Predigt zu Matthäus 22, 23–33 von Karin Klement
22,23-33

Liebe Ehefrauen und Ehemänner,
liebe Partner aus innigen Beziehungen,
liebe Mütter und Väter,
Kinder und Geschwister…
… Sie alle – Geliebte von jenen, die heute nicht mehr bei uns sind!

Ich weiß nicht, mit welchen Gefühlen Sie in diesen Gottesdienst gekommen sind. Doch ich ahne, dass Traurigkeit und Abschiedsschmerz noch immer Ihre Herzen berühren. Besonders, wenn wir die Namen unserer Verstorbenen nennen.
Ich glaube, dass die Toten, deren Körper längst in der Erde ruhen, deren Asche eingebettet liegt zwischen Baumwurzeln und duftender Erde, in unseren Gedanken auferstehen. Dass wir sie mit all ihrer Lebendigkeit vor unseren inneren Augen wiedersehen: Menschen, mit denen wir ein Stück unseres Lebens teilten; deren Hände in unseren Händen lagen. Deren Wangen wir streichelten, und die uns küssten. Körperliche Nähe, spürbar mit allen Sinnen. Fühlbar ihre Wärme, kostbar ihre Worte, beglückend ihr Anblick. In unseren Erinnerungen erwachen jene Tage, an denen wir gemeinsam lachten; aber auch Zeiten, die uns schwer miteinander wurden. Wir hoffen, dass GOTT uns nahe kommt, heute und immer wieder, damit wir nicht mutlos werden, wenn wir an unsere Toten denken, und die Leere, die sie hinterlassen, nicht zu groß.

Als Menschen, die mit leidvollen Erfahrungen umgehen müssen, lernen Sie, liebe Angehörige, Ihren veränderten Alltag zu bewältigen. Sie finden Wege, um Trauer und Dankbarkeit miteinander zu verknüpfen. Bis der Schmerz in einem Netz aus Sympathie und Liebe aufgehoben und getragen wird. Sie teilen Ihre freudigen Erinnerungen, wenn Sie anderen Menschen begegnen, und Sie teilen Ihr Leid. Die mitfühlende Gemeinschaft tut uns allen gut.

Aber manchmal fällt es Menschen sehr schwer, die Trauer anderer auszuhalten. Sie fühlen sich hilflos, reagieren abwehrend, denken: Einmal muss die Traurigkeit doch ein Ende haben! Vom Verstand her begreifen sei, was Leid bedeutet, aber sie wollen das Fühlen nicht an sich heranlassen; der Tod macht ihnen zu viel Angst.

Ich stelle mir vor: So ähnlich empfanden die Sadduzäer, eine Gruppe wohlhabender Gelehrter zur Zeit JESU. Sie galten als kluge Köpfe, legten die Thora strikt nach den geschriebenen Worten aus. Den Glauben an Engel und Auferstehung lehnten sie ab. Spöttisch, ja herzlos zerstören sie die Träume ihrer Zeitgenossen; sie halten nichts von einer „billigen Vertröstung auf´s Jenseits“ – wie moderne Kritiker des Auferstehungsglaubens heute sagen würden. Vielleicht glaubten sie sich als gebildete Skeptiker ihren gläubigen Mitmenschen überlegen.
So kommen sie zum Gottessohn, um ihn zu prüfen. Sie konstruieren eine absurde, geradezu lächerliche Geschichte als Hintergrund einer religiösen Frage.
Hören wir aus dem Evangelium nach Matthäus (22, 23-33):
Es traten zu Jesus die Sadduzäer, die lehren, es gebe keine Auferstehung, und fragten ihn und sprachen: „Meister, MOSE hat gesagt (Dtn 25, 5f): Wenn einer stirbt und hat keine Kinder, so soll sein Bruder die Frau heiraten und seinem Bruder Nachkommen erwecken. Nun waren bei uns sieben Brüder. Der erste heiratete und starb; und weil er keine Nachkommen hatte, hinterließ er seine Frau seinem Bruder. Desgleichen der zweite und der dritte bis zum siebenten. Zuletzt nach allen starb die Frau. Nun in der Auferstehung: wessen Frau wird sie sein von diesen sieben? Sie haben sie ja alle gehabt.“

