Die Tür geht auf. Eine junge Frau, mit langen braunen Locken, wird auf einer Trage ins Zimmer gebracht.
Nachdem die Sanitäter sie auf das freie Bett gehoben und den Raum wieder verlassen haben, sagt sie freundlich: hallo, ich bin Y., ich bin Musli...ää Türkin.
Spontan antworte ich: ich bin A. evangelisch.
Wirklich? .... wir werden unterbrochen, die Nachtschwester kommt und führt die Aufnahmeregularien durch.
Danach erzählten wir uns unsere Einlieferungsdiagnosen.
Es entspann sich ein sehr nettes Gespräch, auch die bis dahin schweigsame 3. Frau, verschleiert durch ein Kopftuch, entpuppte sich als versierte und interessierte Gesprächspartnerin.
An diesem Abend im Juli 2013 ist es schwül-warm, Türen und Fenstern stehen weit offen, wir hören, wie die letzten Flugzeuge den Konrad-Adenauer-Flugplatz ansteuern, hören Babies, das Scheppern des Rollwagens auf dem Flur und vieles mehr.
An Schlaf ist nicht zu denken. Irgendwann nach 1 Uhr nachts fragt mich Y.: woran erkennt man einen Christen? A: dass er an den Dreieinen Gott glaubt, dass er sein Leben an der Bibel orientiert. Y: Ok, aber woran kann ich sehen, dass jemand Christ ist, gibt es etwas, was jeder Christ machen muss? Die Theologin denkt an Artikel 6 des Augsburger Bekenntnisses (CA) und ich sage: nun ja, machen müssen müssen evangelische Christen nichts. Aber man kann am Handeln manchmal erkennen, wer gläubig ist. Dann fallen mir in jener Nacht die Werke der Barmherzigkeit ein:
Die stehen im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums und sind Grundlage der heutigen Predigt:
31 Wenn der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit,
32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet,
33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!
35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.
36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?
38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet?
39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.
43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.
46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
1. Hungrige speisen & Durstige tränken, 2. Nackte kleiden, 3. Fremde beherbergen, 4. Kranke besuchen, 5. Gefangene betreuen sind Dinge, die man als Folgen christlichen Glaubens verstehen kann. Später kam auch noch 6. Tote bestatten zu diesen Werken der Barmherzigkeit.
Meine beiden muslimischen Nachbarinnen stellen fest: das ist bei uns ganz ähnlich, dann ist euch Deutschen eure Religion ja doch nicht egal, so wie es „durch das Fernsehen“ aussieht. Nein, gewiss nicht. Schnitt. Szenenwechsel.
Heute, am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, wenn wir die Worte aus Matthäus 25 hören, können wir uns nicht nur auf die Werke der Barmherzigkeit beschränken, sondern müssen den gesamten Abschnitt beachten, aus dem ich die Werke der Barmherzigkeit herausseziert hatte.
Wir haben einen "Rahmen" um die Werke der Barmherzigkeit, der nicht einfach ignoriert werden kann: Das sogenannte Weltgericht.
Lasst uns dieses Bild ein wenig näher betrachten: Der Menschensohn kehrt wieder zum Gericht – zu einem unbekannten Zeitpunkt. Er stellt sich als einen Hirten dar, der mit einer Schafherde zu tun hat. Weibliche Schafe und Böcke werden im jungen Alter voneinander getrennt. Die weiblichen Tiere versprechen Nachwuchs und Milch, die Böckchen hingegen werden ausgesondert und geschlachtet, da sie sonst keinen Nutzen bringen. Das Vorgehen des Hirten ist den Menschen zu Jesu Zeit vertraut und wird auch heute noch in Ländern mit reger Transhumanz praktiziert.
Während der Predigtvorbereitung ist in mir folgender Gedanke gereift:
Das Gericht im Evangelium kommt unverhofft und unerwartet. Niemand drängt sich dahin, sondern die beiden Gruppen stellen fest: wir sind mittendrin. Es geht darum zu sehen, wo sie stehen und was für Folgen ihr Handeln hat. Sie stehen für Menschen, so wie sie sind: die einen, die sensibel, mit geschärften Sinnen durchs Leben gehen, die innere Kraft haben, den Nächsten zu sehen und ihn wahrzunehmen und ihm bei Bedarf helfen und nützlich zu sein. Ihnen gegenüber stehen Menschen, die den Anderen, den Nächsten nicht erkennen können, die wohl mit sich selbst zu viel haben, die keine Antennen besitzen für das Ergehen ihrer Mitmenschen und ihnen demzufolge nicht nützen.
