Predigt zu Matthäus 17,1-9 von Walter Meyer-Roscher
17,1-9

Predigt zu Matthäus 17,1-9 von Walter Meyer-Roscher

Liebe Gemeinde,

„Dort oben über den Wolken, so scheint es, liegt der Ort der Glückseligkeit“. Ein hoffnungsvoller Blick über die eigene Begrenztheit hinaus, ein vielversprechendes Bild!

So hat der römische Dichter Petrarca einmal bei einer Bergbesteigung sich und seine Begleiter ermuntert. Dort oben, über den Wolken!

Die drei Jünger, die Jesus bei seinem Aufstieg auf den Berg Tabor begleiten, erleben es ähnlich. Sie sind überwältigt,

Das letzte Gemälde Raphaels, an dem er bis zu seinem Tod 1520 gearbeitet hat, verdeutlicht es. Wir sehen die Jünger auf dem Gipfel des Berges: Atemlos, in sich versunken, nicht mehr gefangen in den Zwängen der Niederungen des Lebens, entrückt in die Nähe Jesu. Der schwebt in strahlendem Glanz eines göttlichen Lichts über ihnen. Neben ihm, auch sie schwebend, sind Mose und Elia zu sehen als Repräsentanten der Glaubenstradition und Gottesverehrung, aus der die Jünger und auch all die anderen in der Umgebung Jesu kommen. Dort oben, über den Wolken, so scheint es, liegt der Ort der Glückseligkeit.

Raphael hat sein Bild Il trasfigurazione, die Verklärung, genannt. Ja, da oben ist alles verklärt, liegt in einem klaren, glänzenden Licht, das aus den menschlich-allzu menschlichen Niederungen des Lebens und aus den Widrigkeiten der Welt befreit.

Und was ist mit denen, die unten, unter den Wolken, zurückgeblieben sind? Raphael hat sie in seinem Bild nicht vergessen. Sie sind in der unteren Bildhälfte zu sehen, in die der Maler jene Szene hineinkomponiert hat, die Matthäus seinem Bericht von der Verklärung Jesu folgen lässt. In meiner Lutherbibel ist sie überschrieben: Die Heilung eines mondsüchtigen Kindes.

In der Mitte steht,  neben dem Vater, der um seinen kranken Sohn bangt, der Sohn selbst – ein junger, kranker, bemitleidenswerter Mensch, der einen Arm hilfesuchend ausstreckt. Seine ganze Gestalt drückt Schmerz und Hilflosigkeit aus.

Jesus ganz oben in Raphaels Bild, zusammen mit seinen drei Jüngern und  den beiden  Glaubenszeugen, der kranke Junge mit seinem Vater ganz unten. Wo ist denn nun der Ort der Glückseligkeit?

Ich habe jetzt noch ein anderes Bild vor Augen – ein Bild aus der Welt von heute, für viele ein Sinn-Bild der Gegenwart. Ich habe es vor wenigen Wochen mit der  Weihnachtspost bekommen. Es zeigt ein Bergpanorama in herrlichem Sonnenschein. Alle Gipfel glänzen  über den Wolken. Auf der Bergspitze im Vordergrund  thront das übermächtige Logo einer globalen Institution der Finanz- und Wirtschaftswelt. Ein einzelner kleiner Mensch steht vor ihm, überflutet vom Glanz dieses quasi-göttlichen Herrschaftszeichens. Er soll wohl denken und glauben: hier oben, über den Wolken, liegt der Ort der Glückseligkeit und ich habe ihn erreicht. Ich bin dabei. Ich will auch mein Glück genießen, das Geld, Wohlstand und Sicherheit bedeutet, auch Erfolg und Anerkennung, ein wenig sogar Macht über andere, die irgendwo da unten sind – unter den Wolken, im Dunkeln. Aber die im Dunkeln, da hat Bert Brecht schon Recht, sieht man nicht. Es ist, als gäbe es sie gar nicht mehr.

Und doch sind sie da und warten auf uns, so wie sie in Raphaels Gemälde auf den verklärten Jesus und auf die drei Jünger warten. Die würden in diesem Augenblick ihres Glücks gern verweilen, eines Glücks in der Nähe dessen, in dem sie Gottes Licht wie das Licht einer leuchtenden, wärmenden, lebendig machenden Sonne sehen und als Nähe, als Zuwendung, als schützende Begleitung erfahren.

 „Verweile doch, du bist so schön“, aber der Augenblick ist nicht von Dauer, auch dieser nicht. Es wird nichts mit den Hütten, die die Jünger da oben über den Wolken gern gebaut hätten. Sie wollen Jesus in dieser verklärten Gestalt, sie wollen die glaubensstarken Zeugen dieses Augenblicks für sich selbst, für den eigenen Glauben festhalten. Gott lässt es nicht zu.

Offenbar liegt ihm nichts an heiligen, weltabgeschiedenen Räumen, an Kathedralen, Kirchen, Häusern und Hütten, in denen Menschen die Glückseligkeit ihres Glaubens festhalten, als unverrückbare Dogmen bewahren und sich damit auch vor den Hilferufen aus der Tiefe unter der Wolke abzukapseln suchen.