Zynisch ist ihre Rede, menschenverachtend; sie geben sich als „starke Männer“ ohne jedes Mitgefühl für eine Witwe, die aus ihrem Leid gar nicht mehr herauskommt – wäre dieser Fall eine Tatsache. Still und heimlich machen sie sich lustig über die schwächlichen Emotionsgeladenen. Ob sie sich geschützter glauben vor Trauer und Schmerz – und vor Todesangst, indem sie sich über die Gefühle anderer erheben? Im Grunde verweigern sie ein Nachdenken über Tod und Sterben. Sie lassen das Fühlen nicht an sich heran. Die Realität des Todes, das Verwesen ehemals lebendiger Körper, all das, was wir sehen können – und wahrnehmen müssen –, bleibt ihnen die einzige Wahrheit. Aber, wenn sie die Trauer, den Abschiedsschmerz nicht fühlen können, fühlen sie auch die LIEBE nicht. Deshalb diese frauenverachtende Geschichte: eine Frau wird als Ware gesehen, als Erbstück, das von einem Mann zum nächsten weitergereicht wird. „Alle haben sie gehabt!“
Die sexuelle Anspielung ist überdeutlich. Auch wenn der biblische Hintergrund eine Versorgung der alleinstehenden Frau beabsichtigt und das Weiterleben eines Verstorbenen in der Nachkommenschaft seiner Brüder anstrebt.
Aber ist das alles, was eine Ehe oder partnerschaftliche Beziehung ausmacht – Kinder zu zeugen? Gibt es darin nicht auch ein Miteinanderlachen, ein Hand-in-Hand-Arbeiten, ein Zueinanderstehen, egal was geschieht? Leuchtet in einer Beziehung zwischen Menschen nicht das ganze Spektrum lebendiger Nähe auf? Treu sein und Streiten, Reden und Schweigen, sich gegenseitig lieben oder zornig aufeinander sein, Lachen und Weinen. Nicht allein, sondern gemeinsam?

Der angesprochene Gottessohn ignoriert die Konstruiertheit dieser Geschichte. Seine Antwort trifft den Kern der wirklichen Frage. Er beschreibt ein Bild von Auferstehung, das kein irdischer Mensch wissen kann.
Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Ihr irrt, weil ihr weder die Schrift kennt noch die Kraft Gottes. Denn in der Auferstehung werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel.
Habt ihr denn nicht gelesen von der Auferstehung der Toten, was euch gesagt ist von Gott, der da spricht (Ex 3, 6): Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.

Und als das Volk das hörte, entsetzten sie sich über seine Lehre.

Die klugen philosophisch-denkenden Sadduzäer irren sich; sie täuschen sich über Gottes Kraft. Denn diese spiegelt sich wieder in der Sehnsucht, in den Träumen der Trauernden von einem Leben, das weitergeht. Irgendwie. Wonach Menschen sich sehnen, ist doch zugleich ihre Hoffnung, das, was sie aufrichtet: Dass GOTT mächtig ist, voller Kraft – und Liebe. ER ist ein GOTT der LEBENDEN – das heißt, wo Gott ist, gibt es nur Lebendigkeit, kein Sterben, kein Leiden, keinen Tod. Unter Gottes Augen sind auch wir lebendig. Überall, immerzu!

