Predigt zu Philliper 3,7-12 von Stephan Lorenz
3,7-12

Liebe Zuhörer,

als Predigttext hören wir heute Morgen einen Ausschnitt aus dem Brief des Apostel Paulus an seine Gemeinde in Philippi.

Was einmal für mich wichtig war, sehe ich nun – angesichts Jesu Christi – als Strafe. Eigentlich halte ich alles, was einmal für mich wertvoll war im Vergleich dazu, meinem Herrn Jesus Christus begegnet zu sein, für Strafe, ja gerade zu für wertlosen Dreck, - wenn ich nur Christus gewinnen und mich in ihm neu finden kann.
Im Leben mit Christus verblasst meine Gerechtigkeit (mein altes Selbst- und Beziehungskonzept) vollständig. Sie war an den Kriterien des (jüdischen) Gesetzes gemessen. Was jetzt für mich zählt, ist allein die Gerechtigkeit (ein Selbst- und Beziehungskonzept), deren Maßstab der Glaube ist, der sich an Jesus Christus entzündet. Das ist die Gerechtigkeit (das Selbst- und Beziehungskonzept), die Gott mir wegen meines Glaubens anrechnet. Glaube, das heißt IHM begegnet zu sein, der Kraft seiner Auferstehung, und sein Leiden gemeinschaftlich zu teilen, sodass ich auch seinem Tod immer ähnlicher werde, um auch einst an der Auferstehung der Toten teilzunehmen. (Glaube ist Begegnung, Kraft, Gemeinschaft, Ähnlich werden, Teilnahme)
Ich habe noch nicht alles empfangen, den Lauf noch nicht vollendet. (diese Beziehung geht weiter, sie ist zukunftsoffen) Doch ich laufe auf das Ziel zu, um es zu ergreifen, nachdem Jesus Christus mich ergriffen hat. (Phil 7-12, Übersetzung des Verfassers)

Alle Geschichten, die wir an einem Sonntagmorgen hören, haben ein gemeinsames, sie verbindendes Thema. Heute hörten wir den 40. Psalm, das Evangelium von den Talenten und diesen Briefabschnitt. Was verbindet sie? Was ist ihr gemeinsames Thema?

Ich würde sagen: es geht in allen Texten darum, wie wir unsere Beziehung, unsere Bindung zu Gott und zu uns selbst beschreiben. Welche Modelle haben wir da im Kopf?

Solche Modelle über uns selbst und unsere Beziehung lernen wir in der Kindheit. Sie steuern – eher unbewusst – das ganze Leben lang unsere Beziehung zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen. Und eben auch zu Gott. Es gibt Lebensereignisse, in denen diese Bindungs- und Beziehungsmodelle einer Revision unterzogen werden müssen. Das geschieht oft nach Lebensereignisse, wie sie Ihnen, wie sie hier sind, passiert sind: ein Schlaganfall, ein Aneurysma, eine Operation am Gehirn. Da ändert sich das Leben von einer Sekunde auf die andere. So wie vorher, kann es nicht weitergehen. Aber wie soll und kann es dann weitergehen? Damit müssen Sie alle, die sie hier sind, sich auseinandersetzen.

Auch Paulus war von solch einem Ereignis betroffen. Davon berichtet er in seinem Brief. Den schreibt er im Gefängnis in Rom. Dort wartet er auf seinen Prozess und seine Hinrichtung. Sein Brief ist eine Lebensbilanz.

Es gibt für ihn ein Leben vor der Begegnung mit Christus und eines danach.

Das Ereignis, welches sein Leben verändert hat, war das so genannte Damaskuserlebnis. Paulus hatte wohl (wie man heute spekuliert) einen epileptischen Anfall. Er ist metaphorisch gesprochen vom „hohen Ross“ gefallen. Seine Krankheit, sein Anfall zwangen ihn, sich mit seinem Lebensentwurf, mit seinem Lebens- und Beziehungsmodell auseinanderzusetzen. Er musste sich selbst, seine Beziehungen zu den Menschen und zu Gott neu sehen lernen: Was trägt meinen Selbstwert, meine Beziehungen? Was will ich? Was kann ich? Was ist mir wichtig? Was ist unwichtig? Er sieht nicht nur sich selbst und seine Mitmenschen, sondern auch Gott ganz anders als vorher. Darüber geht sein Brief.

Was ihn verändert hat, das „Neue“, beschreibt er in einem kurzen Abschnitt, das wohl ursprünglich ein „Kirchenlied“ gewesen ist. Ein Lied also, das ganz neue Saiten in ihm zum Erklingen gebracht hat. In diesem Lied heißt es:

Jesus hat Gottes Gestalt, war Gott ähnlich. Aber Jesus/Gott hat sich zum Sklaven, zum Diener der Menschen gemacht. Hat ein Leben geführt, wie wir Menschen es führen müssen, ein mitunter elendes Leben, das sogar im Tod am Kreuz geendet hat. (Phil 3,7f, Übersetzung des Verfassers)

Die Botschaft dieses Liedes: Gott lebt ein Leben als Mensch. Menschenleben ist Gottes Leben. Das Elend und das Leid, was wir Menschen kennen lernen, ist Gott nicht fremd. Ja, Gott macht sich selbst zu meinem Sklaven, – und mich dadurch zum Herrn – zu einem Sklaven, der alle Beschwernisse meines Erdenlebens geduldig auf sich nimmt. Dadurch wird der Mensch wieder Herr über und in seinem Leben, – Freud würde sagen: Herr im eigenen Haus –, indem er dem Vorbild Jesu nachgeht.

