Predigt zu Matthäus 12, 33-37 von Jan Hermelink
12,33
Liebe Gemeinde,
als Predigttext ist uns für heute Abend
ein Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium vorgeschlagen –
Verse aus einer Rede Jesu an die Pharisäer,
Verse, die sich – Sie werden es merken – auch
an die christlichen Leser des Evangeliums richten.
„Gesetzt, ein Baum ist gut, so ist auch seine Frucht gut;
oder gesetzt, der Baum ist faul, so ist auch seine Frucht faul;
denn an der Frucht erkennt man den Baum.
Ihr Schlangenbrut – wie könnt ihr Gutes reden,
wo ihr doch böse seid?
Denn wovon das Herz überfließt, redet der Mund.
Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens
Gutes hervor;
der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatz Böses hervor.
Ich sage euch aber:
Für jedes unnütze Wort, das die Menschen reden werden,
müssen sie Rechenschaft geben am Tage des Gerichts.
Denn aus deinen Worten wirst du gerecht gesprochen werden;
und aus deinen Worten wirst du verurteilt werden.“
(Matthäus 12, 33–37)
Auf Grund deiner Worte wirst du beurteilt werden
im letzten Gericht;
auf Grund deiner Worte wirst du bewahrt oder verdammt werden –
das klingt nicht sehr evangelisch.
Eine solche Gerechtigkeit aus den eigenen Worten
scheint im Widerspruch zu stehen
zur Gerechtigkeit aus dem Glauben,
zum letzten Urteil allein aus dem Vertrauen auf Gottes Güte.
Aber so steht es im Evangelium,
als Rede Jesu, aus seinem Mund:
Es sind deine Worte, die dich qualifizieren oder disqualifizieren;
was immer du gesagt hast und noch sagen wirst,
das wird beurteilt – streng, aber gerecht.
Am Ende, im Gericht Gottes mag es anders sein, evangelischer –
aber jetzt und hier beschreiben diese Worte des Evangeliums
ja nichts anderes als die Realität.
Du wirst beurteilt nach deinen Worten,
du wirst bewertet, benotet, evaluiert – und disqualifiziert,
auf Grund dessen, was du gesagt, oder was du nicht gesagt hast.
Das gilt nicht nur in jedem Gerichtssaal
das gilt nicht nur in der Schule, das gilt auch in der Universität.
Das Ende des Semesters ist noch kaum in Sicht,
und doch wissen Sie, die Studierenden, so wie wir Lehrende:
Spätestens Anfang Februar müssen Sie Rede und Antwort werden,
werden Sie beurteilt und bewertet:
„sehr gut“ oder „mangelhaft“, „pass or fail“.
Es ist nur ein geringer Trost,
dass dies auch für die Lehrenden gilt,
für ihre Promotions- und Habilitationsprüfungen,
für die Aufsätze und Bücher, die gelobt oder verrissen werden
und deren Zeichenzahl zur Grundlage von Forschungsevaluation
und der Chance auf Drittmittel wird.
Du wirst beurteilt nach dem, was du gesagt oder geschrieben hast,
du wirst benotet, evaluiert – und disqualifiziert:
Das gilt auch in der Politik, wo ein falsches Wort
heutzutage die Märkte in Aufruhr versetzt;
das gilt ebenso in der Medizin,
wo – durch ein falsches Wort der Ärztin – Vertrauen und Hoffnung zerstört werden können.
Die Gerechtigkeit aus den guten oder schlechten Werken:
das ist in unserer Gesellschaft, nicht nur in der Universität,
vor allem eine Gerechtigkeit auf Grund von Worten:
Mein Einkommen und mein Fortkommen,
mein Selbstvertrauen und mein Lebensmut –
das alles bemisst sich wesentlich daran, ob ich
– im entscheidenden Moment – die richtigen Worte gefunden habe.
