Predigt zu Matthäus 20,1-16a von Angelika Überrück
20,1-16

Predigt zu Matthäus 20,1-16a von Angelika Überrück

Liebe Gemeinde,
„Paul ist acht Jahre alt. Paul braucht Geld: 6,50 €. Er möchte sich dafür etwas kaufen. Verdienen kann er noch nichts. Bitte sagen mag er nicht. Da fällt ihm etwas ein: Er schreibt seiner Mutter eine Rechnung:
Für das Anziehen der kleinen Schwester  1,50 €
Für das Aufpassen  2,00 €
Fürs Einkaufen   3,00 €
Macht zusammen  6,50 €
Vor dem Mittagessen legt er diese Rechnung heimlich unter den Teller der Mutter. Mutter findet den Zettel. Sie liest ihn. Sie schaut Paul an. Sie sagt kein Wort. Sie legt den Zettel in die Kommode. Paul weiß gar nicht, was er davon halten soll. Er ist ganz aufgeregt.
Am Abend liegen unter seinem Teller zwei kleine Briefe. In dem ersten Brief sind 6,50 €. In dem anderen Brief liegt ein Zettel: Rechnung von der Mutter:
Für Essen und Trinken   0,00 €
Fürs Waschen, Plätten und Flicken der Sachen   0,00 €
Für die Pflege bei Krankheit  0,00 €
Für Erziehung  0,00 €
Fürs Liebhaben  0,00 €
Macht zusammen   0,00 €
Als Paul das liest, wird er sehr nachdenklich. Leise steht er auf und geht in die Küche. Leise legt er das Geld auf den Küchentisch. Dann geht er schnell wieder hinaus.“
(Siehe: Vorlesebuch Religion 1, S. 21, Die Rechnung)

Soweit diese Geschichte. Sie kann verdeutlichen, worum es in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg geht. Paul rechnet wie die Arbeiter, die am Ende eines langen Arbeitstages vor dem Verwalter des Weinberges in der Schlange stehen und auf die Auszahlung ihres Lohns warten. Paul möchte, dass seine Arbeit gerecht bewertet wird und versucht den Wert seiner Arbeit selber abzuschätzen. Auch die Arbeiter im Weinberg haben gearbeitet, um einen gerechten Lohn zu erhalten. Die, die den ganzen Tag gearbeitet haben, wissen, was vereinbart ist. Sie haben gearbeitet mit der Überzeugung, dass ihr versprochener Lohn nach den damaligen Maßstäben für einen Tag Lebensunterhalt reichen müsste. Die anderen Arbeiter werden darauf hoffen, wenigstens genug für eine Mahlzeit zu bekommen.
Und dann kommt die Lohnauszahlung: allerdings sowohl in dem Gleichnis als auch in der Geschichte von Paul und seiner Mutter mit einer überraschenden Wendung.
Die Mutter zählt ihre Leistungen genauso wie Paul auf, kommt aber in der Summe zu einem ganz anderen Ergebnis. Denn sie liebt Paul und deshalb rechnet sie nicht auf, deshalb berechnet sie nicht. Die Mutter verschenkt das, was sie hat. Auch der Weinbergbesitzer entlohnt nicht nach Leistung. Sondern er gibt jedem so viel, wie er es für richtig hält. Er beschenkt einige der Arbeiter, damit auch sie genug haben, um durch den nächsten Tag zu kommen. Ihm ist es wichtig, dass es allen gut geht.
Dass die Mutter ihre Leistungen, ihr Handeln in und für die Familie verschenkt, ist für uns selbstverständlich. Der Weinbergbesitzer dagegen verletzt mit seiner Art der Lohnauszahlung unser Gerechtigkeitsempfinden. Nach unseren menschlichen Maßstäben gemessen ist es ungerecht, dass alle, egal wie lange sie gearbeitet haben, den gleichen Lohn erhalten.
Wenn wir dieses Gleichnis mit den Konfirmanden als Rollenspiel nachspielen, dann beginnen immer sofort Diskussionen, wie man diese Ungerechtigkeit beseitigen kann. Die Konfirmanden spielen, dass sich die Arbeiter zusammenschließen, einen Sprecher wählen, der für sie und ihre vermeintlichen Rechte eintritt. Der dafür sorgen soll, dass doch noch alle zu einem gerechten Lohn kommen. Und derjenige, der den Weinbergbesitzer spielt, hat eine schwierige Aufgabe. Denn den anderen klar zu machen, dass ihnen kein Unrecht geschieht, sondern sie den vereinbarten Lohn bekommen, ist nicht einfach. Wenn ich dann frage, welche Überschrift man diesem Gleichnis geben könnte, kommt oft als Vorschlag „vom ungerechten Lohn“ oder „vom ungerechten Weinbergbesitzer“. Die Auszahlungsart dieses Weinbergbesitzers passt eben nicht zu unserer Vorstellung von Gerechtigkeit, von menschlicher Gerechtigkeit, von Bezahlung nach Leistung.
