"Das Letzte, was du auf dieser Welt sehen sollst, soll die Liebe sein." Mit diesen Worten fordert die Nonne Helen Prejean den Gefangenen Matthew Poncelet auf, ihren Blick zu suchen. Der Gefangene Matthew Poncelet ist zum Tode verurteilt. Seine letzte Stunde ist gekommen. Er wird in der Hinrichtungszelle festgeschnallt und an die Apparatur angeschlossen, die das tödliche Gift injeziert. Hinter einer Glaswand können die Eltern der ermordeten Opfer die letzten Worte des Täters hören und dessen Hinrichtung und Todeskampf verfolgen.
Mit dieser Szene endet der Kinofilm Dead Man Walking, der die in den Vereinigten Staaten umstrittene Todesstrafe auf die Leinwand bringt. "Dead man walking" - "Toter Mann kommt", lautet der Ruf der amerikanischen Justizbeamten, wenn ein zum Tode verurteilter Gefangener aus seiner Zelle in die Hinrichtungskammer geführt wird. Als sich die Giftampullen in den festgeschnallten Körper entleeren, sucht der Todeskandidat den Augenkontakt mit der Nonne Helen Prejean. "Das Letzte, was du auf dieser Welt sehen sollst, soll die Liebe sein", hatte sie geflüstert, als sie ihre Hand auf die Schultern des Gefangenen legte beim Gang in die Hinrichtungskammer.
Über Monate hinweg hat Helen Prejean bei den Justizbehörden versucht, das Todesurteil in eine lebenslange Haftstrafe umwandeln zu lassen. Zugleich spricht sie dem Verurteilten ins Gewissen und bewegt ihn in quälenden Gesprächen dazu, zur Wahrheit und zur Verantwortung seiner Tat zu stehen. In letzter Minute wendet sich der Todeskandidat an die Eltern der Opfer, spricht deren Leid und Schmerz an und bekundet Reue. Kurz darauf, Punkt Mitternacht, beginnt die Apparatur mit der Giftinjektion zu arbeiten. Die Augen des Verurteilten und die Augen der Nonne suchen den Blickkontakt und finden sich. "Das Letzte, was du auf dieser Welt sehen sollst, soll die Liebe sein."
Punkt Mitternacht, liebe Freunde am Altjahresabend, geht auch für uns etwas zu Ende. So Gott will, endet nicht unser Leben - aber doch in gewisser Weise ein Stück und ein Teil unseres Lebens: das durchlebte und ausklingende Jahr 2015. Aller Vermutung nach haben wir nicht einmal halb so viel auf dem Kerbholz wie der verurteilte Mörder Matthew Poncelet. Gleichwohl wird auch uns heute in den letzten Stunden des Jahres zugerufen: Das Letzte, was dir vor Augen und vor Ohren kommen soll, soll die Liebe sein. Paulus drückt es im Brief an seine Freunde in Rom mit folgenden Worten aus:
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Übers Jahr kann es ja manchmal ganz schön dicke kommen: der anhaltende Erbschaftsstreit in der Familie, die Querelen in einer Kirchengemeinde, die schwierige Geschäftslage, die Belastungen im ehrenamtlichen Engagement, die drohende Entlassung, ein ernsthaft erkranktes Kind, das Platzen und Scheitern einer Partnerschaft, der unerfüllt gebliebene Kinderwunsch. Dann könnte man meinen, Gott habe einen vergessen und seine Liebe in ganz andere Ecken verteilt: bei den reichen Nachbarn, bei den glücklichen Verwandten, bei den erfolgreichen Kollegen oder einfach nur bei der gegnerischen Fußballmannschaft. Dann sitzt man wie in einer Gott verlassenen Ecke und grübelt: über den Gegenwind im Leben, über das fehlende Glück, über ein verranztes Jahr.
Leben im Freispruch (Römer 8, 31b-34)
Bilanz ziehen - das gehört zum menschlichen Leben. An bestimmten Wendepunkten und ganz besonders am letzten Tag des Jahres liegt es in der Luft - Rückschau halten:
Was ist gelungen und was ist mißlungen in den vergangenen 365 Tagen? Was hat sich im Leben der Familie und der Freunde ereignet? Wo bin ich vorangekommen und gereift? Wo bin ich stehengeblieben und bequem geworden? Zu welchen Neuanfängen ist es gekommen? Und zu welchen Abschieden? Wie hat sich in den letzten zwölf Monaten die Welt und Deutschland verändert?