Geht man diesen Zusammenhängen, diesem Gewicht der Worte nach,
so tritt die große Verantwortung in den Blick,
die wir für unsere Worte haben.
Wenn der Prüfling beurteilt wird nach dem, was er oder sie gesagt hat –
dann muss auch der Prüfer sehr genau abwägen, welche Worte er wählt,
im Gutachten wie im Prüfungsgespräch.
Wenn die Angeklagte sich ihre Worte sorgfältig überlegen muss,
dann hat auch der Ankläger, dann hat auch die Richterin
sehr genau zu prüfen, wie das Urteil zu formulieren ist.
Und wenn schließlich auch in der Kirche vieles, ja alles davon abhängt, ob wir Menschen verurteilen oder ermutigen,
ob wir das Urteil wiederholen, das andere über sie gefällt haben,
oder ob wir ihre Worte noch einmal neu und anders hören –
dann muss auch in der Kirche sehr genau bedacht werden,
wie wir reden, welche Worte wir benutzen,
auf welche Worte wir verweisen.
Geht es auch in der Kirche darum, die eigenen Worte zu verantworten,
die eigene Sprache immer wieder kritisch zu prüfen –
dann wird sich diese Kritik
auch auf die biblischen Texte selbst richten müssen.
Auch die Worte der Bibel urteilen und verurteilen;
das ist an der Passage aus dem Matthäus-Evangelium gut zu erkennen.
Auch und gerade für diese ‚heiligen’ Worte müssen wir darum kritische, auch selbstkritische Verantwortung übernehmen.
So werden wir – eine Woche nach dem Gedenken
an die Progrome des 9. November 1938 – darauf achten,
die Worte Jesu nicht an die Falschen zu adressieren.
Bei Matthäus richten sich diese Verse – wie viele andere –
an die Pharisäer: an die besonders treuen,
ja die skrupulösen Traditionalisten im Judentum.
Wir werden darauf achten müssen,
diese Blickrichtung gerade nicht weiterzuführen.
Wenn hier von faulen Früchten,
von Schlangenbrut und von bösen Herzen die Rede ist –
dann richtet sich das (schon bei Matthäus) jedenfalls heute
nicht nur nach außen, an die Anderen –
sondern an die Gemeinde selbst,
an die Leser des Evangeliums – an uns.
Wir selbst sind es, die hier gefragt werden:
Bringt ihr gute oder schlechte, unbrauchbare Früchte?
Erweist ihr euch als gute oder als schlechte Bäume,
als gute oder als böse Menschen?
Allerdings: Diese Vergleiche sind ausgesprochen heikel, riskant,
ja gefährlich – das wird sofort deutlich,
wenn wir sie auf uns selbst beziehen.
Denn so einfach ist es doch in Wahrheit nicht.
Können wir denn von uns sagen,
ob wir fruchtbare oder unfruchtbare Bäume sind?
Ist unser Herz nur gut oder nur böse?
Und können wir von anderen sagen: falsch oder richtig, gut oder böse?
Wilhelm Busch hat es einprägsam formuliert:
„Mein Kind, es sind allhier die Dinge /
gleichviel, ob große, ob geringe,
im Wesentlichen so verpackt, / dass man sie nicht wie Nüsse knackt.
Wie wolltest du dich unterwinden, /
kurzweg die Menschen zu ergründen?
Du kennst sie nur von außerwärts. /
Du siehst die Weste, nicht das Herz.“
Die Rede von den guten und den schlechten Früchten –
sie taugt in Wahrheit nicht dazu,
Menschen zu beurteilen, weder positiv noch negativ.
Menschen sind keine Nüsse, die man einfach knackt
und dann wüsste, wie es in ihrem Inneren aussieht.
Die Rede Jesu kann dann eigentlich nur so gebraucht werden,
dass sie uns, die Lesenden und Hörenden,
auf unsere eigene Verantwortung anspricht,
dass sie uns selbst zur Buße treibt.
