Predigt zu Philipper 4,10-13 von Johannes Block
4,10-13

1. Die Entdeckung des eigenen Ich

Ich – so lautet das erste Wort des Predigttextes für den Neujahrstag. Ich – mit diesem kleinen und zugleich unendlich facettenreichen Wort beginnt das Predigtjahr 2014. Ich – sechsmal erwähnt der Apostel dieses Wörtchen im Bibelabschnitt für die Predigt am Jahresbeginn:

Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn. - Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen. - Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut. - Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.

Am ersten Tag des Jahres macht der Apostel Mut, Ich zu sagen. Das Kalenderjahr ändert sich. Doch unser jeweiliges Ich nehmen wir mit in das neue Jahr. “Ich nehme mich immer mit”, heißt es in einem modernen Gedicht. “Ich nehme mich immer mit” – das kann eine Lust und das kann eine Last sein, je nach Tagesform und Lebenssituation. Hinter dem kleinen Wörtchen Ich steckt ein weiter Kontinent mit hohen Gipfeln und tiefen Tälern, mit schönen und schweren Gefühlen, mit hochschweifenden und bedrückenden Gedanken, mit Momenten der Selbstgewißheit und des Selbstzweifels, der Begeisterung und der Niedergeschlagenheit, der geselligen und der einsamen Zeiten. Das eigene Ich ist ein vielgesichtiger Kontinent mit vertrauten und verborgenen Winkeln. Manchmal ist man sich seiner Sache gewiß; und manchmal erkennt man sich kaum wieder und wundert sich über sich selbst.

Wie schön wäre es, wenn man vertrauter werden könnte mit dem eigenen Ich – diesem wechselvollen Kontinent! Wenn man den Mut und die Zeit aufbrächte, sich selbst zu entdecken und wahrzunehmen! Wenn man gelernt hätte, sich genügen zu lassen, wie der Apostel schreibt: Sich genügen zu lassen in allem, was das neue Jahr bringen wird an Höhen und Tiefen, an alltäglicher Routine und außergewöhnlichen Ereignissen, an neuen Anfängen und letzten Abschieden.

Das eigene Ich entdecken und wahrnehmen - das wäre auch ein politischer Beitrag im Dekadejahr 2014 “Reformation und Politik”. “Mütterrente”, “Energiewende”, “Mindeslohn” oder “Autobahnmaut” scheinen die großen parteipolitischen Stichworte der kommenden Monate zu werden. Doch eine über die Tagespolitik hinausragende, eine Sinn und Frieden stiftende Politik wird es ohne das Bewußtsein für das eigene Ich nicht geben. Herausragende Persönlichkeiten mit einem charismatischen Ich haben immer wieder politische Veränderungen hervorgerufen. Im vergangenen Jahr wurde etwa an Nelson Mandela (1918-2013) oder an Willy Brandt (1913-1992) erinnert. Wo das eigene Ich in sich ruht, wo das eigene Ich sich genügen lassen kann – wie der Apostel schreibt -, dort kann sich eine abgeklärte und unabhängige Politik entwickeln. Wenn Menschen das eigene Ich wahrnehmen und lernen, sich genügen zu lassen, dann werden sich Wege finden, um einerseits mit dem Mangel und andererseits mit dem Überfluss umgehen zu lernen. Und das hieße im 21. Jahrhundert: einerseits mit den begrenzten Ressourcen der Erde zu haushalten und andererseits eine Überfluß- und Wegwerfgesellschaft zu reformieren. Mit dem eigenen Ich – ob und wie es sich genügen lassen kann – beginnt immer auch die große Politik.

