Predigt zu Römer 11,25-32 von Luise Stribrny de Estrada
11,25-32

Predigt zu Römer 11,25-32 von Luise Stribrny de Estrada

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Heute ist Israelsonntag. Wenn ich „Israel“ höre, steigen verschiedene Assoziationen auf: Ich denke an die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern, die wir in den letzten Wochen erleben. Ein neuer Höhepunkt in dieser Auseinandersetzung um Land, auf dem beide Seiten einigermaßen sicher leben möchten. Unlösbar scheint diese Verstrickung der beiden Nachbarn, die sich immer wieder in Kriegen und Terroranschlägen Bahn bricht. Israel. Da ist die belastete Geschichte, die Deutschland und Israel miteinander teilen, die geprägt ist von der Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Fast 70 Jahre sind seitdem vergangen, diejenigen, die diese Zeit bewusst miterlebt haben, werden weniger. Aber es bleibt die Geschichte der Schuld, aus der eine Verantwortung für uns heute Lebende erwächst, der wir uns als Deutsche stellen müssen.

Israel, Gottes auserwähltes Volk, spielt im Ersten Testament, das wir das Alte nennen, die entscheidende Rolle – und ebenso im Zweiten, dem Neuen Testament. Oft wurden das Erste und das Zweite Testament einander gegenübergestellt und behauptet: Im Ersten würde Gott als rächender Gott geschildert, im Zweiten stelle Jesus Gott als liebenden und barmherzigen vor. Das Alte Testament sei durch das Neue überholt und überboten. Das Christentum habe das Judentum „modernisiert“ und weiterentwickelt, das Judentum sei auf einer primitiveren Stufe stehen geblieben. Warum existiert der jüdische Glaube überhaupt noch weiter, wird dann gefragt, wo es doch jetzt das Christentum gibt, das viel besser ist? Eigentlich müssten sich alle Juden zum christlichen Glauben bekehren!

Diese Frage beschäftigte auch den Apostel Paulus vor knapp 2.000 Jahren. Er selbst war als Jude geboren worden und zunächst ein glühender Verfechter seines Glaubens, dann aber war ihm Christus erschienen, und er hatte sich zu ihm bekehrt und taufen lassen. Paulus wundert sich, dass seine jüdischen Glaubensgeschwister es ihm nicht nachtun und Christen werden. Es macht ihm zu schaffen, dass es ihm nicht gelingt, sie für den neuen Glauben zu gewinnen. Er fragt sich: Warum existieren Juden und Christen nebeneinander? Warum bekehren sich nicht alle Juden zum Christentum?

Paulus ringt mit dieser Frage im Brief an die Gemeinde in Rom. Er findet eine Antwort, die er der Gemeinde in folgenden Worten beschreibt:

Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.                                            (Römer 11,25-32)

Sehr deutlich wird, dass es Gott ist, der handelt. Er handelt an beiden, an Juden und Christen. In Bezug auf Israel gilt, dass Gott nichts zurücknimmt von dem, was er versprochen hat. Er hat Israel die Thora gegeben, er hat mit seinem Volk einen Bund geschlossen, er hat ihm verheißen, den Erlöser zu senden, den Messias. Israel bleibt erwählt, obwohl es das Evangelium von Jesus Christus nicht annimmt. Ganz Israel wird gerettet werden – nicht nur diejenigen, die sich zu Christus bekehren. Gott hat einen eigenen Weg mit den Juden, genauso wie er einen eigenen Weg mit den Christen hat. Das ist sein Geheimnis. Beide bleiben angewiesen auf Gottes Barmherzigkeit.

„Haltet euch nicht selbst für klug!“, schreibt Paulus den Christen ins Stammbuch. „Glaubt nicht, dass ihr den einzig richtigen Weg zu Gott gefunden habt. Gott ist größer als ihr denkt. Er lässt zu, dass es zwei verschiedene Wege gibt, um zu ihm zu kommen, zwei verschiedene Wege zum Reich Gottes, die nebeneinander bestehen, Judentum und Christentum.“ Paulus ermahnt uns damit, die Arroganz aufzugeben, die wir Christen so oft in der Vergangenheit den Juden gegenüber an den Tag gelegt haben. Wir wissen nicht besser als die Juden, wie man zu Gott kommt, wir haben ihnen nichts voraus. Wir wissen nur, dass Jesus Christus uns den Weg zu Gott zeigt.

Wie können wir die Beziehung zu den Juden umschreiben ohne uns einzubilden, wir seien ihnen überlegen? Paulus findet ein Bild, er vergleicht Juden und Christen mit einem Ölbaum: Der Ölbaum ist der jüdische Glaube, er ist fest verwurzelt in der Erde. Neben die natürlichen Zweige, die aus dem Ölbaum wachsen, werden andere Zweige eingepfropft, das sind die Christen. Sie nähren sich von der gleichen Wurzel wie die ersten Zweige und werden von ihr getragen. Damit macht Paulus deutlich, dass wir vom jüdischen Glauben leben und ohne ihn nicht existieren würden.