Urteilst du nicht selbst zu schnell?
Stehst du nicht selbst in der Gefahr,
mehr als das Äußere beurteilen zu wollen?
„Du siehst die Weste, nicht das Herz“ ...
Rede ich so, dass mein Gegenüber –
der Prüfling, die Kollegin, der Freund –
dass sie sich im Innersten bewertet fühlen?
Theologisch gesprochen, im Gefolge Luthers:
Beurteile ich das Werk der Anderen,
oder meine ich, auch die Person bewerten zu können?
Frage ich – und das ist schwer genug – nach den richtigen Worten,
oder ziele ich doch auf das Herz des Anderen,
diese unausforschliche Schatzkammer,
die von außen unzugänglich bleibt?
Die Rede Jesu, nur so macht sie meines Erachtens Sinn,
diese Rede Jesu zielt auf unser eigenes Urteilen,
unsere eigenen Worte,
ja auf unser eigenes Herz:
Werde ich meiner Verantwortung gerecht?
Wähle ich die richtigen Worte,
die den Anderen gerecht beurteilen – ohne ihm im Inneren zu treffen?
Das ist die Frage, das ist die Anleitung zur Selbstprüfung,
die uns heute, am Buß- und Bettag vorgelegt wird.
Es geht Jesus um das Herz,
um das Innere, das den Blicken der Anderen verborgen ist –
und zwar um das eigene Innere, um mein Herz,
um die Schlangengrube, die ich in mir selbst wahrnehme,
um die tiefe Angst, selbst verurteilt, disqualifiziert zu werden –
und darum um meine eigene Neigung,
Andere zu beurteilen, zu verurteilen, zu disqualifizieren.
Diese Selbstprüfung, dieser kritischer Blick in das eigene Herz
ist der Kern dessen, was wir Buße nennen können.
Dieser Blick ist riskant – wie rasch droht die Gefahr,
dass wir uns das eigene Innere schön reden;
und – wahrscheinlich öfter – die Gefahr,
im eigenen Inneren nur noch Schlangen, nur noch faules Holz
und verdorbene Früchte zu sehen?
Aber zugleich hat Sokrates recht:
„Ein Leben ohne Selbsterforschung
verdient gar nicht, gelebt zu werden.“
Wenn ich mir nicht selbst ins Gesicht schauen kann,
wenn ich nicht für mich selbst Verantwortung übernehme,
für meine Worte wie für meine Taten,
für meine Beurteilungen wie für meine Irrtümer –
dann werde ich dem Leben nicht gerecht,
dann verfehle ich meine Bestimmung als Mensch,
der Rede und Antwort stehen muss –
vor sich selbst, vor Anderen – und am Ende vor Gott.
Wie ist das möglich?
Wie halte ich den Blick auf meine Fehler und Schwächen aus,
auf meine Worte, die Anderen nicht gerecht geworden sind,
auf meine oberflächlichen, leichtfertigen Urteile?
Anders gesagt: Wie ist Buße möglich?
Die Rede Jesu im Matthäus-Evangelium sagt dazu nichts;
das ist ihre Grenze.
Es sind andere Stimmen in der Bibel,
im Alten wie im Neuen Testament,
die daran erinnern:
Es ist Gott, zuerst und zuletzt ist es Gott, der mein Herz sieht,
der die Schätze erkennt und auch das Verdorbene,
das Unschlüssige wie den guten Willen.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist,
er sieht „die Weste, nicht das Herz“ –
nur Gott sieht wirklich in mein Herz.
Was ist das für ein Blick, mit dem ich hier angesehen werde?
Es wäre zu leicht, zu sagen: ein vergebender, ein gütiger Blick.
So einfach ist das nicht;
das weiß jeder, der sich selbst gründlich erforscht.
So leicht ist es nicht mit der Buße;
und so leicht ist es nicht mit der Vergebung.
