Hinweis: Phil 2,12-13 ist die Lesung, kann aber auch der Predigttext sein.
Wer bin ich wirklich?
Predigt-Text: Phil. 2, 12f:
12 Also, meine Lieben, - wie Ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit, - schaffet, dass Ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.
13 Denn Gott ist’s, der in Euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.
- Ausgerechnet am Reformationstag drängt Paulus uns in einen Widerspruch. Wer entscheidet: Wir oder Gott in uns?
Liebe Gottesdienstbesucher!
Ich höre die Briefempfänger in Philippi stöhnen: „Das ist doch ein totaler Widerspruch, ehrwürdiger Paulus! Einerseits forderst Du uns auf, für unser Heil selbst zu sorgen! ‚Schaffet, dass Ihr selig werdet!‘ rufst Du uns Philippern zu. Und: ‚Mit Furcht und Zittern‘ fügst Du noch zu Recht an; zu Recht, denn wir werden hier in Philippi grausam verfolgt, von Juden und von Römern! Aber andererseits ermahnst Du uns: ‚Allein Gott kann ich Euch wirken: Euer Wollen und Euer Vollbringen, - nach seinem Wohlgefallen; nicht: nach unserem Wohlgefallen!
Das ist doch ein totaler Wiederspruch, ehrwürdiger Paulus! Was sollen wir in unserer furchtbaren Situation denn nun tun? Unser Heil selbst schaffen und allein auf unsere Kraft vertrauen? Oder uns auf Gottes Wirken in uns verlassen und unser Wollen und Vollbringen allein von Gott erwarten, weil nicht wir, sondern er in uns wirkt!?“
Liebe Gemeinde! Mir geht es wie den Philippern! Ihnen auch? Auch ich empfinde Paulus Aufforderung als widersprüchlich. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich selbst aktiv werden oder soll ich mein Wollen, Entscheiden und Handeln allein Gott überlassen und wenig Aktivität zeigen?
Ich erinnere viele solcher Situationen: Bei meiner Entscheidung damals, als ich ein externes Berufsangebot erhielt, war ich im Zwiespalt: Sollte ich entscheiden und meine Familie aus der Heimat heraus reißen oder sollte ich auf eine Eingebung von Gott warten? Bei der Erkrankung meiner Eltern aus Altersgründen wusste ich nicht, ob ich es allein schaffen würde und erwartete von Gott eine Entscheidungshilfe, ob Seniorenheim oder nicht? Und bei der langen und schwierigen Berufswahlphase meiner Kinder erhoffte ich, dass Gott in den Kindern eine Entscheidung wirke, so dass nicht ich nachhelfen musste. Es gab und gibt viele Lebensphasen, in denen ich nicht wusste, wie und was Gott in mir wirkt. Oft fragte ich: Wie, Jesus Christus, würdest Du jetzt entscheiden? Aber ich hörte keine eindeutige Antwort. - Ich vermute, liebe Gemeinde, dass auch Sie solche Erfahrungen gemacht und sich gefragt haben: Wer handelt und entscheidet hier eigentlich – Ich oder Gott in mir?
Warum drängt Paulus ausgerechnet am Reformationstag uns in solchen Widerspruch? Wenn Gott uns unabhängig von unserem Entscheiden und Handeln annimmt, rechtfertigt und gerecht macht, dann brauchen wir doch eigentlich gar nicht mehr zu fragen: Wer handelt und entscheidet da – Gott in mir oder ich selbst?
- War es auch zu Paulus Zeiten ein Widerspruch?
Bitte gehen Sie mit mir nochmals zu Paulus zurück. Vor 2000 Jahren waren ja die Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Mensch und Gott völlig anders als heute. Die Vorstellung von einem autonomen Menschen mit einem souveränen Ich gab es damals nicht. Der Mensch war, wie sogar noch Martin Luther 1530 meinte, ein Reittier, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird. Allein kann das Pferd bzw. der Mensch keine Richtung finden. Es ist auf einen Führer angewiesen. Der Reiter, natürlich zusammen mit dem Pferd, zeigt die Richtung an. Auf den Menschen übertragen: Allein aus sich heraus, so empfand man damals zu Paulus Zeiten, kann kein Mensch etwas Geordnetes entscheiden und tun. Nur durch Gottes oder des Teufels Führung kann der Mensch wollen, entscheiden und handeln. Deshalb schrieb Paulus den Philippern: „Gott allein ist es, der in Euch Euer Wollen und Vollbringen wirkt“ und zwas „nach seinem Wohlgefallen“, nicht nach Eurem Wohlgefallen. (Dass auch der Teufel die Philipper reiten und in ihnen wirken könnte, erwägt Paulus nicht.)