Die Entdeckung und Wertschätzung des eigenen Ich - das ist keine Erfindung der modernen Philosphie oder der modernen Psychologie. Die Frage und Suche nach dem eigenen Ich ist eine Menschheitsfrage von geradezu biblischem Alter. Man denke etwa an das Ich im Buch der Psalmen: Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich gehe oder liege, so bist du um mich (Ps 139,1.3). Oder man erinnere sich an die Propheten Israels, die herausgetreten sind aus der Masse des Volkes: Jesaja aber sprach: Hier bin ich, sende mich! (Jes 6,8) Auch der Brief des Paulus an seine Freunde in der griechischen Stadt Philippi ist ein Zeugnis für die Entdeckung des eigenen Ich. Paulus treibt gewissermaßen eine existentielle Theologie, bei der das eigene Ich berührt, bewegt und begeistert wird. Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, beginnen die Sätze des Paulus. Hier werden nicht formelhafte Richtigkeiten oder stroherne Lehrsätze verkündet und festgeschrieben. Vielmehr ist Paulus ein existentieller Theologe, der mit eigenem Herzblut die helle Freude in dem Herrn aufgreift und davon umfangen und getragen wird. Eine gute Theologie bildet, hinterfragt, erneuert, erwärmt, begeistert, erhellt und erfreut das eigene Ich. Mit dem eigenen Ich beginnt immer auch die hohe Theologie. Der moderne Vertreter einer existentiellen Theologie, Rudolf Bultmann (1884-1976), schreibt: „Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb ... ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie“.

Am Anfang des neuen Jahres macht der Apostel Mut, Ich zu sagen und das eigene Ich zu entdecken. Wem das eigene Ich geheuer wird, der kann dem Ungeheueren standhalten – dem Ungeheueren im Laufe eines langen Jahres: sei es das Ungeheuer des Mangels, wenn man verzichten muss und auf der Schattenseite des Lebens steht; oder sei es das Ungeheur des Überflusses, wenn das Shopping zum Gesellschaftssport wird und die übersättigten Bürger immer weiter konsumieren. Der Apostel Paulus macht Mut zum eigenen Ich durch zwei seiner Äußerungen im Brief an seine Freunde in Philippi. Paulus schreibt zum einen: Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen (2.), und zum anderen: Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht (3.).

2. Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen

Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, schreibt der Apostel und beschreibt damit ein hohes Ideal. Wer sich genügen lassen kann, der vermag die Waage zu halten zwischen den Gegensätzen des Lebens: zwischen der Erfahrung des Mangels und der Erfahrung des Überflusses. „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“: Zwischen diesen beiden Extremen die Waage zu halten, sich genügen lassen, das ist hohe Kunst – hohe Lebenskunst. Paulus hat diese Lebenskunst im Gefängnis gelernt, als er wegen christlicher Umtriebe von den römischen Behörden verurteilt und eingesperrt wurde. Aus dem Gefängnis, in dunklen Kerkermauern und bedrückender Einsamkeit, schreibt Paulus an seine Freunde in Philippi:

Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie's mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden.

Als der russische Oligarch und Putin-Gegner Michail Chodorkowskij nach zehn Jahren Haft aus dem Straflager entlassen und nach Deutschland ausgeflogen wurde, habe ich mich über dessen ruhige und gelassene Austrahlung gewundert - so weit man das aus der Ferne beurteilen kann. Ob man darin eine Art paulinische Lebenskunst erkennen kann: sich genügen zu lassen? Möglicherweise lernt man die Genügsamkeit und innere Waage gerade in den dunklen Zeiten, auf der Schattenseite des Lebens. Der Apostel scheint im Gefängnis eine innere Freiheit gewonnen zu haben von den äußeren Umständen seines Lebens – sei es der Mangel, sei es der Überfluss.

Blicken wir zum einen auf die Erfahrung des Mangels: Paulus ist kein Asket, der allem Genuß und aller Lebensfreude die Absage erteilt. Das wäre nur wieder eine neue Unfreiheit, die den Menschen auf Askese, Verzicht und Genußlosigkeit festlegt. Paulus predigt nicht eine Art grüngefärbter Askese, sondern die Freiheit, sich vom Mangel und von Durststrecken innerlich unabhängig zu machen. Wenn die Umstände es erfordern, dann ist “ein Christenmensch ein freier Herr”, dessen Herz selbst in Not und Mangel unbeeindruckt pocht und schlägt. Wer sich genügen lassen kann, der trägt seinen Stolz im Herzen und nicht in den Augen, die vor lauter äußerer Pracht überquellen.

