Liebe Gemeinde!
„Führe mich nicht in Versuchung“, beten wir jeden Sonntag im Vater Unser-Gebet im Gottesdienst. Hier führt Gott in Versuchung. Gleich zu Beginn wird klargestellt, welcher Geist es ist, der Jesus in die Wüste führt. Es ist der Geist Gottes selbst, der zuvor bei der Taufe Jesu im Jordan in Gestalt einer Taube vom Himmel herabkommt. Eine Stimme vom Himmel spricht: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Gibt es denn auch noch andere Geister, als den Heiligen Geist? Oh ja, nach antiker Vorstellung ist die Welt voller Geister, von guten und bösen. Jesus treibt Dämonen aus; Pharisäer diskutieren, aus welchem Geist heraus Jesus handelt. Für sie ist es nicht unbedingt klar, ob der Geist von Gott kommt und er dadurch Vollmacht hat oder ob es böse Geister sind, die vom Beelzebub herrühren. „Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt…“ Da vorher die Taufe war, dürfen wir daraus schließen, dass es der Geist Gottes ist, der ihn versucht. Die Versuchung geht direkt auf Gott zurück. Muss das sein?, frage ich mich. Was ist das für ein Gott, der Menschen in Versuchung führt? Will er sie prüfen, ob sie in der Stunde der Anfechtung standhaft zu ihm halten und sich nicht anderen Mächten unterwerfen? Haben der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesus es nötig, sich selbst bestätigen zu lassen?
Die Bibel überliefert noch weitere Versuchungsgeschichten. Abraham soll seinen Sohn opfern. In letzter Sekunde überlegt Gott es sich anders und sendet einen Engel, der ihn von der Tat abhält. Hiob wird versucht. Satan darf ihm alles nehmen, was er hat: seinen ganzen Besitz. Seine Frau und seine Söhne kommen um, Hiob selbst wird mit schwerer Krankheit geschlagen, sodass er des Lebens müde wird. Nach langem Hadern mit Gott und seinem Schicksal findet er letztlich wieder zum Gottvertrauen zurück. In der Hiob-Erzählung scheint es so, als ob Gott zuvor selbst in Versuchung gerät. Der Satan streift auf Erden herum und entdeckt den frommen Mann Hiob. Im Himmel zurückgekehrt tritt er zu Gott. Gott fragt ihn stolz, ob er auf seinen Knecht Hiob achtgehabt hat. Es ist seinesgleichen nicht auf Erden. Hiob ist fromm, rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet alles Böse. „Kein Wunder“, sagt der Satan, „er ist ja auch reich gesegnet mit einer Frau und Söhnen, mit Gesundheit, Hab und Gut. Glaubst du wirklich, dass er dich umsonst fürchtet?“ Gott lässt sich provozieren. Er erlaubt dem Satan, Hiob zu prüfen. Der Satan darf sein Werk ausführen. Zum Schluss wird er nicht die Oberhand behalten, aber er darf bis zu einer von Gott gesetzten Grenze wüten. Satan wird mit Versucher übersetzt, Teufel und Luzifer. Luzifer zeigt seine ursprüngliche Herkunft an. Sein Name ist abgeleitet von lux, Licht. Er gehört ursprünglich zu dem himmlischen Hofstab Gottes, von dem er allerdings abgefallen ist. Er ist kein echter Gegenspieler Gottes, dessen Mächte gleich stark sind. Luzifer gehört zu Gott, seine Macht reicht nur so weit, wie Gott es zulässt. Dann ist ja alles gut, wäre die logische Konsequenz. Dann dürfte es in der Welt kein Unrecht, kein Übel, keinen Hunger, keine böse Krankheit mehr geben. Wir wissen, dass es nicht so ist: Gott lässt viel zu, zu viel, möchten wir klagen und fragen in schweren Anfechtungen: Warum lässt Gott das zu? Eine Antwort werden wir nicht finden. Viel Unrecht und großes Unglück wird ungerechterweise Gott zugeschrieben. Gehen wir der Ursache auf den Grund, so stellt sich oft heraus, dass viel Übel Menschenwerk ist. Aber nicht jedes Unrecht und jedes Unglück lässt sich damit wegerklären. Es bleibt genügend übrig, wo wir vor der ungelösten Frage nach dem „Warum“ stehen.
