Predigt zu Offenbarung 1, 9-18 von Uwe Tatjes
1,9
Liebe Gemeinde,
  
  jede Nacht verlieren wir die Kontrolle. Wir haben keinen Einfluss darauf, was mit uns geschieht. Nachts treten wir ins Reich der Träume. Und Träume führen uns über Grenzen hinaus. Denn im Traum ist alles möglich. Träume führen uns auch an unsere Grenzen. Denn manche Träume sind beängstigend. Manches Unbewußte tritt da herauf. Vieles wird verarbeitet, was wir erlebt haben oder was uns bedrängt. Was noch nicht sicht- und erfahrbar ist, wird im Traum schon seh,-, hör- und greifbar.
  
  Träume sind Schäume, sagen die einen. Ohne Träume geht es nicht, halte ich dagegen. Sie sind ein Ausgleich zu einer Realität, die manchmal alles andere als traumhaft ist. Sie verweisen auf eine Zukunft, die so jetzt noch nicht ist, aber noch werden kann.
  
  Eine Freundin erzählt mir ihren Traum. Sie hat geträumt, dass unsere Welt "enteckifiziert" werden sollte, also keine Ecken mehr habe durfte. Das war beeindruckend. Der Plan war, erzählt sie weiter, dass wir in einer ausschließlich runden Welt leben sollten. Verschiedene Einheiten waren darauf spezialisiert,  alle Ecken rund zu machen: Tische mussten rund geschliffen, Papier rund geschnitten und Kreuzungen zu Kreisverkehren umgebaut werden, usw. Meine Freundin hatte dabei die Aufgabe, auch die Sprache zu "enteckifizieren". Was sie genau tun sollte, wußte sie nicht. Waren die Buchstaben gut, die rund waren wie das "U" oder das "A" und Buchstaben mit Ecken wie "A" oder "W" dagegen schlecht? Oder sollte die Ausdrucksweise nicht sperrig, sondern fließend und weich sein? Durfte man die Worte nicht so hart aussprechen? Und wie soll man über Ecken sprechen, wenn genau die Ecken und auch das Wort dafür verschwinden sollen? Ihre Ratlosigkeit drückte sich darin aus, dass sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe stets einen Vortrag hielt mit dem Titel: "Die Enteckifizierung in der Sprache ist ein Aberglaube". Aber am schlimmsten war, sagt sie schließlich, war, dass niemand gefragt hat, warum eigentlich die Ecken verschwinden sollen und dass alle widerstandslos mitmachten.
  
  Wir kommen ins Gespräch über ihren Traum. Wie verlockend einerseits die die Aussicht ist auf eine runde Welt ohne Ecken, aber was auch für eine ungeheuerliche Gleichmacherei darin liegt. Die Welt ist nicht nur rund. Sie ist rund und eckig. Und wir sprechen über die Ängste meiner Freundin, an etwas mitzuwirken, wo sie mit Herzen nicht dahinter steht. Sie sucht noch ihren Platz.
  
  Träume sind keine Schäume. Sie sind voller Bedeutung. Dessen sollten wir uns auch klar sein, wenn wir jetzt den Traum des Sehers Johannes hören, wie er aufgezeichnet ist im Buch der Offenbarung:
  
  9 Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Bedrängnis und am Reich und an der Geduld in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus. 10 Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune, 11 die sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea. 12 Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter 13 und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. 14 Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme 15 und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen; 16 und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht. 17 Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot; und er legte seine rechte Hand auf mich und sprach zu mir: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte 18 und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle. Offb 1,9-18
  
  Liebe Gemeinde!
  