Blicken wir zum anderen auf die Erfahrung des Überflusses: Paulus ist kein Hedonist, dem der Genuß über alles geht. Wiederum geht es um die Freiheit, die sich das Herz des Menschen bewahrt, wenn er im Überfluss lebt und tagtäglich konsumiert: Speisen und Getränke sowieso, darüberhinaus Kleider, Schuhe und Kosmetika, Urlaubsreisen, Premiumautos, Smartphones und vieles andere mehr bis hin zum Konsum von Musik, DVDs und Facebook. In einer Überfluß- und Konsumgesellschaft ist genau genommen nicht die Geldfrage, sondern die Herzensfrage die entscheidende: ob sich das eigene Herz in der bunten Angebotswelt verliert und davon aufgesogen wird. Die Unzufriedenheit und Unruhe vieler Zeitgenossen rührt nach Auskunft von Soziologen auch von daher, dass viele Menschen immer mehr das Gefühl bekommen, all die vielen schönen Angebote und Möglichkeiten gar nicht wahrnehmen zu können und deshalb unglücklich werden in der Meinung, immer irgendetwas vom Leben zu verpassen. Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, schreibt der Apostel von sich. “Ein Christenmensch ist ein freier Herr”, dessen Herz nicht am Genuß und am Überfluss hängt. Wer sich genügen lassen kann, der trägt seinen Stolz im Herzen und nicht im gefüllten Warenkorb.

3. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht

Wie gelingt es, ein genügsames Herz zu haben? Wie gewinnt das Herz einen befreiten Stolz, der sowohl vom Mangel als auch vom Überfluss unabhängig macht?

Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, schreibt kurz und knapp der Apostel: Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht. Das klingt fast so griffig und energiegeladen wie ein präsidiales „Yes, we can“. Und wir können paulinisch ergänzen: „Yes, we can – powered by God”. Paulus vermag alles, weil ihn jemand mächtig macht, der hinabgestiegen ist in das Reich des Todes und aufgefahren in den Himmel zur Rechten Gottes. Hölle und Himmel, Tod und Auferstehung: In dieser gegensätzlichen Breite spiegelt sich die Macht dessen, der die Herzen stärkt und genügsam macht - selbst in der Tiefe des Mangels und selbst in der Höhe des Überflusses.

Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht. Vielleicht muss man sich ein Leben lang einüben: in diesen Satz des Paulus und in ein genügsames Herz. Natürlich gibt es auch den Umweg über das Gefängnis – wie im Brettspiel “Monopoly”: “Gehe nicht über Los. Gehe ins Gefängnis.” Niemand weiß, was das neue Jahr bringen wird. Auf einmal hat sich der Apostel im Gefängnis wiedergefunden. Auf einmal ist man krank. Auf einmal ist man ohne Arbeit. Auf einmal ist man alt. Auf einmal ist man allein. In einer bedrückenden Situation hat der Apostel das Geheimnis seines Lebens entdeckt: Die Freude im Herrn, die das Herz genügsam werden lässt selbst im Mangel und selbst im Überfluss. Das Geheimnis des Paulus ist eine Freude, die alles im Leben verändert und verschiebt. Es ist, als wäre eine neue Liebe in den Raum getreten und inspiriert nun das Leben. Ich bin hocherfreut in dem Herrn, mit diesen Worten umschreibt der Apostel das Geheimnis seines Lebens, das Geheimnis seines genügsamen Herzens.

Das neue Jahr liegt vor uns: zwölf Monate und 365 Tage. Vor der Klammer dieses neuen Kalenderjahres steht die Freude, von der der Apostel Paulus aus dem Gefängnis an seine Freunde in Philippi schreibt. Es ist eine Freude, die das Herz genügsam macht in all den Widerfahrnisses eines Jahres. Wir müssen keine Apostel und keine Helden werden. Denn die Freude im Herrn ist bereits in die Welt gekommen wie ein neu geborenes Kind. Die Freude im Herrn schenkt ein fröhliches Herz in allen Dingen. “Wenn ich ihn nur habe”, beginnt das Lied eines erfreuten Herzens. Dieses Lied der Freude steht wie das Vorzeichen vor der Klammer eines neuen und langen Jahres. Der Dichter Novalis (1772-1801) singt und sagt:

Wenn ich ihn nur habe,
Wenn er mein nur ist,
Wenn mein Herz bis hin zum Grabe
Seine Treue nie vergißt:
Weiß ich nichts von Leide,
Fühle nichts, als Andacht, Lieb und Freude.

 

Perikope
01.01.2014
4,10-13