Jesus wurde vom Geist in die Wüste geführt, damit er vom Teufel versucht würde. Die Wüste ist ein Ort der Kargheit und des Mangels. Nur kundige Menschen, die in der Wüste oder am Rande der Wüste leben, sind in der Lage hier zu überleben. Wer in die Wüste geht, muss sich auskennen; muss wissen, wo Wasserstellen sind, wo noch irgendetwas Essbares wächst; muss sternenkundig sein, damit die Richtung stimmt. Selbst erfahrene Wüstenvölker meiden es, zu weit in die Wüste einzudringen. Sie gehen nur so weit, wie es unbedingt nötig ist. Jesus wird vom Geist in die Wüste geführt. 40 Tage fastet und betet er dort. 40 Tage sind eine lange Zeit. Sich 40 Tage in die Einöde zurückzuziehen, um zu fasten und zu beten, muss anstrengend sein. Wer weiß, welche Gedanken und Visionen einem durch den Kopf gehen? Wird der Verstand klarer, der Körper empfindlicher, der Geist aufmerksamer? Oder schleichen sich Vorstellungen ein, die dem Wahn nahekommen? Ist ein langer Aufenthalt in der Wüste ein Einfallstor für Halluzinationen? Ich nehme an, alles ist möglich. 40 ist eine symbolische Zahl. Die Zahl 40 steht für Vollendung. Es kommt etwas zu seinem Abschluss. 40 Tage regnet es, ehe die Arche sich vom Erdboden erhebt und zu schwimmen beginnt (Gen 7,17); 40 Jahre wandert das Volk Israel, bevor es ins gelobte Land einzieht. 40 Tage und Nächte hält Mose sich auf dem Horeb auf, als er die 10 Gebote empfängt.
Am Ende der 40 Tage, die Jesus in der Wüste verbringt, ist bei ihm ein Entschluss gereift. Von da an beginnt er sein Leben im Bewusstsein seiner Gottessohnschaft. Nach der Wüstenerfahrung berichtet Matthäus von Jesu Wirken in Galiläa. Der Versucher nähert sich ihm. Es wird nicht näher beschrieben, wie der Versucher aussieht. Der Teufel mit Hörnern, Pferdefuß und Schweif ist eine mittelalterliche Vorstellung. Womöglich tritt der Teufel in Gestalt eines freundlichen Menschen auf, der uns vorgaukelt, nur unser Bestes zu wollen, der seine wahren Absichten so gut und lange wie möglich versteckt. Der Versucher nutzt die Notlage Jesu aus. Jemand, der so lange gefastet hat, muss doch Hunger haben. An dieser Schwachstelle will er ihn packen: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Jesus wundert sich nicht, dass er angesprochen wird, wo doch keine Seele weit und breit zuvor zu sehen war. Das gibt es manchmal, wo die Landschaft hügelig ist, dass plötzlich ohne Vorwarnung jemand vor einem steht. Ein Mensch, ein Tier, taucht wie aus dem Nichts unvermittelt auf. Jesus scheint keinen Moment zu zögern. Schlagfertig antwortet er auf das Wort Gottes, auf die Tora. Davon lebt der Mensch, von Gott und seinem Wort, und nicht vom Brot allein. Hören wir genau hin: Jesus sagt nicht, dass das Brot nicht nötig ist. Ein Mensch braucht Nahrung, damit er satt wird. Das zieht er nicht in Zweifel und tut nicht so, als ob das zweitrangig wäre. Aber ohne Gottes Wort und seine gnädige Zuwendung könnten wir keinen Tag existieren. Ist das nicht eine Verlockung, aus Steinen Brot zu machen? Ist Jesus nicht weltfremd, wenn er die Möglichkeit, aus Steinen Brot zu machen, ablehnt? Was sagen die Hungernden dazu, wenn Jesus dieses großzügige Angebot ablehnt? Viele leben in Armut und bitterer Not. Sie haben zu viel Steine und zu wenig Brot.