  Auch Johannes träumt. Am Tag des Herrn, am Sonntag also, wo man ganz besonders intensiv auf Gott hören und sich ausrichten kann, hat er eine Vision. Er wird überschwemmt von gewaltigen, einprägsamen und seltsamen Bildern. Eine Lichtgestalt erscheint ihm, imposant und geheimnisvoll in der Erscheinung, eingehüllt in ein Lichtermeer aus Leuchtern und weiß-strahlende Gewänder. Es sind starke Bilder, eindrücklich die Augen, die wie Feuerflamen strahlen oder die Füße "wie Golderz". Ein Bild, das Ehrfurcht gebietet, aber auch Frieden und Geborgenheit ausstrahlt. Ein sinnliches Bild, ein Bild, das die Elemente heraufbeschwört: Feuer - Wasser - Schnee, das Bild ist kalt, heiß und feucht zugleich. Es ist ein Traum, eine Vision, die den Rahmen des Alltäglichen sprengt. Und in der Tat ist es ein Bild, wie man es vielleicht in einem Zustand haben könnte, den man eher durch bewusstseinserweiternde Mittel erlangt. Wie ja auch Visionen in dem Verdacht stehen, eher durch Drogen oder andere suspekte Instanzen verursacht zu sein. Wie sagte Helmut Schmidt einst so prägnant: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". So ganz abwegig ist der Verdacht bei Johannes vielleicht auch nicht. Wenn er schreibt: "ich wurde vom Geist ergriffen", dann könnte man das auch durchaus übersetzen mit "ich war in Stimmung". Wie überhaupt das nicht ganz lupenreine und treffsichere Griechisch von Johannes den Verdacht entstehen lassen könnte, er sei nicht ganz bei Troste gewesen, als er seine Vision zu Papier gebracht hat. Aber wenn man die Angabe des des Johannes "ich war in Stimmung" einmal anders liest und versteht, dann klingt das gleich anders: Liebende werden das sofort verstehen, jene Magie des Augenblicks, jenes Treffen der Blicke, jenes Verschränken der Seelen, das markiert, dass sich gleich Außergewöhnliches, Überwältigendes, Berauschendes ereignen wird. Es passt nicht immer. Aber Johannes hat sich in diesem Augenblick öffnen können für die Gegenwart Gottes, die sein Bewusstsein weitet, die ihn sehen und hören lässt, die berauschend ist. Diese Sehnsucht, solche Augenblicke zu leben, in denen die Grenzen des Vertrauten überschritten werden und die Schranken unserer Möglichkeiten und der Konventionen durchbrochen werden, haben wir alle. Nicht zuletzt deshalb suchen Menschen vielleicht auch immer Rauschzustände, um das wenigstens für einen Augenblick zu erleben. Ganz egal wo: bei der Begeisterung in der Südkurve, mit einer oder auch mehr Flaschen Bier oder einem einlullenden Haschisch-Joint. Einen Moment aller Erdenschwere entfliehen und versöhnt werden mit sich und der Welt, leicht sein. Schlimm ist bei all diesen Rauschzuständen, dass man hinterher wieder brutal zurückfällt in ebenjene Schwere, der man zu entkommen versuchte. Nicht nur der Kater ist dabei ernüchternd. Ist das bei Johannes heiligem Rausch auch so? Nicht ganz. Denn man könnte sagen: Der Rausch im allgemeinen vernebelt, der heilige Rausch lässt klarer sehen.
  
  Denn Johannes, der sich selbst ja ganz klein macht und da vor der Lichtgestalt wie tot daliegt, bekommt einen klaren Auftrag: "Fürchte Dich nicht!" und "Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden". Johannes soll seinen Traum, seine Vision nicht für sich allein haben, er soll ihn weitergeben. Denn die Vision, die er hat, soll nicht nur berauschen und auf den Boden werfen. Sie will aufrichten, so wie sie am Ende Johannes aufrichtet, sie will trösten. Und deshalb muss diese Vision, dieser Traum aufgeschrieben werden, damit er nicht - wie so viele unserer Träume - verloren geht. Und die Umgebung, in der Johannes sich bewegt, hat solchen Trost auch bitter nötig. Denn die Christen seiner Zeit werden bedrängt und verfolgt, sie erleben staatliche Willkür und Gewalt. Nichts sehnen sie mehr herbei, als dass der Schrecken bald vorbei und der Herr selbst wieder da sei: um die Welt zu richten und den Frieden zu bringen. Die Botschaft, die diese Menschen bekommen ist eindeutig: "Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle."
  
  Das letzte Wort behalten nicht die Schrecken, nicht die Qualen. Das letzte Wort haben nicht Menschen. Das letzte Wort hat der, der als Verurteilter und Gerichteter auf dem Thron sitzt und mit seinem Wort, das wie "ein scharfes, zweischneidiges Schwert" aus seinem Mund geht, Gottes Gerechtigkeit zum Sieg verhilft.
  
  Mit diesem Zuspruch kann man wieder klarer sehen, aufrechter gehen, zu seinem Glauben stehen. Der heilige Rausch verpufft nicht in einem Kater, er baut eine Brücke in die Wirklichkeit.
  
  Das auch für uns. Denn wenn wir ehrlich sind: Grund genug, sich sinnlos zu berauschen, gäbe es bei uns ja auch. Terror allerorten, die Weltwirtschaftsordnung mehr als ungerecht, unsere Politiker sind eben auch nur Menschen und das meistens mehr als uns lieb ist, die Währung instabil und der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft geht mehr und mehr verloren. Wofür wollen wir leben? Wofür wollen wir kämpfen? Wie können wir möglichst viele und womöglich alle mit ins Boot holen? Dazu gesellen sich die kleinen und großen Katastrophen des eigenen Lebens: Beziehungen, die zerbrechen oder sich verändern, Sorgen um die Zukunft, das Ungenügen an den eigenen oder fremden Maßstäben, die Sehnsucht danach, zu Hause sein und das Wissen darum, noch auf der Suche zu sein.
  