In der Antwort, die JESUS gibt, umarmen sich Trauer und Trost. Das irdische und das himmlische Leben verbinden sich – für einen Moment lang. Was JESUS sagt, berührt mein Herz und gewiss auch das vieler anderer Menschen, die heute leben und sich genauso fragen: Wie wird es sein jenseits dieser Welt? Wie geht es weiter mit mir nach meinem Tod? Wohin gebe ich geliebte Menschen, die ihr Leben hier beschlossen haben?
Wo die Toten bleiben, weiß ich. Aber wo bleibt ihr Wesen, ihre Persönlichkeit, jener Mensch, der sie waren – und sind, auch heute noch?
Sie sind wie die Engel im Himmel, sagt JESUS.
Wir werden sein wie die Engel – das ist die Antwort auf die Frage der Sadduzäer. Und die Antwort auf die Frage, wie Auferstehung sein wird.
Sein wie die ENGEL – hauchfeine, geistige Wesen und machtvolle Boten – ausgestattet mit Gottes Kraft; von einer so tiefen, glühenden Lebendigkeit, wie wir sie hier auf Erden gar nicht spüren können, solange unsere Körper eingeschränkt, unsere Gedanken begrenzt sind.
Sein wie die ENGEL – lichtdurchflutet, gebadet in Liebe; mit sehenden Augen, die nicht mehr getrübt sind von Tränen; aufgehoben in Gottes Schoß.

Nach meinem Tode – ein Engel; aber wer bin ich dann noch? Ist Leiblichkeit für das Leben nicht zwingend nötig?  Wie leben wir ohne Körper? Brauchen wir es nicht, dass wir einander die Hand reichen können, um uns lebendig zu fühlen? Auf der Erde lebe ich in Beziehungen. Ich fühle, dass ich lebe, weil jemand mich umarmt, mir zärtlich die Wange streichelt, mein Herz, meine Seele anspricht, mit mir redet, mir nahe ist. Ich wäre wie tot, wenn niemand mich wahrnimmt. Ich höre, sehe, schmecke, rieche – nehme mit allen Sinnen wahr, dass ich lebe – weil mir jemand antwortet, mir Resonanz gibt auf mein Rufen. Und der Klang meiner Stimme nicht ungehört verhallt. Ich weiß, dass ich lebe – weil (mindestens) ein Mensch mich kennt, mit Namen anspricht.
Wird es im Himmel auch so sein – wenn mein Körper zerfallen ist oder zu Asche verbrannt? Wie spüre ich dann, dass ich lebe?

Wir werden sein wie die ENGEL! Vielleicht wird Gottes Lebendigkeit mich durchdringen, mich vereinen mit unzähligen Leben. Ab und zu besuchen mich die Gedanken, Erinnerungen eines Menschen auf der Erde. In Träumen, sehnsüchtigen Wünschen, in liebevollem Gedenken nehmen jene, die ich zurückließ, mit mir Kontakt auf. Und ich lache laut vor Freude; ich singe, tanze, schwebe durch den Himmelsraum, der mir eine neue Heimat geworden ist – und mein Zuhause.

„Tears in Heaven“ – der Song des britischen Gitarristen Eric Clapton erzählt von solcher himmlisch-tröstenden Begegnung. Er komponierte dieses Lied in Erinnerung an seinen kleinen Sohn Connor. Connor war viereinhalb Jahre alt, als er ausgelassen durch die Wohnung seiner Mutter tobte im 53. Stockwerk eines New Yorker Hochhauses. Er kannte die Räume, hatte x-mal vor den Fenstern gespielt. An jenem Frühlingstage 1991 wurden die Fenster von außen gereinigt und dazu weit geöffnet. Ob der kleine Junge gegen die Scheibe rennen wollte, seine Arme weit ausgestreckt, um sich von der durchsichtigen, aber festen Glaswand stoppen zu lassen?? An jenem Tag gab es kein Fenster, das ihn aufhielt. Er fiel 49 Etagen tief hinunter auf das Dach eines Nachbarhauses. Er war sofort tot.

