Predigt zu Matthäus 5, 33-37 von Bernd Giehl
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Predigt zu Matthäus 5, 33-37 von Bernd Giehl

Liebe Gemeinde!
Fangen wir ruhig einmal harmlos an. Fangen wir mit der Frage an, wozu unsere Gottesdienste eigentlich da sind. Ja, ich weiß. Das klingt wie eine rhetorische Frage, so wie sie im Gottesdienst oft gestellt wird.  Natürlich können Sie das jetzt anbringen, was Sie im Lauf Ihres Lebens darüber gelernt haben mögen: Dass wir im Gottesdienst unsere Verbindung zu Gott stärken, dass wir ihn loben oder dass wir uns von ihm sagen lassen wollen, was für unser Leben wichtig ist. Oder dass wir diese Stunde Gottesdienst nutzen können, um einmal abzuschalten, etwas anderes zu hören, als das, was wir im Alltag hören. Nicht zuletzt, dass wir im Ordnung sind. Auch mit unseren Fehlern. Selbst dann, wenn wir uns hin und wieder Mal als eher seltsam empfinden.
Diese und noch ein paar andere Antworten kann ich mir vorstellen. Nur eine nicht, dass nämlich der Gottesdienst im Allgemeinen und die Predigt im Besonderen unsere Gewohnheiten und Anschauungen ernsthaft in Frage stellen sollen. Dass er uns aus unseren Sicherheiten holt, dass er den Sessel, in dem wir es uns bequem gemacht haben, zertrümmert. Dass er uns alle Gewissheiten nehmen und uns auf die Reise ins Unbekannte schicken will. Wer sich als Pfarrer so etwas als Zielsetzung für den Gottesdienst vorstellt, der sollte sich lieber gleich nach einem anderen Beruf umschauen. Die Pensionsgrenze wird er damit jedenfalls nicht erreichen.
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Merkwürdige Einleitung, nicht wahr? Und das bei einem Text, der sich erst einmal harmlos anhört. Zwar lässt uns das bedeutungsschwere „Ihr wisst dass zu den Alten gesagt ist“ und das ihm folgende „Ich aber sage euch …“ aufhorchen, aber dass es um das Thema „schwören“ geht, beruhigt uns dann schon wieder. Denn mal ehrlich: Wer von Ihnen hat in seinem Leben schon einmal einen Eid geschworen? Allenfalls jemand, der Beamter geworden ist. Oder vielleicht jemand, der Zeuge in einem Strafprozess war. In diese Verlegenheit kommen wir aber eher selten. Man könnte diesen Text also getrost unter dem Thema „Pflichtschuldige Verlautbarungen“ ablegen, wenn es da diesen letzten Satz nicht gäbe: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist von Übel.“ ((Mt 5,38)
Dieser Satz beunruhigt mich.
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An dieser Stelle könnte es ungemütlich werden. Sollen wir dem Text noch folgen oder lieber im Unverbindlichen bleiben? Schon wieder so eine rhetorische Frage; ich weiß. Das ist ja längst entschieden. Da ich den Text nicht beiseitegelegt habe, ahnen Sie wahrscheinlich, was kommt.   Hier geht es  nicht  allein ums Schwören. Mag sein, dass es in heißblütigeren Gesellschaften als unserer öfter einmal dazu kam, dass einer in der Hitze des Gefechts anbot, seine Wahrheit zu beschwören. Für uns ist das eher weit weg.  Aber wenn ich den Schwur mit dem Satz: „Ich gebe dir mein Ehrenwort“ übersetze, dann ist das wahrscheinlich schon näher dran. Nicht nur Kinder geben sich ein Ehrenwort, wenn sie besonders glaubhaft wirken wollen. Auch Erwachsene tun das. Wenn ich mir die Haltung, die hinter einem Ehrenwort steckt, einmal genauer ansehe, dann besagt die doch: Du und ich, wir wissen, dass Menschen öfter einmal nicht die Wahrheit sagen, weil eine Lüge in diesem Augenblick vorteilhafter für sie ist. Aber wenn ich dir jetzt mein Ehrenwort gebe, setze ich damit meine Ehre aufs Spiel. Wenn ich jetzt nicht aufrichtig bin, verliere ich sie. –
Klingt überzeugend, würden wir wahrscheinlich sagen. Nur Jesus spielt das Spiel wieder einmal nicht mit. Wenn ihr so leben würdet, wie Gott es von euch will, so würde er wohl sagen, bedürfte es weder eines Schwurs noch des Ehrenworts. Wenn ihr so leben würdet, würde keiner mehr lügen. Unter keinen Umständen.