  Wir haben Angst vor der Apokalypse, vor dem Ende mit Schrecken. Vielleicht ist die Apokalypse oft viel leiser als wir vermuten. Eine Frau aus Ostdeutschland erzählte mir, dem Wessi, von einer Kindheitserinnerung, das zweiwöchige Ferienlager, wo man hinmusste - auch schon als Zweitklässlern. Und ihr Schrecken, bei einem Kinderspaß ertappt und dann vorgeführt und bestraft zu werden. Das wirkte nach bis heute. Als sie zufällig an der Stelle vorbeikam, wo das Ferienheim stand, da musste sie doch noch einmal schauen. Von dem Ferienheim war nichts geblieben. Wie so vieles aus der ostdeutschen Vergangenheit wegsaniert, abgerissen. Nur ein paar alte Steinplatten vom Parkplatz und vom Fahrweg waren noch da. Und das Eingangstor, auf dem zu beiden Seiten stand: Seid bereit!
  
  Seid bereit! Das hätte sich damals niemand träumen lassen, dass die hoffnungsvoll aufgebrochene sozialistische Gesellschaft so sang- und klanglos verschwinden würde. Das hätte auch niemand gedacht, dass der Kapitalismus, der blühende Landschaften versprach und nur große Gewerbegebiete und neue Autobahnen baute, so einfach in eine tiefe Krise rutschen würde.
  
  Seid bereit! Seid bereit, dass Dinge sich ändern. Seid bereit, dass diese ungerechte Welt keinen Bestand hat. Seid bereit, dass sich Dinge wirklich ändern und nicht nur Gras über die Sache wächst, wie auf dem Gelände des alten DDR-Ferienlagers. Seid bereit: nicht nur für stille Apokalypse, sondern für lebendige Hoffnung, für aufrichtenden Trost.
  
  Der heilige Rausch des Johannes will uns nicht einlullen, sondern aufwecken. Es gibt Grund zur Hoffnung. Mit der Hoffnung lässt sich auch wieder klarer auf unsere Welt und unser Leben sehen, das nicht immer traumhaft ist und so manche Ecken und Kanten hat.
  
  Erinnern Sie sich noch an den Traum meiner Freundin vom Anfang? Dass es in dieser Welt runder zugeht, dass es nicht mehr so viel geben muss, an dem wir uns stoßen, das ist eine berechtigte Hoffnung. Aber der Weg dahin liegt nicht darin, dass wir alles rundschleifen. Wir müssen uns auch den Ecken und Kanten stellen.  Der, den Johannes da schaut, hat genau das getan. Jesus Christus, der hier als Lichtgestalt erscheint, musste erst durch das Dunkel gehen. Er hat sich dem Kantigen und Sperrigen und dem Stechenden des Lebens gestellt. Ja, er hat es durchlitten. Darum sind seine Worte auch keine leeren Worte, keine halluzinierte Wahrheit. Wenn er kommt, wenn er spricht, werden uns nicht Hören und Sehen vergehen. Wir erst richtig ins Hören und Sehen kommen. Sein Kommen markiert nicht das Ende, sondern einen neuen Anfang.
  
  Darum ist die Apokalypse des Johannes ein Trostbuch. Wir brauchen Menschen, die wie er, im heiligen Rausch, Gottes Traum festhalten und weitergeben. Solche Träume sind keine Schäume. Sie helfen uns, das Leben, wie es ist und unsere Sehnsucht, dass es anders sein könnte, zusammenzuhalten. Sie lullen nicht ein. Sie machen wach und lassen klarer sehen. Aufrecht gehen kann man mit solchen Träumen und getröstet leben und auch kämpfen.
  
  Und wir gehen mit ihnen hoffentlich einer Welt entgegen, in der es runder zugeht und auch das Eckige versöhnt ist. Rund wie eine Hostie, die uns an das Opfer, das Gott dafür bringt erinnert. Und rund wie eine Umarmung. Denn Gottes Liebe ist bei uns. Die Welt ist rund und eckig. Johannes macht uns Mut, die Differenz zwischen unseren Träumen und unserer Wirklichkeit auszuhalten. Die Welt ist rund und eckig. Und Gott ist bei uns.
  
  Darum: "Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle."
   
Perikope