Predigt zu Philipper 2,6-11 von Peter Haigis
Liebe Gemeinde,
haben Sie Vorbilder? Menschen, die Sie so sehr beeindrucken, dass Sie sich an ihnen ein Beispiel nehmen? Jemand, dem Sie nacheifern? Und wenn ja, wer ist so ein Vorbild für Sie? Aus welchem Lebensbereich kommt er oder sie?
Bei Umfragen nach Vorbildern und Idolen schneiden oft Sportler oder Musiker aus dem Show-Business gut ab. Vor allem bei jungen Leuten. Das ist nachvollziehbar: Sportler wirken gesund und kraftvoll. Sie erbringen beeindruckende (körperliche) Leistungen. Und die Stars und Starlets aus dem Show-Business stehen für eine Freiheit und Ungebundenheit des Lebens, das sich viele am Anfang eines selbstbestimmten Lebens noch erträumen.
Für andere Generationen sind es eher Menschen, die sich sozial engagieren, die als Vorbilder genannt werden. Humanität, Zivilcourage, Ehrlichkeit, auch eine gewisse Bereitschaft, sich für die eigenen Ziele aufzuopfern und diese konsequent zu verfolgen, sind Werte, die hinter derlei Vorbild-Zeichnungen stehen.
Doch wer käme auf die Idee, in einer solchen Umfrage „Jesus Christus“ zu nennen? Zweifellos, Jesus gilt vielen Zeitgenossen als ein idealer Mensch. Aber vielleicht ist das Ideal, für das er in dieser Sichtweise einsteht, so hoch angesetzt, dass man ihm nicht mehr nachzueifern versucht, sondern es eben nur noch als „göttlich“ verehrt. Die Passionszeit gibt uns reichlich Gelegenheit, die einzigartige Hingabe Jesu zu reflektieren. Doch, Hand aufs Herz, verbleibt dieses Nachdenken nicht eher in himmlischen Sphären? In seiner einzigartigen Passion ist uns Jesus entrückt. Als Vorbild gleich mehrere Nummern zu groß.
Dabei gibt sich Paulus doch alle Mühe, Jesus Christus gerade in seiner Menschlichkeit zu charakterisieren, ihn uns als „wahren Menschen“ vor Augen zu führen und damit zum wahren Vorbild zu machen.
Viele Ausleger des Neuen Testaments gehen davon aus, dass die Verse aus Phil. 2,6-11 ein altes Lied, einen alten Hymnus darstellen, den Paulus an dieser Stelle zitiert. Möglicherweise war er der Gemeinde in Philippi bekannt. Vielleicht wurde er in sonntäglichen Gottesdienst gesprochen, rezitiert, gesungen. Darin entspricht er Chorälen, die für uns heute geläufig sind, z.B. das Weihnachtslied „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“. Die Pointe, auf die Paulus hier jedoch zusteuert, ist die „Anwendung“: Der einzigartige Weg des göttlichen Christus ganz hinunter in die Tiefen menschlicher Existenz und zurück auf den Thron Gottes ist ein beispielhafter Weg – für uns, zur Nachahmung empfohlen. Die einleitenden Verse (2,1-5) machen dies unmissverständlich klar: Das Bild des sich selbst erniedrigenden, des demütigen und sich gehorsam einfügenden Christus ist ein Vor-Bild, etwas, an dem sich die Christen in der Gemeinde zu Philippi orientieren sollen.
Aber greift das denn? Paulus spricht von einem gelungenen Miteinander in der Gemeinde, von einer Gemeinschaft gegenseitiger Geborgenheit und Verlässlichkeit, von einer geistigen, seelischen und sozialen Heimat, die die „Gemeinschaft der Heiligen“ bietet. Ich weiß jedoch nicht so recht, was ich davon halten soll. Beschreibt Paulus hier die Wirklichkeit, so beschreibt er sie falsch. Die Kirche Jesu Christi ist nicht so – leider! Und formuliert er einen Anspruch, eine Forderung, so schießt er wohl über das Ziel hinaus.
Es könnte freilich auch sein, dass wir das Beispiel Christi rasch überhöhen, um uns dieser unangenehmen Zumutung zu entziehen. Die Latte für zu hoch zu halten, ist der bequemste Weg, mit Ansprüchen fertig zu werden: Man geht einfach unten durch und vermeidet die Gefahr, die Latte zu reißen…
Niemand von uns wird in die Verlegenheit kommen, seine Nachfolge bis zur letzten Konsequenz, „dem Tode am Kreuz“, beschreiten zu müssen. Da waren die Zeitgenossen des Paulus in einer ganz anderen Situation. Niemand von uns muss auch einen anderen Menschen mit seinem eigenen Handeln „erlösen“. Das hat Christus zur Genüge getan. Was von uns, die wir seinen Namen tragen, gefordert ist, ist weitaus bescheidener: Paulus spricht von einer Gesinnung, die der Gemeinschaft entspricht, in die wir hineingerufen und hineingestellt sind. Auf gut deutsch: Prüft euch mal selbst, ob eure Grundhaltung dem Lebenszusammenhang entspricht, in dem ihr steht! Euer Denken und Empfinden, eure Absichten, eure Ziele, euer Handeln – hat das einen inneren, organischen Zusammenhang mit der Gemeinschaft, die durch Jesus Christus begründet ist?
Man darf fragen, was das für eine Gemeinschaft ist, in die wir hineingerufen und hineingestellt sind. Zu allererst ist es eine Gemeinschaft, in der eine Rangordnung keinen Platz hat. Zwischen Menschen, die durch die Liebe Christi verbunden sind (weil sie nämlich von Christus unterschiedslos Geliebte sind), haben Hierarchien keinen Ort. Menschen, die einmal die Erfahrung gemacht haben, von Gott geliebte und begabte Geschöpfe zu sein, werden sich gegen jede Oben-Unten-Klassifizierung sträuben. „Bei euch soll es gerade nicht so sein wie bei den Mächtigen dieser Welt“, sagt Jesus zu denen, die ihm nachfolgen. „Es soll kein Oben und Unten geben; ihr sollt vielmehr einander dienen.“
„Dienen“ beschreibt ein Beziehungsgeflecht, das auf Gegenseitigkeit angelegt ist. „Dienen“ ist gegenseitiges Geben und Nehmen. Und nur, wo diese Dienstbereitschaft in solcher Wechselseitigkeit wahrgenommen wird, wo also wahre, weil wechselseitige „Demut“ besteht, können zwischenmenschliche Beziehungen auch bereichert werden. Die christliche Gemeinde mit ihrer Vielfalt von Gaben und Aufgaben kann hierfür ein Paradebeispiel geben. Sie ist eine „Dienstgemeinschaft“, in die jeder etwas einbringen und aus der jede etwas mitnehmen kann. In ihr pulsiert eine spannende und anregende Vielfalt von Meinungen, Einschätzungen, Gaben und Herausforderungen. Und trotz der Vielfalt bleibt etwas Einheitliches in der Mitte stehen: Christus. Das Miteinander braucht an der auseinanderstrebenden Vielfalt nicht zu scheitern. Unstrittig bleibt die Botschaft vom menschgewordenen Gott, von dem Gott, der in unsere vielgestaltige Menschenwelt eingeht. Unstrittig bleibt auch, warum es Gemeinde Jesu geben soll: um diese Gemeinschaft Gottes mit den Menschen in Wort und Tat zu bezeugen. AMEN.