Gott sieht – wie niemand anders – das Gute wie das Böse,
sas sich in meinem Herzen befindet.
Der Blick Gottes ist, so denke ich, ein sehr genauer Blick;
er reicht tiefer als jede philosophische Reflexion,
auch weiter als jede Psychoanalyse.
Es ist der Blick des Feigenbaum-Besitzers, von dem Lukas erzählt
– wir haben die Geschichte vorhin gehört:
der Besitzer, der sich seinen Baum jedes Jahr sehr genau anschaut,
und der feststellt: Wieder keine Früchte. Ein unnützer Baum!
Und Gottes Blick, das ist zugleich der Blick des Gärtners,
der die Feigenbäume ebenfalls sehr genau kennt,
weil er sie bewässert, regelmäßig düngt und den Boden lockert.
Dieser Blick des Gärtners, so stelle ich es mir vor,
sieht den Feigenbaum ebenfalls sehr genau;
er sieht seine verborgenen Schwächen und seine Möglichkeiten.
„Gib ihm noch ein Jahr“, sagt er zum Besitzer des Gartens;
und gib mir noch ein Jahr, mich um diesen Baum zu kümmern.
Dieser Blick des Gärtners trifft unser Inneres:
mit seinen guten und seinen verderbenden Schätzen,
mit dem, was wankt und mit dem, was noch wächst.
Es ist der Blick Jesu, der uns hier begegnet:
ein Blick, der um Geduld wirbt,
vor allem um Geduld mit uns selbst
ein erwartungsvoller und zuversichtlicher Blick.
Es ist dieser Blick von außen, der Blick Jesu
der mir den Mut gibt, selbst noch einmal genauer hinzuschauen:
nach meinen Grenzen und meinen Möglichkeiten,
nach meinen Worten und dem, was ich damit anrichten kann,
an Bösem wie an Gutem.
Dieser genaue Blick des Gärtners, der Blick Jesu
möge uns das Herz öffnen,
er möge uns hören lassen auf sein erstes Wort:
„Tut Buße,
denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“
Amen.
als Predigttext ist uns für heute Abend
ein Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium vorgeschlagen –
Verse aus einer Rede Jesu an die Pharisäer,
Verse, die sich – Sie werden es merken – auch
an die christlichen Leser des Evangeliums richten.
„Gesetzt, ein Baum ist gut, so ist auch seine Frucht gut;
oder gesetzt, der Baum ist faul, so ist auch seine Frucht faul;
denn an der Frucht erkennt man den Baum.
Ihr Schlangenbrut – wie könnt ihr Gutes reden,
wo ihr doch böse seid?
Denn wovon das Herz überfließt, redet der Mund.
Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens
Gutes hervor;
der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatz Böses hervor.
Ich sage euch aber:
Für jedes unnütze Wort, das die Menschen reden werden,
müssen sie Rechenschaft geben am Tage des Gerichts.
Denn aus deinen Worten wirst du gerecht gesprochen werden;
und aus deinen Worten wirst du verurteilt werden.“
(Matthäus 12, 33–37)
Auf Grund deiner Worte wirst du beurteilt werden
im letzten Gericht;
auf Grund deiner Worte wirst du bewahrt oder verdammt werden –
das klingt nicht sehr evangelisch.
Eine solche Gerechtigkeit aus den eigenen Worten
scheint im Widerspruch zu stehen
zur Gerechtigkeit aus dem Glauben,
zum letzten Urteil allein aus dem Vertrauen auf Gottes Güte.
Aber so steht es im Evangelium,
als Rede Jesu, aus seinem Mund:
Es sind deine Worte, die dich qualifizieren oder disqualifizieren;
was immer du gesagt hast und noch sagen wirst,
das wird beurteilt – streng, aber gerecht.
Am Ende, im Gericht Gottes mag es anders sein, evangelischer –
aber jetzt und hier beschreiben diese Worte des Evangeliums
ja nichts anderes als die Realität.