Would you know my name, if I saw you in heaven? Wirst du mich wiedererkennen, wenn ich dich im Himmel sehe? Fragt Eric Clapton seinen Sohn mit diesem Lied. Would it be the same, if I saw you in heaven? Wird es wieder sein wie früher, wenn ich dich sehe im Himmel?
Die Trauer schmerzt so furchtbar, dass die Phantasie auf Reisen geht. Gedanken überspringen den Horizont, gefühlte Liebe durchdringt die Wolken. Irgendwo dort oben, wo wir das blaue Firmament erkennen mit leuchtenden Sternen übersät in der schwarzen Nacht. Dort in der Ferne – zumindest unseren Augen so nahe – muss das verschwundene Leben sein: das Kind, das wir lieben; den Partner, den wir vermissen; die Geliebte, nach der unser Herz sich zerreißt; der vertraute Mitmensch, mit dem wir gern noch so vieles bereden und erleben würden. Abgerissene Verbindungen neu zu knüpfen, das Trennende überwinden, eine zerstörte Gemeinschaft heilen. Wir alle tragen solche tiefe Sehnsucht nach Heil in uns. Das, was gut war, soll sich fortsetzen. Was noch fehlt, soll weitergehen. Was abgebrochen wurde, soll sich wieder zusammenfügen. Was wir fühlen, trägt uns über die äußerliche Realität hinaus. Die nicht zu Ende gemalten Bilder unserer Beziehung zu einem Menschen vollenden sich in unseren Gedanken.
Natürlich könnte man sagen, – wie damals die Sadduzäer gegenüber Jesus – das ist reine Phantasie. Aber sind es nicht gerade die geleugneten Gefühle, die eine unbezwingbare Macht in uns ausüben? Unser Verstand versucht ihre Auswirkungen zu bezähmen, ihre Kraft einzudämmen. Dennoch bleiben sie der Anschub unserer Lebensenergie, das Feuer unserer Lebendigkeit.

I must be strong and carry on, cause I know: I don't belong here in heaven. Ich muss stark sein und weitermachen, - erkennt der Sänger Eric Clapton – denn ich weiß: Ich gehöre (noch) nicht hierher in den Himmel.
Das Leben geht weiter. So simpel dieser Satz, so negativ oft empfunden, trägt er doch eine wunderbare Verheißung in sich. Das Leben wird sich durchsetzen. Seine Kraft gewinnt es aus der Liebe des Schöpfers. Gott gibt uns Anteil an Seinem Leben; er geht mit uns über alle Höhen, durch alle Tiefen. Er führt uns zu einem Leben, in dem alle Schwere von Trauer und Schmerz aufgehoben sein wird, wo alle Tränen versiegen. Federleicht wird die Seele sein, getragen wie von Engelsflügeln. Gewiss, wir können es nicht wirklich wissen. Unser Verstand verweigert die Akzeptanz; aber unsere Herzen wissen es auch ohne sichtbare Beweise.

Beyond the door there's peace, I'm sure. Hinter der Tür zum Jenseits herrscht Frieden, dessen ist sich Eric Clapton sicher. Versöhnung und Vergebung für alles, was wir einander schuldig geblieben sind. Denn auch Schuldgefühle gehören zum Trauerprozess. And I know, there'll be no more tears in heaven. Und er weiß es einfach: Im Himmel gibt es keine Tränen mehr!
Vom Himmel träumen, ihn in Gedanken durchwandern, geliebten Menschen begegnen mit Herz und Verstand; damit wir hier auf der Erde wieder festen Boden unter die Füße bekommen. Das ist Gottes Wille. Denn unser Gott ist ein Gott der Lebenden – mögen Lebende, wie wir, noch eine Zeit lang sich auf diesem Planeten tummeln. Oder als Lebende in einer anderen Welt, die uns noch fern erscheint, zuhause sein. Gott blickt uns an – und unter seinen Augen leuchtet das Feuer der Lebendigkeit – unerreichbar für die Tränen, aber berührbar mit einem Herzen voller Gefühle.
AMEN

Das Lied „Tears in Heaven“ von Eric Clapton wird nach der Predigt von CD oder instrumental abgespielt. Der englische Text und seine Übersetzung liegen als Handzettel in den Händen der Gottesdienstbesuchenden.
Möglicherweise lässt sich auch beim Verlesen der Namen der Verstorbenen die Melodie dieses Liedes leise anklingen lassen.
 

Perikope
24.11.2013
22,23-33