Was gerecht und was ungerecht ist lernen wir von klein auf. Wir lernen es, weil wir eine Ahnung davon haben, dass mehr Gerechtigkeit unser Zusammenleben besser macht. Dabei vergleichen wir und bewerten Abweichungen als ungerecht. Schon kleine Kinder achten darauf, dass kein Kind mehr bekommt. Da wird jedes Gummibärchen, jedes Stück Schokolade abgezählt und geteilt. Wer sich mehr nimmt, auf den sind die anderen sauer. Wir haben letztes Jahr im Kindergottesdienst in einer Einheit zum Thema Gerechtigkeit allen Kindern ein Gummibärchen gegeben und nur einem Kind eine kleine Tüte voll. Das gab Grummeln, Rumoren und Wut. Erst als zum Schluss dann alle auch eine kleine Tüte voll erhielten, war der Friede wieder hergestellt. Wenn nicht alle das gleiche erhalten, ist es ungerecht.
Andererseits ärgern wir uns bei dem Gleichnis gerade darüber, dass alle gleich behandelt werden. Weil Gerechtigkeit, so wie wir sie verstehen, auch immer etwas mit  Leistung und Gegenleistung zu tun hat. Und wenn Leistung und Gegenleistung nicht miteinander übereinstimmen, empfinden wir es als ungerecht.
Und so bemühen wir uns ein Leben lang, gerecht zu sein, merken aber immer wieder, dass es nicht gerecht zugeht.
An diesem Wochenende hat es Zeugnisse gegeben. Da erwarten wir, dass die Noten gerecht vergeben wurden. Für gute Leistung gute Noten und für schlechte Leistungen schlechte Noten. Ich kenne viele Eltern, die den Wert ihres Kindes nach den Noten beurteilen und deshalb unbedingt bei den Zeugniskonferenzen dabei sein möchten. Schade, denke ich dann immer, denn wie viel wichtiger wäre es, sich an anderen Stellen für die Kinder zu engagieren und gerade denen zur Seite zu stehen, die nicht so gut sind. Denn manchmal sind Noten gar nicht so gerecht. Da stimmt die Chemie zwischen Schüler und Lehrer nicht und schon wird es schwierig. Da quasselt jemand ständig, weil er sich langweilt, und schon gibt es Probleme. Egal, wie die Noten auch sind, die Kinder haben sich ein halbes Jahr lang angestrengt. Und der Wert eines Kindes bemisst sich nicht an den Noten.
Auch im Berufsleben erwarten wir Gerechtigkeit: Jemandem, der viel arbeitet, wird auch viel Lohn gezahlt, und jemandem, der nichts tut, eben weniger. Daran messen wir auch unseren eigenen Wert, indem wir uns mit anderen vergleichen. Deshalb ärgert uns das Verhalten des Weinbergbesitzers, weil er alle aufgestellten Regeln, die Gerechtigkeit nach Leistung und Gegenleistung oder Belohnung bemisst, auf den Kopf stellt.
Aber wenn wir uns in unserer Welt umsehen, dann merken wir allerdings auch schnell, dass wir es bei allem Bemühen nicht schaffen, wirklich gerecht zu sein. Denn welcher Arbeitslohn heute ist schon gerecht? Es gibt da viele Ungerechtigkeiten, genauso wie damals im Gleichnis. Warum verdient beispielsweise eine Krankenschwester oder Menschen, die im Rettungsdienst und in der Altenpflege tätig sind, so wenig? Warum bekommen Erzieherinnen nicht mehr Gehalt? Arbeitet ein Manager wirklich so viel Stunden mehr als sie? Hat er wirklich so viel mehr Verantwortung? Da sind Asylanten, die bei uns arbeiten wollen, aber es laut Gesetz über Monate hinweg nicht dürfen. Und wie viele Menschen gibt es, die von dem, was sie verdienen, gar nicht leben können? Die Diskussion um den Mindestlohn im letzten Jahr, den es ja nun seit 1. Januar gibt, hat das deutlich gemacht. Das, was man verdient, muss auch zum Leben reichen.