Du wirst beurteilt nach deinen Worten,
du wirst bewertet, benotet, evaluiert – und disqualifiziert,
auf Grund dessen, was du gesagt, oder was du nicht gesagt hast.
Das gilt nicht nur in jedem Gerichtssaal
das gilt nicht nur in der Schule, das gilt auch in der Universität.
Das Ende des Semesters ist noch kaum in Sicht,
und doch wissen Sie, die Studierenden, so wie wir Lehrende:
Spätestens Anfang Februar müssen Sie Rede und Antwort werden,
werden Sie beurteilt und bewertet:
„sehr gut“ oder „mangelhaft“, „pass or fail“.
Es ist nur ein geringer Trost,
dass dies auch für die Lehrenden gilt,
für ihre Promotions- und Habilitationsprüfungen,
für die Aufsätze und Bücher, die gelobt oder verrissen werden
und deren Zeichenzahl zur Grundlage von Forschungsevaluation
und der Chance auf Drittmittel wird.
Du wirst beurteilt nach dem, was du gesagt oder geschrieben hast,
du wirst benotet, evaluiert – und disqualifiziert:
Das gilt auch in der Politik, wo ein falsches Wort
heutzutage die Märkte in Aufruhr versetzt;
das gilt ebenso in der Medizin,
wo – durch ein falsches Wort der Ärztin – Vertrauen und Hoffnung zerstört werden können.
Die Gerechtigkeit aus den guten oder schlechten Werken:
das ist in unserer Gesellschaft, nicht nur in der Universität,
vor allem eine Gerechtigkeit auf Grund von Worten:
Mein Einkommen und mein Fortkommen,
mein Selbstvertrauen und mein Lebensmut –
das alles bemisst sich wesentlich daran, ob ich
– im entscheidenden Moment – die richtigen Worte gefunden habe.
Geht man diesen Zusammenhängen, diesem Gewicht der Worte nach,
so tritt die große Verantwortung in den Blick,
die wir für unsere Worte haben.
Wenn der Prüfling beurteilt wird nach dem, was er oder sie gesagt hat –
dann muss auch der Prüfer sehr genau abwägen, welche Worte er wählt,
im Gutachten wie im Prüfungsgespräch.
Wenn die Angeklagte sich ihre Worte sorgfältig überlegen muss,
dann hat auch der Ankläger, dann hat auch die Richterin
sehr genau zu prüfen, wie das Urteil zu formulieren ist.
Und wenn schließlich auch in der Kirche vieles, ja alles davon abhängt, ob wir Menschen verurteilen oder ermutigen,
ob wir das Urteil wiederholen, das andere über sie gefällt haben,
oder ob wir ihre Worte noch einmal neu und anders hören –
dann muss auch in der Kirche sehr genau bedacht werden,
wie wir reden, welche Worte wir benutzen,
auf welche Worte wir verweisen.
Geht es auch in der Kirche darum, die eigenen Worte zu verantworten,
die eigene Sprache immer wieder kritisch zu prüfen –
dann wird sich diese Kritik
auch auf die biblischen Texte selbst richten müssen.
Auch die Worte der Bibel urteilen und verurteilen;
das ist an der Passage aus dem Matthäus-Evangelium gut zu erkennen.
Auch und gerade für diese ‚heiligen’ Worte müssen wir darum kritische, auch selbstkritische Verantwortung übernehmen.
So werden wir – eine Woche nach dem Gedenken
an die Progrome des 9. November 1938 – darauf achten,
die Worte Jesu nicht an die Falschen zu adressieren.
Bei Matthäus richten sich diese Verse – wie viele andere –
an die Pharisäer: an die besonders treuen,
ja die skrupulösen Traditionalisten im Judentum.
Wir werden darauf achten müssen,
diese Blickrichtung gerade nicht weiterzuführen.