Die Wüstenzeit nähert sich ihrem Ende. Kurz vor Schluss will Luzifer es ein zweites Mal versuchen, ob er den Gottessohn nicht doch dazu bewegen kann, von Gott loszulassen. Er führt ihn nach Jerusalem, in die heilige Stadt, und stellt ihn auf die Zinne des Tempels. Jesus geht bereitwillig mit, lässt sich vom Teufel führen. Ist er sich so sicher, dass er ihm nichts anhaben kann? Dass er einmal der Versuchung widerstanden hat, heißt nicht, dass er jedes Mal widersteht, denn so schnell gibt der Teufel nicht auf. In Gethsemane im Angesicht des nahen Todes fleht Jesus inbrünstig, dass Gott diesen Kelch an ihm vorübergehen lassen möge. Verstehen kann ich das.
Dort steht er, der prächtige Tempel mitten in der Altstadt von Jerusalem. Die hohen Mauern mit den hellen dicken Steinen leuchten im Sonnenlicht. Die Zinne reicht hoch in den Himmel. Susanna hat ihren Korb unter den Arm geklemmt und ist unterwegs zum Markt. Buntes Treiben herrscht in der Innenstadt. Händler preisen ihre Waren an, Eselskarren transportieren frisches Obst und Gemüse, fromme Juden mit schwarzem Hut und Schläfenlocken eilen durch die Gassen. Susannas Blick fällt nach oben auf die Tempelspitze. Täuscht sie sich oder steht da einer? Sie bleibt stehen, kneift ihre Augen zusammen, um deutlicher zu sehen. Tatsächlich: Da steht einer hoch oben auf der Zinne des Tempels. Andere haben das inzwischen auch bemerkt. Eine Traube von Neugierigen und Sensationslüsternen bildet sich in Windeseile. Bei genauem Hinsehen entdeckt Susanna hoch oben noch einen Zweiten. Was machen die beiden da oben? Der eine könnte ein Rabbi sein, der andere ist schwer auszumachen. Fechten die beiden dort oben einen Machtkampf aus? Diskutieren sie über die Tora? Hoffentlich passiert da oben nicht ein Unglück. Lange blickt sie nach oben, jedoch es tut sich nichts. „Bist du Gottes Sohn, so wirf dich herab“, redet Luzifer auf Jesus ein. Du weißt doch, was in der Tora steht: Er wird seinen Engeln Befehl geben, sie werden dich auf Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“ Der Teufel kennt sich aus in der Tora, er ist sogar religiös geworden und argumentiert mit der Bibel. Jesus fällt darauf nicht herein. Wahrscheinlich sieht er auch keinen Sinn darin, Gott herauszufordern. Wem wäre damit gedient, wenn er mutwillig ein Risiko einginge? Gott lässt sich nicht zwingen. Jesus geht lieber zu Fuß wieder die Tempeltreppe herunter, als sich herunterzustürzen. Warum den Leuten die Sensationslust stillen? Einen anderen Sinn als diesen kann er darin nicht entdecken. Diese Versuchung ist keine echte Versuchung für ihn. Er hat lediglich den schönen Blick von der Zinne genossen. Etwas anderes ist ihm von vornherein nicht in den Sinn gekommen. Die Menge unten hat sich inzwischen verlaufen, es gibt doch nichts Aufregendes zu sehen. Susanna setzt ihren Weg zum Markt fort. Merkwürdig, denkt sie, was sich dort oben abgespielt hat. Sie kann es nicht richtig einordnen. Sie wird später zu den Frauen gehören, die Jesus gefolgt sind, die bei ihm geblieben sind (vgl. Lk 8,3f). Aber das weiß sie jetzt noch nicht.
Der Teufel ist hartnäckig, Jesus lässt sich weiter bereitwillig von ihm führen. Der Teufel führt ihn auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit. „Das alles will ich dir geben“, spricht der Teufel und breitet seine Arme aus, „wenn du niederkniest und mich anbetest.“ Der Blick vom Berg ist wunderschön. Fruchtbare Ebenen tun sich auf, Dattelpalmen und Obstplantagen. Von hier aus können sie sogar das Meer sehen. Wer wollte da nicht schwach werden? Wer wollte da nicht genießen? Wer wollte da nicht, dass dies alles ihm gehörte! Jesus hat gerade sein 40-tägiges Fasten hinter sich. Das grüne fruchtbare Land mit seinen Wasserquellen wirkt umso faszinierender auf ihn. Jesus blickt in die Ferne, dann sieht er dem Versucher direkt in die Augen und sagt: „Weg mit dir, Satan. Du sollst Gott allein dienen.“ Jesus hat der stärksten Versuchung, Macht zu gewinnen, widerstanden. Darum geht es dem Teufel, er soll ihm dienen und ihn als den Mächtigen der Welt anerkennen. Ein kurzer Kniefall, ein kurzes Ja-Sagen, was bedeutet das schon. So schwer kann das doch nicht sein. Es sieht ja auch keiner, sie sind hier ganz allein, niemand schaut zu, niemand hört ein Wort. Jesus lässt sich nicht beirren, hält fest an dem, woran er glaubt, lässt seine Überzeugungen nicht los. Gott allein hat Worte des Lebens; ihm zu folgen, ist sein Ziel. Endlich gibt der Teufel auf. Für dieses Mal hat er genug. Er hat den Kürzeren gezogen und macht sich aus dem Staub. Siehe, da treten Engel zu Jesus und dienen ihm. Jesus hat die Prüfung bestanden. Er geht seinen Weg ins Leben.
