Predigt zu Römer 11,25-32 von Axel Denecke
11,25-32

Predigt zu Römer 11,25-32 von Axel Denecke

I

Wie merkwürdig! Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich in meiner Jugend (so in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ich fing gerade an Theologie zu studieren)  am sog. „Israelsonntag“ (den gibt es am 10.n.Trin. seit Jahrhunderten schon) immer davon gehört habe, wir Christen müssten „Israel“ zum rechten Glauben bekehren, wir müssten sie missionieren, damit sei endlich auch den „Herrn Jesus“ finden. Denn sie sind „Feinde“ und „Verächter“ des christlichen Glaubens. So habe ich damals gehört. Das war gang in gäbe in jeder Predigt, ob der Pastor (Pastorinnen gab es damals noch kaum) nun konservativ oder liberal war. Egal, so sagte es jeder, hatte es auf der Uni so gelernt. Wir merkwürdig! Es kommt mir heute so vor, als wäre das wie aus einer andren Welt! So redet doch heute keiner mehr! Oder? Vielleicht heute nicht, noch nicht, aber was ist morgen oder übermorgen? Wer weiß, wie in 100 Jahren von „den Juden“ am Israelsonntag wieder geredet wird. Daher ist es gut und notwendig, heute –gerade heute, ich hab in Gedanken den realpolitischen Gaza-Konflikt durchaus mit im Sinn- an die untrennbare Verbindung von allen Menschen, uns Christen insbesondere, mit den Juden und mit Israel zu erinnern. Ja, immer neu erinnern müssen wir daran, damit es nie in Vergessenheit gerät.

Heute am Israel-Sonntag werden wir Christen daran erinnert, dass wir in unserem Glauben untrennbar verbunden sind mit dem jüdischen Volk und mit dem jüdischen Glauben. Untrennbar! Denn es gäbe gar kein Christentum, wenn es das Judentum nicht gäbe. Lange Zeit haben wir das vergessen oder auch nicht wahrhaben wollen. Erst seit den furchtbaren Ereignissen des Holocaust (Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen, Theresienstadt) ist uns das bewusst geworden. Erst seitdem haben wir Christen uns neu darauf besonnen, dass unser Glaube aus dem jüdischen Glauben gewachsen ist, obwohl man es  –wenn man nur ein bisschen in die Bibel hineinschaut- eigentlich wissen müsste, so wie es der Klosterbruder in Lessings Schauspiel „Nathan der Weise“ in schmerzlicher Trauer sagt: “Es hat mich Tränen genug gekostet, wie Christen so sehr vergessen konnten, dass unser Herr ja selbst ein Jude war“. Unser Herr, also „unser Herr Jesus“, er war Jude und kein Christ. Er ist als Jude geboren, Sohn der Jüdin Miriam und des Juden Joseph, er hat als Jude gelebt, mitten in seinem jüdischen Volk, er ist als Jude gestorben „INRI – Jesus von Nazareth, König  der Juden“ – er ist in Galiläa und Jerusalem, im heutigen Israel/Palästina seinen Jüngerinnen und Jüngern als Auferstandener erschienen, seine erste Gemeinde bestand nur aus Juden, der große Volkerapostel Saulus/Paulus – er war Jude und blieb auch als Jesus-Gläubiger Jude bis zu seinem Tode. So ist es, ist es einfach. All dies ist in der Bibel nachzulesen. Wie sonderbar, dass wir es über lange Jahrhunderte überlesen oder vergessen oder verdrängt oder als unwichtig erachtet haben. Grund genug, uns heute, am Israel-Sonntag, mit aller Deutlichkeit daran zu erinnern.

II

Paulus selbst, der jesus-gläubige Jude, erinnert uns im heutigen Predigttext ganz entschieden daran. In drei Kapiteln des Römerbriefes (Kap 9-11) beschäftigt sich Paulus ausführlich mit dem Verhältnis zwischen Juden und Christen, zwischen Israel und Kirche. Er selbst leidet darunter schmerzlich, dass nicht alle seine Schwestern und Brüder an Jesus glauben. „Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammesgenossen sind nach dem Fleische, die Juden sind, von denen Christus herkommt nach dem Fleisch, („wenn ich sie doch für den Herrn gewinnen könnte)“ (Röm 9,1-5) – so beginnt er sein drei Kapitel langes Ringen um die Liebe seines Volkes. Wer das ganze in einem Zug liest, der wird merken, wie Paulus hier an sich selbst leidet, wie es ihm im Innersten trifft, dass Juden und Christen unterschiedliche Wege gehen. Und es trifft ihn vor allem auch, dass die Christen (in Rom und anderswo) jetzt überheblich sagen. „Wir haben die Wahrheit! Gott ist mit uns! Gott hat Israel verlassen, weil sie Jesus als ihren Herrn nicht anerkennen. Das Heil ist von den Juden auf uns Christen übergegangen, die Kirche hat die Synagoge abgelöst und bewerbt.“ NEIN – möchte Paulus aufschreien. So ist es nicht, ganz im Gegenteil. “Kindschaft“ und „Herrlichkeit“ und „Bund“ und „Gesetz“ und „Gottesdienst“ und „Verheißungen“ bleiben bei den Juden (Röm 9,4) – sie werden durch Jesus nicht ausradiert, sie bleiben. Und es besteht für uns Christen absolut kein Grund, überheblich zu meinen, mit uns finge nun alles neu an, erst richtig an (so wie ja ganz äußerlich unsere allgemeine Zeitrechung mit ‚Christus’ –vor und nach Christus- beginnt). Nein, es hat schon  1000, ja fast 2000 Jahre früher angefangen, mit Mose und den Propheten, in deren Tradition auch Jesus steht. Paulus führt das in den weiteren Kapiteln mit vielfältigen Beispielen aus. Direkt vor unserem heutigen Predigttext steht  am Ende seines langen Gedankenweges das berühmte Ölbaumgleichnis: „Nicht du (Christ) trägst die Wurzel, sondern die Wurzel (Israel) trägt dich“ (Röm 11,18). Dabei macht Paulus unüberhörbar deutlich macht, wie Judentum und Christentum, Israel und Kirche untrennbar miteinander verbunden sind und dass dabei Israel die Priorität zukommt.