Wenn hier von faulen Früchten,
von Schlangenbrut und von bösen Herzen die Rede ist –
dann richtet sich das (schon bei Matthäus) jedenfalls heute
nicht nur nach außen, an die Anderen –
sondern an die Gemeinde selbst,
an die Leser des Evangeliums – an uns.
Wir selbst sind es, die hier gefragt werden:
Bringt ihr gute oder schlechte, unbrauchbare Früchte?
Erweist ihr euch als gute oder als schlechte Bäume,
als gute oder als böse Menschen?
Allerdings: Diese Vergleiche sind ausgesprochen heikel, riskant,
ja gefährlich – das wird sofort deutlich,
wenn wir sie auf uns selbst beziehen.
Denn so einfach ist es doch in Wahrheit nicht.
Können wir denn von uns sagen,
ob wir fruchtbare oder unfruchtbare Bäume sind?
Ist unser Herz nur gut oder nur böse?
Und können wir von anderen sagen: falsch oder richtig, gut oder böse?
Wilhelm Busch hat es einprägsam formuliert:
„Mein Kind, es sind allhier die Dinge /
gleichviel, ob große, ob geringe,
im Wesentlichen so verpackt, / dass man sie nicht wie Nüsse knackt.
Wie wolltest du dich unterwinden, /
kurzweg die Menschen zu ergründen?
Du kennst sie nur von außerwärts. /
Du siehst die Weste, nicht das Herz.“
Die Rede von den guten und den schlechten Früchten –
sie taugt in Wahrheit nicht dazu,
Menschen zu beurteilen, weder positiv noch negativ.
Menschen sind keine Nüsse, die man einfach knackt
und dann wüsste, wie es in ihrem Inneren aussieht.
Die Rede Jesu kann dann eigentlich nur so gebraucht werden,
dass sie uns, die Lesenden und Hörenden,
auf unsere eigene Verantwortung anspricht,
dass sie uns selbst zur Buße treibt.
Urteilst du nicht selbst zu schnell?
Stehst du nicht selbst in der Gefahr,
mehr als das Äußere beurteilen zu wollen?
„Du siehst die Weste, nicht das Herz“ ...
Rede ich so, dass mein Gegenüber –
der Prüfling, die Kollegin, der Freund –
dass sie sich im Innersten bewertet fühlen?
Theologisch gesprochen, im Gefolge Luthers:
Beurteile ich das Werk der Anderen,
oder meine ich, auch die Person bewerten zu können?
Frage ich – und das ist schwer genug – nach den richtigen Worten,
oder ziele ich doch auf das Herz des Anderen,
diese unausforschliche Schatzkammer,
die von außen unzugänglich bleibt?
Die Rede Jesu, nur so macht sie meines Erachtens Sinn,
diese Rede Jesu zielt auf unser eigenes Urteilen,
unsere eigenen Worte,
ja auf unser eigenes Herz:
Werde ich meiner Verantwortung gerecht?
Wähle ich die richtigen Worte,
die den Anderen gerecht beurteilen – ohne ihm im Inneren zu treffen?
Das ist die Frage, das ist die Anleitung zur Selbstprüfung,
die uns heute, am Buß- und Bettag vorgelegt wird.
Es geht Jesus um das Herz,
um das Innere, das den Blicken der Anderen verborgen ist –
und zwar um das eigene Innere, um mein Herz,
um die Schlangengrube, die ich in mir selbst wahrnehme,
um die tiefe Angst, selbst verurteilt, disqualifiziert zu werden –
und darum um meine eigene Neigung,
Andere zu beurteilen, zu verurteilen, zu disqualifizieren.
Diese Selbstprüfung, dieser kritischer Blick in das eigene Herz
ist der Kern dessen, was wir Buße nennen können.
Dieser Blick ist riskant – wie rasch droht die Gefahr,
dass wir uns das eigene Innere schön reden;
und – wahrscheinlich öfter – die Gefahr,
im eigenen Inneren nur noch Schlangen, nur noch faules Holz
und verdorbene Früchte zu sehen?
