden und sich ändern. Wenn Gott mit mir sein mag?! Dann kann ich nur für andere leben! Dann ist mein Leben für mich selbst nur Rast und Wiedererstarken, damit ich mich dann wieder für andere einsetzen kann. Dann erkenne ich in den Bedürftigen Christus und versuche, für sie tätig zu sein – so begrenzt wie es mir eben nur möglich ist.

Unsere Geschichte eröffnet das Matthäusevangelium. Es ist also richtig, einen entsprechenden Pflock gegen Ende des Evangeliums einzuschlagen und den Spannungsbogen wahrzunehmen, durch den unsere Aussage klarer und plastischer wird. Ich schlage vor, bis Mt 25 zu gehen, bis zur Bildrede des Weltgerichts. Dort steht die soziale und zugleich geistliche Dimension, um die es schon zu Beginn des Evangeliums geht:

„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern [und Schwestern], das habt ihr mir getan“ (V. 40).

Weihnachten wird unsere Bereitschaft zur Gastfreundschaft herausgefordert. Dies war schon zu Beginn unseres Nachdenkens gegenwärtig im Hinweis auf die Festgemeinschaft im Studierendenheim des Martin-Luther-Bundes in Erlangen – immer am Abend des 24. Dezember. Schon bei mir zu Hause waren viele Weihnachtsfeste in unserer Familie ähnlich, denn es wurde meist eine alte Dame mit eingeladen, eine Freundin unserer Großmutter, die weiterhin mit in Meiningen lebte. Sie gehörte fest zur Gemeinschaft des Heiligen Abends hinzu, wurde beschenkt und freute sich, wenn wir die Pakete auspacken konnten – auch das von unserer Großmutter aus Westdeutschland. Ich glaube, dass in Gestalt dieser Gastfreundschaft meine Eltern eine wichtige Dimension der Weihnacht gelebt haben. Dazu lade ich auch Sie ein.

Diese ganz familiäre und persönliche Dimension, die gerade am Weihnachtsabend, zur Christnacht also, ihr Recht hat, sei aber zum Abschluss noch einmal aufgebrochen. Der Name des Sohnes „Jesus“ hat eine typische Zielrichtung:

            „[…]denn er wird die Welt von ihren Sünden erretten.“

In der Dezemberausgabe des Kundenmagazins „mobil“ der Deutschen Bahn, das in den ICE-Zügen für die Reisenden frei zur Verfügung gestellt wird, ist eine Werbeseite zu lesen:

„Heute rette ich die Welt. Mit einem Girokonto bei der GLS Bank.“

Um die Kontokarte der GLS-Bank ist zeichnerisch die Erdkugel gestaltet mit verschiedenen Lebenssituationen: ein Bauernhof, eine Bank mit älteren Menschen, ein energetisch modernes Wohnhaus, Symbole für Musik, Wind- und Sonnenkraftwerke.

Merkwürdigerweise hat diese Werbeseite gar nicht mitgeteilt, wer oder was die „GLS-Bank“ ist, und wieso man mit einem Konto bei ihr die „Welt retten“ kann. Es wird nur eine Homepage angegeben: www.sharedichdrum.de, was sowohl auf „schere dich um etwas“, also: „kümmere dich“ hinweist, als auch auf „share“, gleich: „teile“, also engagiere dich zugunsten anderer. Aus den Informationen im Internet habe ich gelernt, dass diese 1974 von Anthroposophen gegründete Gemeinschaftsbank zugunsten freier Schulen und Kindergärten, regenerativer Energien, Behinderteneinrichtungen, nachhaltigem Bauen und Leben im Alter tätig ist, sich aber im Zusammenhang von Alkohol, Atomenergie, Embryonenforschung, Gentechnik, Rüstung, Tabakindustrie, Kinderarbeit und Tierversuchen in keiner Weise finanziell engagiert.[20]