Erstere, die „Schafe“, tragen dazu bei, dass das Elend ihrer Mitmenschen gelindert wird und nicht in „Hölle“ ausarten… sie werden ihnen zu Engeln. Letztere, die „Böcke“, belassen – unbeabsichtigt – ihre Mitmenschen in ihrem Elend. Aus dem Elend kann man sich selbst nicht oder nur sehr schwer befreien. Allein gelassen gerät man immer tiefer hinein.
Um seinen Jüngern die Bedeutung des Gerichtes zu erklären, vergleicht Jesus den Richter mit einem Hirten, der die Schafe und die Böcke voneinander trennt. Ebenso trennt der Menschensohn bei seiner Wiederkunft die Erwählten von den Verworfenen, die „Guten“ von den „Gleichgültigen“.
Es drängt sich mir die Frage auf: wie passt das heutige Evangelium zum Volkstrauertag?
Der Volkstrauertag hat seinen Ursprung in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg.
Viele Menschen fanden ihr frühes Ende und hinterließen viel Elend und Trauer.
Die Gefallenen des 2. Weltkrieges – ihrer zu gedenken, ist bis heute eine schwierige Angelegenheit in unserem Land: auf der einen Seite haben wir da die geschichtliche Verantwortung unseres Landes für das unsägliche Leid, auf der anderen Seite stehen da die vielen Opfer auf deutscher Seite: die Tote an den Kriegsfronten, in den Gefangenenlagern, in den sowjetischen Arbeitslagern: Väter, Brüder, Großväter, Onkel. Dann die Verwandten die aus den deutschen Gebieten im Osten fliehen mussten und auf diesem gefährlichen Weg ihr Leben ließen.
In Ausnahmesituationen wird sichtbar, ob man glaubt und wie ernst man seinen Glauben nimmt. Im Kriegsgeschehen und in Kriegszeiten zeigt sich, wes Geistes Kind man ist. Kriegszeiten sind Zeiten, in denen der Glaube besonders herausgefordert ist, in dem sich Glaube und gelebte (Nächsten)Liebe bewähren müssen.
In vielen Erzählungen und Berichten habe ich gehört, dass es an der Ostfront immer wieder zu zwischenmenschlichen Begegnungen (zwischen den Kriegsgegnern) gekommen ist: dass beide Seiten miteinander Proviant und Wasser teilten und das Kriegstreiben nicht verstanden. Oder: Menschen, die in russische Gefangenschaft geraten waren, hatten auch als Feinde Nahrung bekommen, gerade genug, um nicht vor Hunger/Durst und Kälte zu sterben. Es wäre ein leichtes gewesen, die Feinde verhungern zu lassen - die Russen hatten selbst nichts. Diese Menschen, die den Nächsten sehen und ihm helfen, sind solche "Schafe", die nicht lang nachdenken, was sie tun, die auch im Feind den Nächsten erkennen und ihm helfen.
Sie sind nicht absichtlich in die Situation geraten, wie die Herde im Gleichnis.
In jedem Hilfsbedürftigen begegnet uns Jesus. Durch seine Liebe, durch seine Hingabe ans Kreuz befähigt er auch uns, heute, (Nächsten)Liebe zu üben.
Conclusio: Man ist nicht Christ, weil man die Werke der Barmherzigkeit übt, sondern anders herum: weil man Christ ist, weil man Gott vertraut, weil man sich mit allen Bedürfnissen in Gottes Liebe aufgenommen weiß, wird man fähig zu selbstlosem Handeln - in Kriegs- und in Friedenszeiten.
Eine richtig unbequeme Botschaft enthält dieser Bibelabschnitt, die kann ich nicht weglassen: es gibt auch ein Zuspät. Der Gedanke des Gerichtes will uns keine Angst machen, sondern wachrütteln, dass wir erkennen, wo wir verantwortlich sind. Es gibt auch Verantwortung, die uns niemand abnehmen kann.
Die Werke der Barmherzigkeit öffnen einen Weg, der zur guten Verständigung unter den Religionen und zum Frieden führen kann. Sie sind der Garant für ein menschenwürdiges Leben.
Ich glaube: wenn Menschen, über alle religiösen Grenzen hinweg, sich getragen und angenommen wissen, dann lässt jeder jeden leben.
Dann müssen künftige Generationen das Wort „Krieg“ im Lexikon nachschlagen, weil keine Kriege mehr geführt werden. Dann wären auch Gedenktage wie der heutige überflüssig, es gäbe keine Tränen, kein Leid mehr. Hach.
Amen
Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Agnes Schmidt-Köber
25,31-46
Perikope