Zeitungen und Fernsehsender bringen ausführliche Jahresrückblicke. Die Quoten sind hoch. Die Leser und Zuschauer lieben es scheinbar, in der Zeitung und im Fernsehen die markanten Jahresereignisse noch einmal vor Augen geführt zu bekommen:
die Flüchtlingskrise mit den Bildern von Bootskatastrophen im Mittelmeer; der Konklikt in der Ostukraine und um die Krim; der Krieg in Syrien; die Finanz- und Eurokrise in Griechenland und Europa; das Erbeben in Nepal; der tragische Absturz der Germanwings-Maschine in den Alpen; die Herausforderungen der Energiewende und des Klimawandels; die Debatte um das Freihandelsabkommen TTIP; die offenen Grenzen und Flüchtlingsströme nach Deutschland; die Hilfsbereitschaft der Deutschen auf der einen Seite und die Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte auf der anderen Seite; die Korruptionsaffäre im internationalen Fußballgeschäft; der Abschied von prominenten Persönlichkeiten, darunter Udo Jürgens, Richard von Weizsäcker oder Helmut Schmidt.
Das rege Interesse an Jahresrückblicken drückt eine menschliche Sehnsucht aus. Es ist die Sehnsucht nach einem Kompaß, nach einer Orientierung im fließenden Lauf der Jahre. Um einen eigenen Standpunkt finden zu können, muss man Bilanz ziehen, Dinge bewerten, Erfahrungen abwägen, Rechenschaft ablegen. Niemand kann sich davor drücken oder wegducken. Immer wieder steht man wie vor den unsichtbaren Schranken eines Gerichts - wenn ein Jahr vergeht, wenn die Uhr tickt, wenn man an einer Schwelle steht, wenn das Gewissen sich regt. Am Altjahresabend spürt man besonders, was das gesamte Jahr über im Raum steht: sich vergewissern, Dinge abschätzen, Rechenschaft ablegen. Der Altjahresabend spült eine entscheidende Frage des Lebens nach oben:
Wie stehe ich da, wenn ich vor mir selbst Rechenschaft ablege? Wie stehe ich da vor dem Angesicht Gottes?
Auf der alltäglichen Oberfläche des Lebens geht es um ganz andere Fragen: dass ich meine Haut gerettet habe, als es um Kopf und Kragen ging; dass ich meine Schäfchen ins Trockene gebracht habe, als die Krise ausbrach; dass ich es zu etwas gebracht habe, obwohl die Umstände hart waren. All das sind Fragen auf der Oberfläche des Lebens, auf der wir arbeiten, kämpfen, laufen, rennen und retten. Unter der betriebsamen Oberfläche jedoch schlummert die eigentliche Frage des Lebens, die der Altjahresabend nach oben spült:
Wie steht Gott in all dem zu mir? Sagt Gott Ja oder Nein? Macht sich Gott überhaupt etwas aus meinen schönen Erfolgen? Oder erwählt er sich gerade die, die auf der dunklen Seite des Lebens stehen?
Die Frage der Rechenschaft vor dem Angesicht Gottes - die Frage der Rechtfertigung -, das ist die schlummernde Grundfrage unter der geschäftigen Oberfläche des Lebens. Dann steht man wie vor den Schranken eines inneren Gerichtes. Dann denkt und bittet man:
"Hilf, Herr meines Lebens, dass ich nicht vergebens, dass ich nicht vergebens hier auf Erden bin." (EG 419)
Buchstäblich vor den Schranken der römischen Gerichte haben die frühen Christen gestanden. Der Apostel Paulus wird wegen seiner Missionstätigkeiten angeklagt. Er wird in Ephesus in das Gefängnis geworfen und muß mit wilden Tieren kämpfen (1. Kor 15,32). Es gab Situationen, in denen Paulus meint, sein letztes Stündlein habe geschlagen (2. Kor 1,8f.). Viele seiner Glaubensfreunde in Rom und an anderen Orten im Römischen Reich werden vor Gericht und vor den Richter gezogen und gestellt. Häufig wird kurzer Prozess gemacht. Eine Blutspur zieht sich nicht allein durch Rom, sondern durch viele andere römische Städte. Bis heute hat das Wort Christenverfolgung einen bitteren Nachgeschmack.