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Fängt das Herz an dieser Stelle zu klopfen an? Ich weiß es nicht. Manchmal kann ja auch ich einen Artikel über Wahrheit und Lüge in meiner klugen Zeitung lesen und mich darüber wundern, dass der Verfasser behauptet, jeder von uns würde ungefähr 30 Mal am Tag die Unwahrheit sagen. Ich kann ja immer noch fragen, woher er die Zahl eigentlich nimmt. Und mich ansonsten beruhigen, dass das ja vielleicht sein mag, bei anderen womöglich, dass es aber bei mir ganz bestimmt nicht so ist.
Aber dann fällt mir wieder ein, dass mich neulich jemand gefragt hat, wie es mir gehe. „Mir geht’s gut“, habe ich gesagt, obwohl es mir zu dem Zeitpunkt ziemlich schlecht ging. Oder jemand hat mich zu einer Veranstaltung eingeladen, auf die ich keine Lust hatte. Das habe ich natürlich nicht gesagt, sondern erwidert, ich hätte keine Zeit. Beides Lügen? In der einen Situation wollte ich nicht mehr von mir preisgeben und in der anderen hätte ich meinen Gesprächspartner wahrscheinlich vor den Kopf gestoßen. Wäre es also besser gewesen, bei der Wahrheit zu bleiben?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich gemessen an den Maßstäben, die Jesus hier aufstellt, zwei Mal die Unwahrheit gesagt habe.
An der Stelle wird es ungemütlich. So tief wollten wir eigentlich nicht hinab. Also führe ich lieber zu unserer Entschuldigung an, was Eugen Drewermann in seinem Kommentar zum  Matthäusevangelium ausführt.  Da sagt er nämlich, dass tarnen und täuschen schon zur tierischen Grundausstattung gehöre. Dass also hochgefährliche Tiere sich ein eher harmloses Aussehen geben können und völlig harmlose Lebewesen so tun, als seien sie hochgiftig. Fressen oder gefressen werden, darum geht es. Und wer wird schon gern zur Beute?
Nun gut, wir sind Menschen. Wir gehen nicht mehr mit Pfeil und Bogen auf die Jagd. Es gibt Regeln. Wir haben alle eine gewisse Kultur und folgen nicht mehr unseren ungesteuerten Trieben. Und trotzdem gibt es List, Tarnung und Lüge. Aber doch nur bei denen, die Böses im Sinn haben?
Gemach, liebe Freunde. Man muss unser Verhalten ja nicht gleich als „unehrlich“ bezeichnen. Manchmal sind wir ja einfach nur höflich. Und sagen nicht, was wir wirklich denken. Manchmal hilft es ja schon, Komplimente zu machen. Selbst wenn wir es nicht wirklich meinen. Kann doch nichts schaden, sich mit dem Chef gut zu stellen. Der entscheidet schließlich über unsere nächste Beförderung. Oder darüber, ob wir bleiben dürfen oder gehen müssen.
Da kann man ihm doch unmöglich sagen, dass er öfters launisch ist. Es ist  wichtig, in den Augen der Vorgesetzten  gut da zu stehen. Man möchte schließlich etwas erreichen in seinem Leben. Und es ist ja nicht nur der Chef, der mächtig ist.  Womöglich stellt man sich auch mit dem einen oder anderen Kollegen gut. Lacht über seine rassistischen oder frauenfeindlichen Witze.  Der könnte unangenehm werden, wenn man ihm sagt, was man wirklich von ihm denkt.  Auch die Lehrer in der Schule sind mächtig; sie entscheiden schließlich über die Noten und damit am Ende über die Chancen im Beruf. Und möchte man nicht auch vor den Nachbarn gut dastehen? Oder vor den Freunden?