Wie sollen wir nun aber Paulus andere, uns widersprüchlich erscheinende Aufforderung verstehen: „Schafft Euch Euer Heil selbst, damit Ihr selig werdet!“ Das dürfen wir eben nicht so verstehen, wie wir es anfangs taten: als ob Paulus hier einen autonomen Menschen mit einem souveränen Ich anspricht. Nein er fordert die Philipper nicht in diesem Sinne auf: Ihr allein seid verantwortlich für Euer Wollen, Entscheiden und Handeln. Nein! Vielmehr spricht er die Philipper an als solche, die Christus nachfolgen wollen: die den Feind nicht vernichten, sondern lieben wollen; die nicht zurück schlagen, sondern noch die andere Wange hinhalten wollen; die nicht zürnen, sondern vergeben wollen; usw. Denn Paulus lobt in unserem Text ja die Philipper, dass sie Jesus Christus gegenüber „gehorsam“ sind: ‚Ihr seid immer gehorsam gewesen (gegenüber Christus)!‘ D.h. Ihr habt seine Bergpredigt-Forderungen im Glauben an Gottes Kommen befolgt.
Das meint Paulus, wenn er die Philipper uns auffordert: Schafft Euch Euer Heil! Mit Furcht und Zittern. D.h. Werdet Nachfolger Christi! Befolgt die Bergpredigt! Werdet Friedensstifter und gewaltlos Sanftmütige. Trotz Eurer Angst vor der Gewalt der Gewalttätigen.
- Paulus meinte es nicht als Widerspruch. Aber ich lebe im Zwiespalt: Wirke ich oder Gott in mir?
Ich höre wieder die Antwort der Philipper auf Paulus‘ doppelte Aufforderung, die jetzt aber anders lautet als ich anfangs vermutet hatte: „Ehrwürdiger Paulus“, mögen sie ihm geschrieben haben, „Ja, wir wollen Christus nachfolgen und seinen Bergpredigt-Awerden. Aber verstehe: Das schaffen wir nicht aus eigener Kraft heraus! Dazu brauchen wir Gottes Geist! Wie gut, dass Du uns erinnerst: Allein Gott kann in uns ein gutes Wollen und ein gutes Vollbringen wirken. Nicht wir selbst. Deshalb bitten wir Dich: Fordere uns nie wieder auf, selbst und aus eigener Kraft uns unser Heil zu schaffen. Hast Du Dich da vielleicht in der Wortwahl versehen?“ Ja, diese Antwort seitens der Philipper stelle auch ich mir vor. Und auch ich kritisiere Paulus: So kann er es nicht gemeint haben, dass wir uns unser Heil selbst schaffen sollen. Das wäre heute am Reformationstag eine absurde Botschaft. Vielleicht hat er sich wirklich in der Wortwahl versehen…
Wir wissen es nicht. Aber wie dem auch sei, - Paulus meinte: Werdet christi Jünger mit Gottes Geist und Hilfe! Ihm stellte sich wahrscheinlich gar nicht die Alternativ-Frage: Entscheide und handle ich oder entscheidet und handelt Gott in mir?
Für Luther stellte sich diese Frage ja auch nicht. Er glaubte seit dem 31. Oktober 1517: Was der Teufel in mir auch wirken möge – Gott befreit mich von meiner Bosheit und Sünde und rechtfertigt mich. Mit dieser Gewissheit stelle ich mir gar nicht mehr die Frage: Handle ich oder handelt Gott in mir?
- Trotzdem bleibt ein Zwiespalt in mir und ich frage: Wer bin ich wirklich?
Stimmt. Aber trotzdem bleibt der Zwiespalt in mir bestehen. Ich weiß und glaube, dass Gott mich rechtfertigt. Und trotzdem besteht der Zwiespalt in mir fort: Ist es wirklich „Gott in mir“, der entscheidet, wirkt und handelt? Oder sind es meine eigenen Kräfte, die ich mir erworben habe? Oder bin doch stolz auf mein gutes Verhalten Oder ich schäme mich für mein törichtes und feiges Verhalten. Ich bin da oft zerrissen. Ist es Gott in mir? Oder ist es mein Ich in mir? Wer hat eigentlich mein Leben gewirkt? Wer bin ich wirklich?
Liebe Gemeinde und Gottesdienstbesucher! Diesen inneren Konflikt „Wer bin ich wirklich? Beherrscht Gott mich oder beherrscht mein eigenes Ich mich?“ hat Dietrich Bonhoeffer tiefgründig in einem Gedicht ausgedrückt. Er schrieb es am 9. Juli 1944 in seiner engen Gefängniszelle. Er saß schon seit April 1943 im Gefängnis, weil er Juden gerettet und Widerstand geleistet hatte. Er schrieb:
Wer bin ich?
Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle
Gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern
Frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks
Gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle…
Ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?... Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin. Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
Bist Du es, Gott in mir? Ist es mein eigenes Ich in mir? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin…Dein bin ich, o Gott!
Gottes Friede, der höher ist als jede Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Fragen – in Christus Jesus.
Amen
Prof. Dr. Reinhold Mokrosch, Universität Osnabrück, Reinhold.Mokrosch@uni-osnabrueck.de