Wir leben vom jüdischen Glauben… Woran zeigt sich das? Die Hebräische Bibel ist unser Altes Testament. Alle Versuche von Splittergruppen, dieses Erste Testament für überholt zu erklären und über Bord zu werfen, hat die Kirche erfolgreich abgewendet. Es gehört ebenso wie das Neue Testament in unsere Bibel hinein. Wir glauben, wie die Juden an einen Gott. Alles, was Jesu über Gott, seinen Vater sagt, findet sich auch im jüdischen Glauben und in den jüdischen Schriften. Jesus akzentuiert neu, greift andere Aussagen über Gott auf als seine jüdischen Gesprächspartner, spitzt zu, aber er bleibt dabei im jüdischen Glauben beheimatet. Wir haben als Evangelium gehört, wie ein Schriftgelehrter Jesus nach dem höchsten Gebot fragt. Jesus antwortet ihm mit zwei Zitaten aus dem Ersten Testament: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5. Mose 6,4-5). Und »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Hier wird deutlich, wie sehr Jesus im Judentum verankert ist und nicht darüber hinausgeht. Er bleibt Jude bis zu seinem Tod und hat nicht vorgehabt, einen neuen Glauben zu gründen. Die ersten, die sich Christen nannten, gab es erst Jahre nach Jesus Tod, als deutlich wurde, dass nicht alle Juden Jesus als ihren Messias annehmen würden.

Jesus, der Messias. Damit sind wir beim Knackpunkt angelangt. An dieser Frage scheiden sich die Geister, hier werden sich Christen und Juden nicht einig. „Nein, Jesus kann nicht der Messias sein, auf den wir warten“, sagen die Juden. Er hat ja das Reich Gottes nicht aufgerichtet.“ „Doch“, erwidern die Christen, „in ihm und in seinem Tun ist das Reich Gottes schon aufgeschienen und Menschen haben erfahren, dass Blinde sehen und Lahme gehen. Wenn er einst wiederkommt, wird er die ganze Welt verändern, so dass alle es erleben.“

Es gibt dazu eine chassidische Geschichte:

Ein christlicher Priester und ein jüdischer Rabbi haben lange darüber gestritten, ob der Menschensohn schon gekommen sei. Da beendet der Rabbi die Diskussion, indem er dem Priester den Rücken zukehrt und aus dem Fenster schaut. „Warum redest du nicht weiter?“, fragt der Priester nach einer Weile. „Ich schaue in die Weite hinaus“, antwortet der Rabbi. „Warum?“ „Ich prüfe, ob der Messias schon gekommen ist, ob der Säugling gefahrlos mit der Giftschlange spielt (Jes.11,8), ob Wolf und Lamm sich liebevoll umarmen (Jes. 11,6; 65,25), ob die Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet sind (Jes. 2,4), ob alle satt werden und niemand stirbt, bevor er die Hundert erreicht hat (Jes. 65,20-23).“

Recht hat der Rabbi! Die Erfüllung all dieser prophetischen Verheißungen steht noch aus: Kriege finden weiterhin statt und Menschen sterben zu früh. Leid und Geschrei und Klage gehen weiter, und wir fragen uns angesichts dessen: Warum lässt Gott das zu? Wir sollten uns besser direkt an Gott wenden und ihm klagen, was uns niederdrückt: „Warum verhinderst du nicht, dass Menschen bei einem Unfall umkommen? Warum tust du nichts dagegen, dass Eltern ihr Kind beweinen müssen, das vor ihnen gestorben ist? Warum setzt du diesen sinnlosen Kriegen kein Ende, die immer von neuem ausbrechen? Wo bleibt das Reich, das du uns versprochen hast?“

Die Begegnung mit dem jüdischen Glauben kann uns sensibel machen für das, was noch nicht erfüllt ist. Sie kann uns daran hindern, vorschnell zu behaupten: Alles ist gut, weil Gott für uns sorgt und mit uns geht. Ja, das stimmt – aber daneben gibt es Vieles, was im Argen liegt. Wir haben kleine Stücke des Guten in unserer Hand, wir freuen uns über das Schöne und Gelungene, das Gott uns schenkt. Aber wir sollten die Bruchstücke nicht für das Ganze halten und uns nicht einrichten in unserer kleinen, einigermaßen heilen Welt. Die Juden mit ihrer Überzeugung, dass der Messias erst kommen muss, um die Welt zu einem guten Ort zu machen, an dem alle in Frieden leben können, fordern uns auf, genau hinzusehen. Sie können für uns Christen zu Anwälten der Wirklichkeit werden und uns daran erinnern, dass Gott diese Welt von Grund auf verändern wird, wenn er kommt.

Lasst uns zusammen mit unseren jüdischen Geschwistern darauf warten, dass Gott kommt. Dann werden die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet. Keiner wird mehr lernen, Krieg zu führen. Gott wird alle Tränen abwischen. Und der Tod wird nicht mehr sein.

Darauf hoffen wir.

Amen.