Na gut. Alles in allem keine besonders gute Bilanz. Aber wir haben ja immer noch einen Trumpf im Ärmel. Die Politiker, sagen wir, die erzählen uns doch das Blaue vom Himmel. Die Geschichte mit dem Euro wird schon gut ausgehen, sagen die. Deutschland ist nun einmal eng verflochten mit den anderen Ländern Europas. Auf deren Wohlergehen sind wir angewiesen. Dass Griechenland ein neues Hilfspaket braucht, und danach womöglich Portugal, das erzählen sie uns lieber nicht. Wer weiß, ob die CDU dann immer noch über 40% bekäme.
   Alles richtig. Alles geschenkt. Aber sind die Politiker in ihrer Angst, ihren Job zu verlieren wirklich so anders als wir?
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Nein, wirklich, das gefällt uns nicht. Womöglich hätte ich doch besser einen anderen Text auswählen sollen. Ich gebe ja zu: Auch ich hänge an meinem Job. Den ich natürlich nicht „Job“ nennen darf, aber das nur nebenbei. Ich bin kein berufsmäßiger Revolutionär. Ich trete nicht einmal für einen bundesweiten „Veggie-Day“ ein. Ich bin nur ein kleiner Pfarrer, der seinen Beruf liebt. Und der sich deshalb hin und wieder einmal fragt, wie viel man einer Gemeinde zumuten darf, bis der Punkt kommt, an dem die Oberen einen nicht mehr für zumutbar halten.
Nein, ich glaube nicht, dass Jesus in unserer Kirche Karriere gemacht hätte. Es ist ja nicht nur die Frage, wie viel die Wahrheit uns wert ist, vor die er uns stellt. Vor vier Wochen, am Erntedankfest ging es um die Sorge und das Schätze sammeln, das nach Jesu Meinung zusammengehört und das Menschen daran hindert, Gott zu gehorchen. Auch das kann man ja so predigen, dass niemand Anstoß nimmt. Nur dass ich glaube, dass dann etwas nicht in Ordnung war. Wenn man Jesus nämlich in diesem Punkt wirklich folgen wollte, müsste man sein Bankkonto auflösen und die Versicherungen kündigen. Und falls das immer noch nicht genug ist, kann man ja auch an die Forderung nicht Böses mit Bösem zu vergelten, denken. Und dann die andere Wange hinhalten.
Nun gibt es ja genügend Leute, die an diesem Punkt nicht mehr mitspielen. Mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen, hat Helmut Schmidt einmal gesagt und konsequent, wie er nun einmal war, die Nachrüstung durchgesetzt. Aber womöglich kann man es ja auch noch etwas anders sehen. Dass die Forderungen Jesu radikal sind, will ich ja gar nicht bestreiten. Bleibt aber immer noch die Frage, aus welcher Haltung heraus er diese Radikalität fordert. Meine Vermutung ist, dass sie aus dem unerschütterlichen Vertrauen stammt, aus dem heraus er Gott seinen und unseren Vater nannte. Dieser Vater, so meint er, wird schon für uns sorgen. Und zwar auch dann, wenn wir uns schutzlos machen. Wenn wir auf die Lüge verzichten, selbst wenn uns das zum Nachteil gereichen könnte.  Jesus traut Menschen zu, dass sie sich ändern. Dass sie sich weder um die Zukunft sorgen noch ums Recht behalten. Dass sie all die Sorgen, die uns Tag für Tag das Leben schwermachen, hinter sich lassen. Und einfach vertrauen. Und aus diesem Vertrauen heraus auch authentisch leben. Dass die Wahrheit ihnen wichtiger ist als das eigene Ansehen. Oder das Fortkommen. Oder Status und Besitz. Man kann sagen: Was für ein Ansinnen. Oder man kann sagen: Was für eine Möglichkeit, sein Leben noch einmal neu zu beginnen. Ohne all die Lügen, die wir uns selbst und anderen erzählen.
Neu anfangen, sagt Jesus, ist möglich. Dazu muss man nur Vertrauen haben.