Das alles kann in dieser Predigt nicht diskutiert werden. Aber es gilt: Die Werbung dieses Unternehmens trifft auf die Botschaft von Weihnachten: Obwohl jetzt auch eine früher kirchliche Bank zur GLS-Bank gehört, wird eine Werbung betrieben, die faktisch dem Anspruch unseres Glaubens widerspricht! Jesus wurde in eine Welt hineingeboren, in der sich Herrscher, Politiker und Militärs als „Retter“ verehren ließen. Dem widersprach der Glaube der frühen Christen. Sie entlarvten solche Hoffnungen als Scheinhoffnungen. Denn nur Christus ist Retter. Genau das gilt auch für uns heute: Wenn wir glauben, dass Jesus Christus der Retter ist, dann widersprechen wir Rettungsversprechen in unserer Welt – beziehungsweise schrauben wir solche Rettungsversprechen auf ihr realistisches Maß zurück. Auch so wird Weihnachten!

Amen.

„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“



[1]   Rainer Stahl: »Immanuel« – Gott mit uns?, Mitteilungen und Beträge 8, Forschungsstelle Judentum, Theologische Fakultät Leipzig, 1994, S. 19-36.

[2]   Sekundär hinzugesetzt sind Jesaja 7,8c.15.17a.b.

[3]   A.a.O., S. 30-32.

[4]   A.a.O., S. 29.30.

[5]   A.a.O., S. 34-35.

[6]   Achim Behrens: „Eine Jung(e)frau wird schwanger…“ Jes 7,14 und die „Polyvalenz“ biblischer Texte, Lutherische Theologie und Kirche (LuThK) 37, 2013, S. 88-102.

[7]   Matthias Krieser: „Eine Jung(e)frau wird schwanger…“, zweiter Versuch. Jes 7,14 und Mt 1,23 im Licht des Hermeneutik-Papiers der SELK, LuThK 38,2014, S. 120-133. Zitat: S. 131-132.

[8]   Achim Behrens: Eine kurze Antwort an Matthias Krieser, LuThK 38, 2014, S. 134-138.

[9]   Ingo Broer: Göttliche Zeugung und jungfräuliche Geburt, in: Welt und Umwelt der Bibel 54 – 4/2009, S. 38-39, Zitat: S. 39. Vgl. im selben Heft: Claudio Etti: Leben mit einem Wunderkind, S. 11-17, bes. S. 13. Außerdem verweise ich auf: Markus Lau: „Mit der Geburt Jesu Christi war es so…“, Welt und Umwelt der Bibel 46 – 4/2007, S. 16-21.

[10] Raphael Schulte OSB: Die Herkunft Jesu Christi. Verständnis und Mißverständnis des biblischen Zeugnisses. Eine theologie-kritische Besinnung, Münster 2012.

[11]   A.a.O., S. 95 und 96.

[12]   A.a.O., S. 100.

[13]   A.a.O., S. 111.

[14]   A.a.O., S. 112.

[15]   A.a.O., S. 65.60.64.65.86.103.104.499.

[16]   Die unterstrichenen Passagen geben Textvarianten der syrischen Handschriften „syc“ und „sys“ wieder (vgl. Nestle-Aland: Novum Testamentum graece, Stuttgart 261979).

[17]   Bernhard Lang: Art. „Josephus“, Neues Bibel-Lexikon, Band II, Düsseldorf 1995, Sp. 390. Vgl. auch Christine Gerber: Flavius Josephus und das Neue Testament. Das erste Jahrhundert mit anderen Augen, in: Welt und Umwelt der Bibel, 32 – 2/2004, S. 18-22, bes. S. 22.

[18]   Raphael Schulte OSB: Die Herkunft Jesu Christi. Verständnis und Mißverständnis des biblischen Zeugnisses. Eine theologie-kritische Besinnung, Münster 2012, S. 89.

[19]   A.a.O., S. 93.

[20]   Vgl. GLS Gemeinschaftsbank, Wikipedia, Zugriff am 6.12.2014.