Aber was heißt schon Nach-Geschmack! Denkt man beispielsweise an den Völkermord an den Armeniern - genau vor einhundert Jahren - oder an die gegenwärtige Vertreibung der Christen im Irak oder in Syrien, dann kann man nur bitter feststellen: Christenverfolgungen gibt es nach wie vor, auch in der Moderne, auch in unserer Zeit und auch in dieser Stunde. Geschmäht, verfolgt, vertrieben: An Christen in Bedrängnis und auf der Flucht richten sich die Worte des Apostels. Gedemütigt, geschlagen, getötet: Geflüchtete Christen aus dem Irak oder aus Syrien erinnern an die Zeit der frühen Christenverfolgungen. Die frühen Christen haben die Worte des Apostels haben immer wieder abgeschrieben und vorgelesen, weil sie auf das ausrichten, was unter der Oberfläche des Lebens gilt und zählt:
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.
Immer wieder wurden diese Worte von verfolgten Christen abgeschrieben und vorgelesen. Im Kampf vor Gericht, im Kampf um das eigene Leben weisen die Worte des Paulus auf einen ganz besonderen Anwalt und Fürsprecher: ein Anwalt und Fürsprecher, der sich für uns hingibt; ein Anwalt und Fürsprecher, der seinen eigenen Sohn an Stelle anderer den Preis zahlen lässt; ein Anwalt und Fürsprecher, der für uns spricht, auch wenn vieles gegen uns spricht.
Vieles, liebe Freunde, spricht gegen uns - das ist wahr! Aller Wahrscheinlichkeit nach sind unter uns keine überführten Doppelmörder vom Kaliber eines Matthew Poncelet wie im Film "Dead Man Walking". Und doch hat jeder von uns so einiges auf dem Kerbholz - obwohl es uns weitaus besser geht als einem verwahrlosten und haltlosen jungen Mann aus einem amerikanischen Stadtghetto oder als in einem Flüchtlingslager oder als in irgendeiner unwirtlichen Gegend am Rande der Welt. Doch ob am Rande oder in der Mitte, ob armselig oder wohlhabend - am Ende sind wir alle Menschen auf der Oberfläche des Lebens. Auf der Oberfläche des Lebens geht es immer wieder um dieselben Fragen:
Wie rette ich meine Haut? Wie bringe ich meine Schäfchen ins Trockene? Wie bringe ich es zu etwas?
Auf der Oberfläche des Lebens laufen und rennen die Menschen und suchen mit vielen guten Gründen nach dem eigenen Vergnügen und Vorteil. Im Mittelpunkt steht immer wieder das eigene Ich, das sich manchmal auch hinter einem fleißigen Lieschen oder einem unermüdlichen Helfer versteckt. In einem maßlosen Helfersyndrom kann auch eine unbewußte Ich-Sehnsucht stecken. Doch gute Werke - so gut sie auch sein mögen - erlösen das eigene Ich nicht von der eigenen Ich-Sehnsucht.
Wer will hier bestehen, wenn man vor sich und vor Gott Rechenschaft ablegen muss? Wer hat den Mut und die Größe, sein eigenes süchtiges Ich offenzulegen wie es Matthew Poncelet tat in seiner letzten Stunde kurz vor Mitternacht?
"Das Letzte, was du auf dieser Welt sehen sollst, soll die Liebe sein." Vielleicht lag es am buchstäblichen Augen-Blick der Liebe, der Matthew Poncelet die Kraft schenkte, über den eigenen Schatten zu springen. Einen Augen-Blick der Liebe - den haben wir selbst kurz vor Mitternacht noch, schreibt der Apostel:
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht.