Aber zugleich hat Sokrates recht:
„Ein Leben ohne Selbsterforschung
verdient gar nicht, gelebt zu werden.“
Wenn ich mir nicht selbst ins Gesicht schauen kann,
wenn ich nicht für mich selbst Verantwortung übernehme,
für meine Worte wie für meine Taten,
für meine Beurteilungen wie für meine Irrtümer –
dann werde ich dem Leben nicht gerecht,
dann verfehle ich meine Bestimmung als Mensch,
der Rede und Antwort stehen muss –
vor sich selbst, vor Anderen – und am Ende vor Gott.
Wie ist das möglich?
Wie halte ich den Blick auf meine Fehler und Schwächen aus,
auf meine Worte, die Anderen nicht gerecht geworden sind,
auf meine oberflächlichen, leichtfertigen Urteile?
Anders gesagt: Wie ist Buße möglich?
Die Rede Jesu im Matthäus-Evangelium sagt dazu nichts;
das ist ihre Grenze.
Es sind andere Stimmen in der Bibel,
im Alten wie im Neuen Testament,
die daran erinnern:
Es ist Gott, zuerst und zuletzt ist es Gott, der mein Herz sieht,
der die Schätze erkennt und auch das Verdorbene,
das Unschlüssige wie den guten Willen.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist,
er sieht „die Weste, nicht das Herz“ –
nur Gott sieht wirklich in mein Herz.
Was ist das für ein Blick, mit dem ich hier angesehen werde?
Es wäre zu leicht, zu sagen: ein vergebender, ein gütiger Blick.
So einfach ist das nicht;
das weiß jeder, der sich selbst gründlich erforscht.
So leicht ist es nicht mit der Buße;
und so leicht ist es nicht mit der Vergebung.
Gott sieht – wie niemand anders – das Gute wie das Böse,
sas sich in meinem Herzen befindet.
Der Blick Gottes ist, so denke ich, ein sehr genauer Blick;
er reicht tiefer als jede philosophische Reflexion,
auch weiter als jede Psychoanalyse.
Es ist der Blick des Feigenbaum-Besitzers, von dem Lukas erzählt
– wir haben die Geschichte vorhin gehört:
der Besitzer, der sich seinen Baum jedes Jahr sehr genau anschaut,
und der feststellt: Wieder keine Früchte. Ein unnützer Baum!
Und Gottes Blick, das ist zugleich der Blick des Gärtners,
der die Feigenbäume ebenfalls sehr genau kennt,
weil er sie bewässert, regelmäßig düngt und den Boden lockert.
Dieser Blick des Gärtners, so stelle ich es mir vor,
sieht den Feigenbaum ebenfalls sehr genau;
er sieht seine verborgenen Schwächen und seine Möglichkeiten.
„Gib ihm noch ein Jahr“, sagt er zum Besitzer des Gartens;
und gib mir noch ein Jahr, mich um diesen Baum zu kümmern.
Dieser Blick des Gärtners trifft unser Inneres:
mit seinen guten und seinen verderbenden Schätzen,
mit dem, was wankt und mit dem, was noch wächst.
Es ist der Blick Jesu, der uns hier begegnet:
ein Blick, der um Geduld wirbt,
vor allem um Geduld mit uns selbst
ein erwartungsvoller und zuversichtlicher Blick.
Es ist dieser Blick von außen, der Blick Jesu
der mir den Mut gibt, selbst noch einmal genauer hinzuschauen:
nach meinen Grenzen und meinen Möglichkeiten,
nach meinen Worten und dem, was ich damit anrichten kann,
an Bösem wie an Gutem.
Dieser genaue Blick des Gärtners, der Blick Jesu
möge uns das Herz öffnen,
er möge uns hören lassen auf sein erstes Wort:
„Tut Buße,
denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“
Amen.
Perikope