Von daher ist der Weinbergbesitzer unserer Zeit weit voraus. Denn er bezahlt einen Mindesttageslohn, nicht nur einen Mindeststundenlohn. Und unbezahlte Überstunden muss man bei ihm auch nicht machen. Für ihn steht einzig und allein im Vordergrund, dass alle genug zum Leben haben.
Allerdings ist dieses Gleichnis natürlich keine Anleitung zu besserem betriebswirtschaftlichen Handeln. Vermutlich würde der Weinbergbesitzer bei einer solchen Handlungsweise bald keine Arbeiter mehr finden, denn die meisten würden ja erst kurz vor Schluss kommen, wenn sie wüssten, dass sie dann auch noch vollen Lohn erhielten. Die Arbeit im Weinberg würde liegen bleiben. Und dann wäre der Weinbergbesitzer vermutlich schnell pleite, wenn er immer allen den gleichen Lohn auszahlen würde. Dieses Gleichnis ist auch kein Beitrag zur Mindestlohndebatte. Nein, um korrekten Umgang mit Lohn und Gehalt geht es nicht.

Sondern es geht um das das Verhältnis von Gerechtigkeit und Liebe. Das Gleichnis möchte deutlich machen, wie Liebe und Gerechtigkeit zusammenhängen, dass es bei Gott andere Maßstäbe gibt als bei uns. In Gottes Welt, die Bibel nennt es Reich Gottes, wird der Wert eines Menschen nicht durch den Vergleich mit anderen bemessen und er wird auch nicht über die Leistung bestimmt.
Die Mutter in unserer Geschichte tut genau das, was man von einer Mutter erwartet: sie rechnet ihre Liebe, ihr Handeln für die Kinder und für die Familie nicht auf. Das ist für sie selbstverständlich. Sie schreibt es ja nur auf, um ihrem Sohn etwas deutlich zu machen: nämlich, wie viel Liebe, wie viel Zeit sie investiert. Wie viel sie gibt, was er nicht sieht, nicht wahrnimmt.
Gott geht noch weiter als die Mutter: Er rechnet seine Liebe nicht auf. Er schreibt auch nicht auf, wie viel er tut. Er sagt nur: „Ich will euch geben, was recht ist.“ Und das ist mehr als die Arbeiter erwarten. Recht in Gottes Augen ist es, dass es allen Menschen gut geht. Dass alle sich am Leben freuen können. Damit durchbricht Gott alle Erwartungen. Weil er für seine Liebe zu uns Menschen keine Leistung fordert. Gott bemisst unseren Wert nicht nach Leistung. Sondern er beschenkt uns. Wir brauchen nichts zu tun. Wir dürfen uns einfach über Gottes Liebe freuen. So wie wir uns am Geburtstag über ein lang ersehntes Geschenk, über die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches freuen.
Allerdings kennen Sie wahrscheinlich auch alle Menschen, denen es schwer fällt, ein Geschenk einfach anzunehmen. Sie rechnen den Wert des Geschenkes aus und meinen dann, beim nächsten Mal in gleicher Höhe schenken zu müssen. Der Schenkende erwartet das manchmal allerdings auch. So ist das Geschenk der Liebe Gottes nicht gemeint. Gott liebt und wertschätzt uns, ohne dass wir etwas gegenleisten müssen.
Wenn wir Menschen nur nach ihrer Leistung beurteilen und für jede Leistung auch eine Gegenleistung erwarten, dann können wir uns nicht richtig freuen. Dann spüren wir gar nicht, wie schön es ist, beschenkt zu werden. Wir dürfen uns freuen, weil wir beschenkt werden. Weil andere beschenkt werden. Der Weinbergbesitzer fragt am Schluss: „Bist du neidisch, weil ich großzügig bin?“ Und wir müssen eingestehen: Ja, dann, wenn wir uns ärgern über den Weinbergbesitzer, dann sind wir neidisch. Neidisch, weil wir meinen, zu kurz zu kommen. Neidisch, weil die eigene Leistung nicht gewürdigt wird.
Aber vielleicht können wir ja lernen, Gottes Gerechtigkeit zu leben. Sicher eine andere Gerechtigkeit als die nach Lohn und Leistung, aber eine, die den anderen Menschen sieht, der auch ein von Gott geliebter Mensch ist. Eine Gerechtigkeit, die alle Menschen im Blick hat und alle mit den Augen der Liebe ansieht. Die will, dass es allen Menschen gut geht. Wenn wir lernen könnten, diese Gerechtigkeit zu leben, wäre das schon ein Stück Himmel auf Erden. Amen