Predigt zu Offenbarung 7, 9-17 von Christian-Erdmann Schott
7,9
Liebe Gemeinde, als die Alte Kirche vor mehr als anderthalb Jahrtausenden das Kirchenjahr einrichtete, hat sie einen außerordentlichen Tiefsinn bewiesen. Das zeigt sich auch bei der Anordnung der Weihnachtsfeiertage. Während am I. Feiertag die Geburt Jesu im Mittelpunkt steht, war der II. Feiertag dem Gedenken an den Erzmärtyrer Stephanus gewidmet.  Dem entsprachen die Vorschriften für die Liturgischen Farben:  Für Weihnachten I war weiß vorgeschrieben. Das symbolisiert die Freude über die Ankunft des Christuskindes, das Aufstrahlen des göttlichen Lichtes und der göttlichen Barmherzigkeit in die dunkle Welt hinein. Demgegenüber ist als Liturgische Farbe am II. Weihnachtsfeiertag rot vorgesehen. Damit wird an das Blut der Märtyrer erinnert, für die stellvertretend hier Stephanus genannt ist. Stephanus, dieser fromme Glaubenszeuge, von dem  Lukas in der Apostelgeschichte (Kap. 6 und 7)  berichtet. Heute ist diese Ordnung der Alten Kirche fast vergessen. Das Weihnachtsfest überstrahlt auch den II. Feiertag so, dass die ursprüngliche Bestimmung dieses Tages, dass die Erinnerung an Stephanus, den meisten Kirchenmitgliedern gar nicht mehr bekannt ist.
Trotzdem, vor diesem geschichtlichen Hintergrund macht es Sinn, sich die Frage zu stellen: Was wollte die Alte Kirche mit diesen gegensätzlichen Akzentuierungen so betont schroff nebeneinander im Rahmen des Weihnachtsfestes  ausdrücken? Ich denke, sie wollte  daran erinnern, dass die Ankunft Jesu Christi in unserer Welt eine Provokation darstellt, und zwar eine doppelte Provokation. Sie  provoziert auf der einen Seite Jubel im Himmel und Freude auf Erden. Ausdrücklich werden die Engel und ihre Heerscharen, aber auch  die Hirten als Vertreter der Armen und die Weisen aus dem Morgenland als Repräsentanten der Klugen, vermutlich auch als Repräsentanten der drei damals bekannten Teile der Welt, genannt. Freude löst die Ankunft auch aus bei den Eltern des Kindes, bei Maria und Josef. Aber eben nicht bei allen Menschen. Schon in der Weihnachtsgeschichte wird klar, dass die Ankunft des Gottessohnes in der Welt auf der anderen Seite auf Desinteresse, Ablehnung, ja Hass trifft:  In der Herberge ist kein Platz für ihn. Die Führungsschicht – der Hohe Priester, der römische Statthalter, die gut Situierten -, sie alle nehmen keine Notiz von ihm. Herodes schließlich reagiert mit unverhohlenem Hass und dem Versuch, das neugeborene Kind durch seine Ermordung ein für alle Male auszuschalten.
Auf diese Weise machen die beiden Weihnachtsfeiertage auf die dramatische Spannung aufmerksam, die bereits  in der  Weihnachtsgeschichte drinsteckt  und von Weihnachten an dann auch die Geschichte  des Christentums begleitet.  Auf dem Weg durch die Zeit gab es für die Christen ruhigere Phasen, in denen die Feindschaft der Feinde verdeckt war.  Es gab und gibt bis heute aber auch ganz andere Konstellationen, Phasen des Kirchenkampfes und der Christenverfolgung, in denen den Glaubenden der Märtyrertod als sehr reale Möglichkeit  täglich vor der Seele steht.  Zu den großen Fragen, die die Christenheit immer, besonders aber  in Leidens- und Verfolgungszeiten  bewegt haben,  gehört deshalb auch die nach dem Ausgang der Geschichte: Wer wird am  Ende der Sieger sein? Wird es Jesus Christus sein oder sind es die oftmals so übermächtig erscheinenden und sich so siegessicher darstellenden  feindlichen Mächte?  Diese Frage steht auch hinter dem Predigttext, der für den diesjährigen II. Weihnachtsfeiertag vorgesehen ist. Ich lese:
Der Predigttext:
  Offenbarung 7, 9. Der Seher schreibt: Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen,
10. und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt, unserm Gott. und dem Lamm!
  11. Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Gestalten und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an
12. und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
  13. Und einer der Ältesten fing an und sprach zu mir: Wer sind diese, die mit den weißen Kleidern angetan sind, und woher sind sie gekommen?
14. Und ich sprach zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu mir: Diese sind‘s, die gekommen sind aus der großen Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider hell gemacht im Blut des Lammes.
15. Darum sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel, und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen.
16. Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten, es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze;
17. denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Der Seher blickt in die Zukunft. Er sieht sie als schon beschlossene und fertige, als schon zubereitete, aber noch nicht offenbar gewordene, hier auf Erden bereits erschienene Realität. Noch ist sie im Himmel. Dort  wartet sie darauf, am Ende der Zeit auf der Erde zu erscheinen und sie einzunehmen. Dann werden auch die Verfolgungen, unter denen die Glaubenden zu leiden haben, aufhören. Dann wird Gott die Tränen der Traurigen abwischen. Dann werden die Verheißungen der alttestamentlichen Propheten in Erfüllung gehen und die, die hier zur Zeit der großen Trübsal durchgehalten haben, werden zu den Gesegneten und Geretteten gehören; zu denen, die um den Thron Gottes und des gekreuzigten Christus, des Lammes, stehen und anbeten und loben.