Hören wir auf diesem Hintergrund (noch einmal?)  den Predigttext,  (Röm 11,25-32  vorlesen, vielleicht in einer neueren Übersetzung; bei einer traditionellen Übersetzung empfehle ich die „Zürcher Bibel“).

III

Von einem „Geheimnis“ spricht Paulus ganz bewusst. Ja, es ist ein Geheimnis, das Juden und Christen –ob ihnen das lieb ist oder nicht, ob sie es leugnen oder bejahen- untrennbar miteinander verbunden sind. Lange Zeit haben wir Christen dieses „Geheimnis“ vergessen oder gering geachtet. Leider hat Martin Luther am Ende seines Lebens mit seinen Wutausfällen gegen die Juden ordentlich dazu beigetragen (in seiner Jugend hatte er noch davon gesprochen, „dass unser Herr Jesus ja ein geborner Jude war“ und die Juden die natürlichen Brüder Jesu sind, wir nur die später dazu gekommenen) Die „gnadenlosen Folgen so eines fehlgeleiteten christlichen Glaubens“ sind uns ja mit all den Judenverfolgungen während der letzten 2000 Jahre bis hin zu ihrem Höhepunkt im Dritten Reich nur allzu bewusst. Hoffentlich noch bewusst! Ja, es ist in der Tat ein „Geheimnis“, dass Juden und Christen untrennbar zusammengehören, dass es ohne das Judentum kein Christentum gäbe. Doch: Ist es wirklich ein Geheimnis? Es ist nicht ganz offensichtlich, dass es so ist?

Wenn Paulus hier von einem „Geheimnis“ spricht, so eben deswegen, weil er vom „Geheimnis“ Gottes spricht, der allen Menschen, wirklich allen, Christen und Juden, und sicher auch allen anderen, gnädig gesonnen ist, dass er alle Menschen „ohne Ansehen der Person“ (Röm 2,11) in gleicher Weise achtet und schätzt, ja einfach liebt. Alle! Und es gibt keinen Grund, das sich dabei einer über den anderen erhebt, in Paulus Worten: „… damit ihr euch nicht für klug haltet… Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“. Mag also sein, ja natürlich, dass „Israel“ (Paulus gebraucht ganz bewusst diesen Ausdruck) „im Blick auf das Evangelium (nicht im Blick auf uns Christen!) zwar Feind“ ist, mag also sein, dass „einem Teil Israels… Verstockung widerfahren“ ist, dass „Israel“ also den richtigen Glaubensweg zu Gott zum Teil verlassen hat, mag alles sein, das ändert aber nichts daran, dass sie „im Blick auf die Erwählung Geliebte um der Väter willen sind“. Geliebte sind sie, ja Geliebte Gottes, auch wegen aller Gräueltaten, die wir an ihnen geübt haben – und trotz aller Gräueltaten, die heute von einem Teil Israels in der Realpolitik geübt werden. Unverzichtbar und unwiderrufbar Geliebte Gottes.  Das ist das „Geheimnis“ Gottes, an das Paulus erinnert und dass uns Christen eigentlich –eigentlich!- ganz offenbar sein sollte.

Was das konkret bedeutet, habe ich bei einem Israelkenner gelesen. Er sagt von sich: „Als ich darauf aufmerksam wurde, wie selbstverständlich wir Christen uns an Israels Stelle gesetzt haben und uns als Volk Gottes fühlten, fragte ich mich: Wenn Gott Israel verstoßen haben sollte, weil es den Glauben verweigert, wie wird es wohl uns Christen ergehen, wenn wir dasselbe tun? Warum sollte  Gott ausgerechnet an uns festhalten, wenn er seinen ‚erste Liebe’ aufgegeben haben sollte?  Würde er uns nicht geradeso fahren lassen? Es konnte einem angst werden bei diesem Gedanken! Darum war es eine befreiende Entdeckung für mich, als ich bei Paulus lernten, dass Gottes Treue größer ist als Israels Nein zu Jesus als dem Christus. Denn dadurch dürfen wir hoffen und glauben, dass Gottes Treue auch größer ist als unser, der Christengemeinde, Ungehorsam und Untreue“.

Ja, dem kann ich nur voll zustimmen. Und so mit dem letzten Vers unseres Predigttextes, das wahre „Geheimnis“ Gottes und unseres Glaubens an ihn, schließen: „Denn Gott hat alle (alle! auch uns Christen, auch alle Nicht-Christen, alle!) eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller (aller!, der Juden, der Christen, der Nicht-Christen, eben aller!) erbarme“. Dass wir das endlich im Umgang miteinander begreifen, in Herz und Seele aufnehmen und danach handeln, das ist das „Geheimnis gelungenen Lebens“, das Geheimnis des Glaubens und das Geheimnis des Friedens miteinander.