Predigt zu Matthäus 5,38-48 von Georg Freuling
5,38-48

Predigt zu Matthäus 5,38-48 von Georg Freuling

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich das erste Mal auf diese Worte Jesu gestoßen bin – oder genauer gesagt: gestoßen wurde. Das war vor 30 Jahren und kam so:

Ich besuchte im ersten Jahr den Konfirmandenunterricht. Es war im Winter. Der Schnee lag ziemlich hoch. Als ich nichts Böses ahnend auf den Platz vor dem Gemeindezentrum ankam, bekam ich als erstes einen Schneeball an den Kopf. Das war Dirk. Einer meiner Mitkonfirmanden. Ich kannte ihn von der Grundschule. Dirk war ein ganzes Stück kleiner und auch schwächer als ich, hatte aber trotzdem viel Mut und ein ziemlich großes Mundwerk. „Na warte,“ dachte ich mir, verfolgte Dirk, kriegte ihn zu packen und beförderte ihn erst einmal in einen Schneehaufen, wo ich mich auf ihn setze und ihm eine ordentliche Ladung Schnee in den Kragen stopfte.
Lange kann es nicht gedauert haben. Bald schon zog mich jemand unsanft am Kragen und zerrte mich von Dirk herunter. Das war unser Pfarrer. Und dann setzte es eine Standpauke: „Was fällt dir ein? Was machst du mit Dirk, der kleiner und schwächer ist als du?“ Natürlich habe ich mich verteidigt. „Dirk hat angefangen. Er hat mir einen Schneeball an den Kopf geworfen,“ habe ich unserem Pfarrer erklärt. Das konnte ich mir doch nicht gefallen lassen!? Dirk stand daneben, schüttelte sich den Schnee aus den Klamotten und sagte dann: „Na und? Jesus hat doch gesagt: 'Wenn Dir jemand auf die linke Backe schlägt, dem sollst du auch die rechte hin halten!'“ Unser Pfarrer war begeistert: „Das hast du dir aber gut gemerkt, Dirk. Du hast etwas im Konfirmandenunterricht gelernt. Und du, Georg, solltest dir das zum Vorbild nehmen!“

Mir hat es damals die Sprache verschlagen. Ich habe gar nichts gesagt, war aber nicht einsichtig, sondern stinksauer. Das können Sie, das könnt Ihr Euch bestimmt gut vorstellen.
Muss man sich etwa alles gefallen lassen? Darf ich mich nicht wehren? Und: Ist das nicht ungerecht? Diese Fragen haben mich noch eine ganze Zeit lang beschäftigt. Jesus und diese Geschichte mit der linken und der rechten Wange kamen mir ganz schön weltfremd vor.

Wahrscheinlich denken das viele, wenn sie diese Worte Jesu aus der Bergpredigt hören:
Ich kann doch nicht dem, der mich schlägt, auch noch die andere Wange hinhalten. Das bringt doch einen Schläger nicht dazu, dass er aufhört!? Ich kann doch nicht einfach auf mein gutes Recht  verzichten und fünf gerade sein lassen. Wo komme ich dann hin!? Und meinen Feind lieben – geht das überhaupt? Vielleicht reicht schon Zurückhaltung, Mäßigung, ein Waffenstillstand. Das klingt vernünftig. Aber Liebe – das ist doch wohl etwas zu viel verlangt!?

Nein, sie passen auf den ersten Blick nicht in unsere Welt, diese Vorschläge Jesu. Und wahrscheinlich haben Menschen zu allen Zeiten das schon gedacht. Schon vor 2000 Jahren in der Zeit, in der Jesus lebte. Hinter den Worten stecken konkrete Erfahrungen: „Wenn jemand dich zwingt, eine Meile mit dir zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“ - Damals konnten römische Soldaten als Besatzer jeden harmlosen Passanten zwingen, sie zu begleiten, wenn sie zum Beispiel Unterstützung bei Transporten brauchten. Das mussten sich die Menschen gefallen lassen – oft mit der geballten Faust in der Tasche. Und Jesus? Er empfiehlt, freiwillig noch eine weitere Meile mitzugehen. Ich kann mir vorstellen, dass sich damals schon einige seiner Zuhörerinnen und Zuhörer gehörig gewundert haben, dass sie gedacht haben: „Das meinst du doch nicht ernst!“

Sie klingen auch nicht vernünftig, diese Vorschläge der Bergpredigt: Ist es etwa richtig, dem Bösen nicht zu widerstehen? Darauf läuft ja alles hinaus. Und das wird manchmal übersehen:
Manche sehen hier eine Anleitung zum gewaltlosen Widerstand. Es gibt Situationen, in denen bringt es nichts, sich offen zu wehren und zu widersetzen. Dann ist Gewaltlosigkeit und Erdulden des Bösen die bessere Option. Das kann dazu führen, dass der andere sich ändert. Das hilft uns Menschen, diese Welt zum Besseren zu verändern.
Diese Form von Widerstand kann tatsächlich vernünftig sein. Aber ist es das, worauf Jesus hier hinaus will? Ich denke: Nein, denn hier ist nicht davon die Rede, dass ein Schläger sich beschämt abwendet und ändert, wenn er nach einer Ohrfeige direkt die andere Wange hingehalten bekommt. Keine Rede auch davon, dass ein Mensch, der auf sein gutes Recht verzichtet, diese Welt zum Besseren verändert. Im Gegenteil: „Ihr sollte dem Bösen nicht widerstehen!“ Aber: Wo kommen wir dahin, wenn wir Menschen uns nicht wehren, wenn es drauf ankommt? Wo kommen wir hin, wenn sich niemand mehr dem Bösen in den Weg stellt?