So findet sich Paulus selbst „neu“ in diesem Ereignis. Dabei spielt das Wort „Gerechtigkeit“ eine große Rolle.
Gerechtigkeit ist dabei zunächst ein juristischer Begriff, weil Paulus das Wort in seiner griechischen Umwelt so geprägt vorfindet und die Leute spontan verstehen, was er sagen will. Aber er geht in seiner Beschreibung weit über den juristischen Kontext hinaus, ich denke sogar, er verlässt ihn geradezu.

„Gerechtigkeit“ beschreibt er als ein Bindungsverhältnis. Ein Bindungsverhältnis, das auf Dauer angelegt ist. Als inneres Beziehungsmodell, das die Beziehung zwischen Gott und Mensch steuert, also eine sichere Bindung herstellt. Es geht um eine aufrichtige, ehrliche, antwortende Beziehung, die uns selbst tragen kann, was immer uns auch zustößt.

Dieses neue Bindungsmodell grenzt er gegen ein Modell ab, nach dem er bis zu seinem Unfall/Anfall gelebt hat. Das Leben eines frommen Juden nach dem Gesetz.

Nach jüdischem Glauben lebt der Mensch in der Beziehung zu Gott durch die Befolgung der Gebote. Er befolgt das Gesetz und seine Bestimmungen im Glauben und in der Hoffnung, dadurch die Beziehung zu Gott aufrechtzuerhalten. Manche vergleichen das Leben nach den Geboten der Thora mit dem Essen von Honig. Also, als eine sehr angenehmes Leben.

Der neue Christusglaube, wie Paulus ihn sich vorstellt, verneint dieses Modell nicht, gibt aber einen neuen Aspekt hinzu. Etwas, dass diese Bindung noch tiefer erleben lässt und sie immer wieder lebendig macht: Das ist die Kraft, die im irdischen Leben Jesu und besonders in der Auferstehung wirksam geworden ist. Die Kraft, die Leiden, Fehler, Versagen, schuldhaftes Verhalten nicht leugnet, all das aber aushaltbar macht, ja überwinden kann. Gott ist es, der durch sein Tun die Beziehung zum Menschen immer wieder sicher, „richtig“ macht. Von unserer Seite bleibt diese Bindung aus vielen plausiblen Gründen immer eine unsichere, ambivalente, manchmal sogar feindliche Bindung. Gott macht sie sicher, immer wieder lebendig. Er macht sie recht, erhält und trägt sie.

Das wichtigste Bild für diese sichere, unzerstörbare Bindung ist das Leben Jesu und seine Auferweckung von den Toten. Gott hat Jesus – der ja nach menschlichen Maßstäben eher ein gescheitertes, am Ende sogar zerstörtes Leben gelebt hat – Gott hat IHN aus dem Tod zu einem Leben in Ewigkeit erweckt. Alles, was die Bindung zwischen Gott und Mensch stören kann, ja zur Hölle machen kann, töten will, hat keine Kraft mehr. Die Bindungskraft Gottes ist stärker.

In einem alten Tauflied wird das so ausgedrückt:

Mein treuer Gott, auf deiner Seite bleibt dieser Bund wohl feste stehn; wenn aber ich ihn überschreite, so lass mich nicht verloren gehen; nimm mich, dein Kind in Gnaden an, wenn ich hab einen Fall getan.(eg 200,4)

Wenn man, wie wir hier mit schmerzhaften Lebensveränderungen konfrontiert ist, wenn man, wie wir hier, aus der Welt gefallen ist, die einem eben noch vertraut und sicher vorkam, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, wenn einem das Leben seine ganze Gemeinheit zeigt, dann ist das eine große Verunsicherung, die alle möglichen unangenehmen Ängste, Phantasien und Reaktionen hervorruft. Der Körper, eben noch ganz selbstverständlich verfügbar, wird zu einem Angst- und Unsicherheitsfaktor. Kann ich mich jemals wieder vertrauensvoll auf ihn verlassen? Man muss langsam und mühsam ins Leben zurückkämpfen. Man fühlt sich von sich selbst, ja auch von Gott verlassen. Im ärgsten Falle sogar von ihm bestraft. Obwohl man doch ein recht frommer Mann/ Frau war. Auch wenn man nicht immer in die Kirche gelatscht ist.

Was kann uns dabei helfen, wieder ins Leben zurückzuführen? Was kann uns helfen diese traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten?
Paulus rät uns aus seiner Erfahrung, sich an Jesus zu orientieren und sich daran zu erinnern:
Jesus(Gott) hat ein Leben geführt, wie wir Menschen es führen müssen, ein mitunter elendes Leben, das sogar im Tod am Kreuz geendet hat.

ER weiß, wie einem zu Mute ist, mit was wir zu kämpfen haben. ER kennt unsere Ängste, unsere Gedanken, unsere widerstreitenden Gefühle, unseren Schmerz, unsere ganze Traurigkeit. ER ist bei uns! Wenn unser Körper versagt, wenn unser Verstand nicht mehr auf der Höhe ist. Wenn wir den Glauben an uns und die Welt verlieren. Dann glaubt ER, unser Gott, weiter an uns. Die Bindung zu IHM wird durch unser elendes Leben, das wir führen müssen, nicht in Frage gestellt.

An Gottes Wirken in meinem Leben zu glauben, ruft die Beziehung zu Gott ins Leben. Glaube beschreibt Paulus als Begegnung mit dem Gott, der mich nicht fallen lässt, – selbst dann nicht, wenn man seine Weisungen und Gebote aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr erfüllen kann. Als Kraft zum Leben, als Gemeinschaft mit denen, die auch mit ihrem Lebensglück hadern, als Ähnlichwerden mit Christus, der als Gescheiterter zur rechten Gottes sitzt, und als Teilnahme an der Zukunft Gottes. Unser Weg mit Gott ist hier nicht zu Ende. Darauf können wir uns verlassen.

Perikope
24.07.2016
3,7-12