Die Personen in dieser Geschichte sind bis auf Jesus, der ja real gelebt hat, mythologische Gestalten, Gestalten also, die nicht real gelebt haben: der Teufel, die Engel, der Geist. Sie haben aber durchaus Bedeutung. Wir glauben zwar nicht an den personifizierten Teufel, was aber nicht heißt, dass es nicht teuflisch und verführerisch in der Welt zugehen kann. Der Teufel steht für das Böse schlechthin.
Im Kasperletheater ist der Teufel immer der Böse, der die Dinge durcheinanderbringt. Durch seine Verwirrung bringt er Leben in das Stück. Am Ende jedoch gewinnt immer der Kasper. Er ist der Gute. Der Kasper und der Polizist sorgen dafür, dass die Geschichte gut ausgeht. Auch in der Versuchungsgeschichte brauchen wir uns um Jesus keine Sorgen zu machen. Am Anfang steht Gottes Geist, am Ende seine Engel.
Mir kommt die Versuchungsgeschichte wie eine Initiation vor: Der Jüngling im Märchen verlässt sein Elternhaus, geht in die Welt, wird vor Herausforderungen gestellt. Nach bestandenen Prüfungen darf er die Prinzessin heiraten. Nun heiratet Jesus nicht, ihm dienen Engel, aber Teile eines Initiationsritus lassen sich wiedererkennen. Jesus ist durch die Wüstenzeit und durch die Prüfungen des Versuchers bereit für seine Aufgaben als Gottessohn in der Welt. Gestärkt geht er aus der Krise hervor, sich seines Gottes gewiss, der ihn nicht fallen lässt. In der tiefsten Anfechtung steht er ihm bei, in der Versuchung, einen anderen Weg zu gehen als jenen, den Gott für ihn vorgesehen hat; er gibt ihm die Kraft dazu, zu widerstehen und sich nicht irreführen zu lassen. Die Welt hält uns Verlockungen und Versuchungen vor die Nase. Es ist leichter den Weg des kurzfristigen Gewinns auf Kosten vieler zu gehen. Es ist leichter, sich von der Macht blenden zu lassen und sie auszuüben, als in Demut und Ehrfurcht vor Gott und seiner Schöpfung das eigene Leben zu führen. Es ist leichter Ja zu sagen zu den teuflischen Versuchungen, die Armen arm sein zu lassen und sich selbst den Bauch voll zu schlagen auf Kosten vieler. Es ist leichter, viel und billiges Fleisch zu essen, als für eine artgerechte Tierhaltung einzutreten. Versuchungen gibt es viele, der Teufel ist unterwegs und lacht sich überall dort ins Fäustchen, wo Leben missachtet und mit Füßen getreten wird.
„Meinst du“, fordert der Teufel Gott heraus, „dass Hiob Gott umsonst fürchtet? Er fürchtet dich doch nur, weil du ihn reich gesegnet hast.“ - Auch wir sind reich gesegnet. Jesus hat es uns vorgelebt, was es bedeutet, Gottes Sohn zu sein. Wir sind nicht Jesus selbst mit seiner Geschichte. Wir leben in seiner Nachfolge. Als Kinder Gottes treten wir ein für das Leben in Frieden und Gerechtigkeit, damit das Böse keine Macht bekommt. Amen.
EG, Nr. 295,1-4: Wohl denen, die da wandeln…