Aber was mache ich dann mit diesen Worten Jesu?

Auf den ersten Blick passen diese Vorschläge nicht in unsere Welt. Bei genauerem Hinsehen sind sie aber schon Realität, Teil dieser Welt. Auch wenn ich nicht so lebe, auch wenn ich es gar nicht schaffe, einer hat so gelebt: Jesus selbst.
Ich muss dabei an unseren Konfirmandenunterricht in diesem Jahr vor den Herbstferien denken. Jesus war das Thema der letzten Wochen. Wir haben dazu einen Film über das Leben Jesu gesehen. Eine Frage, die uns danach beschäftigt hat, war diese: Jesus wusste, was ihn in Jerusalem erwartete. - Warum hat er sich dem ausgesetzt? Warum hat er sich vor Pilatus nicht verteidigt? Warum hat er nicht auf seine Unschuld bestanden? Warum hat er sich schlagen lassen? All das hat Jesus nicht getan. Er hat sich dem Bösen nicht widersetzt, sondern sich ihm ganz und gar ausgeliefert.
Der Jesus der Bergpredigt erduldet später in Jerusalem selbst das Böse: Er hat sich nicht gewehrt. Er hat seinen Jüngern befohlen, nicht zum Schwert zu greifen, als man ihn verhaftete. Er hat für seine Henker gebetet. Und er hat damit gezeigt, wie Gott selbst zu dieser Welt steht: Gott erträgt uns Menschen mit dem, was wir Böses tun. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Gott steht dieser Welt nicht ohnmächtig oder hilflos gegenüber. Er ist auch nicht gleichgültig angesichts von Bosheit und Ungerechtigkeit. Es gibt nur einen Grund, warum er dieser Welt so begegnet: Liebe. Es ist Liebe, in der Gott diese Welt erträgt. Und diese Liebe ist so abgrundtief, dass sie unsere menschlichen Abgründe fassen kann. Sie hält selbst Bosheit und Ungerechtigkeit stand, lässt sich nicht dadurch beirren.
Ich glaube: So begegnet Gott seiner Welt. So begegnet er uns Menschen, die ihn links liegen lassen und ihn einen guten Mann sein lassen, die wir seine Schöpfung zu Grunde richten und vor allem an uns selbst denken. Und ich glaube: Ohne diese abgrundtiefe Liebe Gottes hätten wir Menschen  diese Welt und uns selbst längst schon zugrunde gerichtet.
Jesus gibt dieser Liebe Gottes ein Gesicht, indem er sich ganz in diese Welt hineingibt, sich ihr ausliefert. Er tritt selbst dafür ein. Und wenn das so ist, dann ist das die stärkste Realität, die es geben kann: Gott selbst!

Trotzdem ist da auch die Forderung: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
Ich weiß: Das bin ich nicht. So lebe ich nicht. Ich schaffe es nicht, meine Feinde zu lieben. Und oft genug sehe ich es auch gar nicht ein! Wenn mir jemand dumm kommt, kann der doch keine Freundlichkeit meinerseits erwarten!? Da bin ich heute noch oft genug so wie damals als Konfirmand. - Ich muss mir schließlich nicht alles gefallen lassen. Und wo komme ich denn da auch hin? Und genau diese Frage kann ich auch anders stellen: Wo kommen wir Menschen hin, wenn wir nur auf unser gutes Recht bestehen und trotzdem die meisten auf dieser Welt zu kurz kommen? Wo kommen wir hin, wenn die Schubladen gut und böse, Freund und Feind gut sortiert und fest geschlossen bleiben? Wo kommen wir hin, wenn wir Menschen Gewalt gegen Gewalt setzen?
Ich bin überzeugt: Menschen, die an Gottes Liebe glauben, lässt diese Liebe nicht kalt. Die eifern dem nach, wollen zeigen, dass sie zu diesem Gott gehören, seines Geistes Kinder sind.  Die lassen sich vom Unzumutbaren irritieren. Die lassen sich zum Unzumutbaren provozieren. Und ob es dann letzten Endes wirklich so unvernünftig ist?
Einfach ist es nicht, einmal nicht vom Gegebenen auszugehen, die eigenen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Doch bei näherem Hinsehen denke ich: Genau das brauchen wir! Amen.