Das alles heißt: Der Seher will seiner Gemeinde Mut machen und sie befestigen in dem Glauben, dass der Sieg, dass die Zukunft bei Gott liegen wird, auch wenn es hier und heute noch durch schwere Zeiten geht.
Ich kann verstehen, dass manchem unter uns die Bilderwelt, in der sich der Seher bewegt, fremd ist, nicht nur, weil Thronsäle und Huldigungsszenen in unserer Lebenswelt nicht mehr vorkommen, sondern fast mehr noch wegen der Gewalt, die diese Siegesfeier bei allem friedlichen Jubel und bei aller Anbetung auch ausstrahlt. Von den Menschen, an die sich der Seher wendet,  dürfte sie allerdings als Trost empfunden worden sein. Der Geist des Bösen, die Schikanen, die Verfolgungen, die sie täglich miterleben mussten, schienen allmächtig und  unbezwingbar. Und nicht alle Christen hatten von sich aus die innere Stärke, diesen Mächten bis zum letzten Blutstropfen zu widerstehen, wie Stephanus. Andere haben ihren Glauben weggeworfen und dem Christentum keine Chance und keine Zukunft mehr gegeben. Klassische Beispiele dafür sind Judas, der Jünger des Herrn,  oder auch Petrus. Petrus, der in einem Schwächeanfall  erklärte „Ich kenne diesen Menschen nicht“ (Matth. 26, 72). Die anderen Jünger sind weggelaufen, haben sich versteckt,  haben sich eingeschlossen und wollten am liebsten von der ganzen Sache mit Jesus nichts mehr wissen. Wir tun diesen frühen Christen nicht Unrecht, wenn wir uns klar machen: Sie waren bedroht und hatten mitunter ganz große Angst, dabei natürlich auch Sorgen um ihre Familien. Und nun wird ihnen hier,  in diesen Bildern des Sehers Johannes, vor die Augen gestellt, dass Gott und  das Lamm noch stärker und noch größer und zuletzt über alle Feinde triumphierende Sieger sind. Für die Angefochtenen, Gedemütigten, Geängsteten aller Zeiten war und ist dieser Ausblick ein echter Befreiungsschlag.
Dass uns dieser Bibelabschnitt fremd vorkommt,  ist aber nicht allein eine Folge der Bildersprache.  Es ist auch eine Folge des unterschiedlichen Umganges mit dem Bösen bei den frühen Christen und bei uns. Bei uns zeigt sich vorherrschend die Neigung, das Böse in seiner Tiefe und Fortdauer zu verharmlosen. Wir sehen wohl, dass es viel Böses gibt, aber wir halten es in der Regel für Abweichungen von der Norm, für Einzelfälle, vielleicht auch für Verirrungen in einer im Prinzip guten und harmonischen Welt. Der allgemeine Optimismus, der uns seit der Aufklärung beseelt, lässt eine durch das Böse grundsätzlich bestimmte Weltsicht gar nicht zu. Der Mensch ist gut, die Welt ist gut – das ist der Tenor.  Und wenn es nicht so ist, dann müssen wir es eben korrigieren. Dazu passt auf der anderen Seite unsere Neigung zum Jammern, Klagen, Anklagen. Dahinter verbirgt sich die (unausgesprochene) Enttäuschung über den Mangel an eigentlich erwartetem Gutem. Wir erwarten als Normalfall das Gute. Das Böse und Negative hat es eigentlich gar nicht zu geben. Und wenn es auftritt, sind wir beleidigt, gekränkt, enttäuscht und  klagen und jammern.
Das war bei den frühen Christen nicht so. Sie haben sich da keine Illusionen gemacht, haben sich nicht  in unbewiesene Ideen vom moralischen Fortschritt, in Menschheitsbeglückungsträume oder - Ideologien geflüchtet. Sie sahen, dass das Leben außerhalb des Paradieses gelebt wird, bedroht durch Sünde, Tod und Teufel. Abgründig, dunkel  in seiner Gottesferne. Sie hatten Angst in diesem Dunkel.  Und Jesus Christus hat es auf den Punkt gebracht „In der Welt habt ihr Angst“ (Joh. 16, 33). Gerade darum wird ihnen immer wieder zugerufen -  schon in der Weihnachtsnacht „Fürchtet euch nicht“. Dabei wird ausdrücklich nicht an die Selbstheiligungskräfte der Menschheit appelliert. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte Christus gar nicht zu erscheinen brauchen. Das könnten wir auch ohne ihn. Nein, es geht darum, diesem Menschen in seiner Angst die rettende gegenwärtige und zukünftige Nähe und Barmherzigkeit des großen Gottes zu verkündigen – um  ihn so wieder auf Gott, seinen Schöpfer, auszurichten und durch diese Ausrichtung  aufzurichten, zu stärken, zu ermutigen, zu erfreuen.
Die spannungsreiche Einheit, in der die Alte Kirche die beiden Weihnachtsfeiertage gesehen hat, meint deshalb auch dieses: An erster Stelle steht die Gegenwart Gottes. Davon spricht der I. Feiertag. Doch das Böse als fortdauernde bedrohliche Realität ist ebenfalls da. Davon spricht der II. Feiertag. Durch die Benennung und Zuordnung dieser Schwerpunkte hat die Alte Kirche das Bekenntnis der Christen im Medium des Kirchenjahres sinnenfällig ausgedrückt und gestaltet. Es besagt: Das Böse ist  begrenzt durch den Blick zurück auf den an Weihnachten Gekommenen und durch den Blick voraus auf den am Ende der Zeit Wiederkommenden. Oder, was dasselbe ist: Das Böse  ist noch da, aber der Grund und die Zukunft unserer Welt und unseres Lebens gehören ihm nicht. Amen.
Perikope