Ja, es gibt sie, die Augenblicke des Glücks, Augenblicke der Gewissheit von Lebenserfüllung, von  der Ruhe im Sturm der Anforderungen und Erwartungen an uns, unsere Lebenseinstellung und unsere Lebensleistung. Es gibt die Augenblicke auf dem Gipfel, in denen Menschen trotz aller Angst  den Zuspruch hören: „Fürchtet euch nicht“.

Aber nach jedem Augenblick des Ausruhens geht es weiter. Der Glaube hat weniger mit Besitzen, Festhalten und Konservieren zu tun, auch nicht mit der kritiklosen Unterwerfung unter Lehrsätze und Frömmigkeitsrituale, mehr jedoch mit Weitergehen, der Hoffnung folgen, sein Leben immer wieder an den Worten und Taten dessen ausrichten, der sagt: Fürchtet euch nicht.

Matthäus lässt da Gott selbst zu Wort kommen, der sich zu Jesus und seinem Auftrag bekennt: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören“.  Mit dieser Aufforderung beginnt der Abstieg zu denen, die unten warten.

Dir drei Jünger müssen wieder zurück. Sie müssen absteigen. Jesus, der ihnen für einen entscheidenden Augenblick Gottes Wesen als Licht, als Leben in der Klarheit und in der Wärme einer leuchtenden Sonne enthüllt hat, steigt mit ihnen ab als ihr Menschenbruder. Er steigt ab, um  für das Leiden, die Hilflosigkeit, die Ohnmacht seiner Mitmenschen offen zu sein. Er geht  auf sie zu und ist für sie da - gerade für die im Dunkeln, die so viele andere Menschen gar  nicht sehen wollen.

Die Jünger erleben mit, wie er auf die verzweifelte Bitte eines Vaters eingeht und dessen kranken Sohn heilt. So gibt es der Evangelist wieder. So hat es auch Raphael in seinem Gemälde getan. Die Verklärung da oben über den Wolken wird zu einer Erklärung für alle, die unten warten und auf Hilfe hoffen, zu einer Erklärung Gottes.

Gott erklärt seine Liebe zu dem, an dem er Wohlgefallen hat, Jesus. Er erklärt, dass er auf ihn seine Hoffnung setzt. Und das ist neue Hoffnung auch für alle, denen so viel fehlt zum Menschsein: die Gesundheit und die Kraft mitzuhalten, nicht aufzugeben; die auf menschenwürdige Behandlung warten, um sich in einer solidarischen Gesellschaft aufgehoben zu fühlen,  auf ein Zuhause, aus dem man nicht wieder verjagt und das nicht immer in Frage gestellt wird; die vergeblich nach der  Möglichkeit fragen, sich friedlich untereinander verständigen zu können, ohne sich vor Gewalt und Brutalität ducken zu müssen.

Auf ihn sollt ihr hören, so erklärt sich Gott denen da unten. Er, Jesus, verkörpert Menschsein und Mitmenschlichkeit. Er lebt es und er fordert unsere Zustimmung, unseren Einsatz für Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit.

Diese Erklärung Gottes brauchen wir zum Leben, zur Lebenserfüllung, die mehr ist als ein Augenblick der Glückseligkeit. Gottes Erklärung bedeutet neue Hoffnung auch für die, die angeblich solche Hoffnung gar nicht brauchen,  weil sie schon alles erreicht haben, weil sie doch ihre Glückseligkeit über den Wolken durch Leistung erworben, mit Geld erkauft, mit unerbittlichem Durchsetzungsvermögen verteidigt haben.

Gott sagt: auf ihn sollt ihr hören, der euch aus dieser Verblendung befreien und auch vor dem Absturz in die Unmenschlichkeit eines Lebens im Egoismus bewahren kann. Gottes Erklärung zeigt allen einen Weg, der nicht auf den Gipfeln der Glückseligkeit endet, sondern weiter führt, immer auf andere zu.

Hinter ihnen wird der sichtbar, der Gottes Erklärung angenommen und weitergegeben hat, der den Weg nach Gethsemane und dann nach Golgatha gegangen ist. Dabei hat er wieder gerade die mitgenommen , die seine Verklärung erlebt haben . Er  bleibt für sie der, der ihnen an den Grenzen, die sie erfahren mussten, die wir alle erfahren müssen, gesagt hat: fürchtet euch nicht.

Auf ihn sollt ihr hören, hat Gott erklärt. Das gilt in unseren glücklichen Augenblicken da  oben über den Wolken von Sorgen und Angst, von Schwermut und Niedergeschlagenheit. Das gilt ebenso, vielleicht noch mehr auf den Abstiegen in die Zwänge, auch in die Niederlagen unseres alltäglichen Lebens. Wir brauchen seine Worte des Zuspruchs, die uns die Angst nehmen und Mut machen, weiter zu gehen – auf die zu, die auf uns warten. Dann ist auch jeder Abstieg ein Weg in die richtige Richtung. Dann bleibt es dabei, dass einer auch dann, wenn wir uns schon am Boden wähnen, sagt: „Steht auf und fürchtet euch nicht“. Dann behält der Evangelist Matthäus Recht, wenn er gegen Ende dieser Geschichte von den Jüngern berichtet: „Und als sie ihre Augen hoben, sahen sie niemand als Jesus allein“. Das ist auch genug. Amen