Wir haben einen Anwalt und Fürsprecher, der uns nicht wegen eines verlockenden Honorares verteidigt. Unser Anwalt und Fürsprecher tritt buchstäblich für uns ein: Er nimmt auf sich, was uns vorgehalten und vorgeworfen wird; er bezahlt unseren Schuldschein, unsere Rechnung. Dieser wunderbare Tausch oder "fröhliche Wechsel", wie es Martin Luther formuliert, kommt in einem zeitgenössischen Gedicht zum Ausdruck. „Am Ende die Rechnung“ (Lothar Zenetti) heißt das Gedicht, das die blühende Fülle eines Jahres und eines Sommers noch einmal vor Augen führt:
Einmal wird uns gewiß
die Rechnung präsentiert
für den Sonnenschein
und das Rauschen der Blätter,
die sanften Maiglöckchen
und die dunklen Tannen,
für den Schnee und den Wind,
den Vogelflug und das Gras
und die Schmetterlinge,
für die Luft,
die wir geatmet haben,
und den Blick auf die Sterne
und für alle die Tage,
die Abende und die Nächte.
Einmal wird es Zeit,
daß wir aufbrechen und
bezahlen.
Bitte die Rechnung.
Doch wir haben sie
ohne den Wirt gemacht:
Ich habe euch eingeladen,
sagt der und lacht,
soweit die Erde reicht:
Es war mir ein Vergnügen!
Leben zwischen Anklage und Liebe (Römer 8,35-39)
Am Ende zahlt Gott die Rechnung und gibt sich für uns hin. Das letzte Wort hat die Liebe, selbst wenn man meint, dass alles schon verloren sei und die Zeiger unerbittlich auf die Mitternacht voranrücken - auf das letzte Stündlein. Das letzte Wort hat die Liebe - aber nicht als pastoraler Zuckerguß oder religiöse Dekoration des Alltags! Denn Gottes Liebe ist der Blut und Tränen getränkte Schmuck unserer Schmerzen, unserer Leiden, unserer harten Kanten. Gottes Liebe blüht denen, die sich verlaufen und verrannt haben, die im Gefängnishof des eigenen Ich sitzen, die ihre Rechenschaft und Rechtfertigung verloren haben. Gottes Liebe nimmt etwas auf sich - das Blut und die Tränen. Deshalb sind gerade die Schmerzen, die Leiden und die harten Kanten wie gemacht für Gottes Liebe. Gottes Liebe nimmt etwas auf sich und lässt sich auch von den größten Brocken nicht ablenken:
Denn ich bin gewiss, schreibt Paulus an seine Freunde, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Angst kann man haben in dieser Welt: vor der fließenden Zeit und Vergänglichkeit, vor den Herausforderungen der Flüchtlingsströme und des Klimawandels, vor der eigenen Frage nach Rechenschaft und Rechtfertigung, vor Bosheit und Gewalt auf allen Kontinenten. Angst kann man haben in dieser Welt. Doch eine ausgesprochene Heiden-Angst wäre fehl am Platz:
eine Heidenangst mit kruden Verschwörungs- oder Endzeittheorien; eine Heidenangst voller astrologischer Sternen- und Mondgläubigkeit; eine Heidenangst voller Monster, Kobolde und Fantasiefiguren, die durch die Fernsehkanäle und Kinofilme geistern; eine Heidenangst vor allem Fremden und vor anderen Hautfarben.
Eine buchstäbliche Heiden-Angst braucht niemand zu haben. Denn Gottes Liebe hat das letzte Wort. Die Liebe als das letzte Wort ist das große Plus vor der Klammer des Lebens. Das große Plus vor der Klammer entschärft die Kanten, stopft die Löcher und befreit das eigene Ich. Es sind nicht wir, die das alte Jahr runden. Es ist Gottes Plus vor der Klammer, das das Jahr rundet. Gottes Liebe zahlt die Rechnung.
Und mit einem Plus vor der Klammer des Lebens - mit Gottes großem Vorzeichen - können wir schon jetzt sagen: "Ende gut, alles gut!" Was für eine Aussicht! Obwohl das neue Jahr noch nicht begonnen hat, können wir schon jetzt sagen: "Ende gut, alles gut!" Denn das letzte Wort auch im neuen Jahr werden nicht wir oder andere haben. Das Letzte, was wir sehen und hören werden, wird die Liebe sein.