Predigt zu Römer 5,1-11 von Rainer Stahl
5,1-11

Liebe Leserin und lieber Leser!
Liebe Schwestern und Brüder!

Diese Passage aus dem Römerbrief des Apostels Paulus gibt uns ein wichtiges Problem auf: das Problem der Zeit, genauer: das Problem unserer eigenen Zeit in Bezug zur Zeit Jesu Christi auf unserer Erde.

Vor Jahren hatte ich dazu eine Art spontane geistliche, ja: ich will das so sagen: „geistliche“ Eingebung. Im Juli 2002 war ich zu einem Wanderurlaub ganz oben im Ötztal in Tirol, in Obergurgel. An einem Tag haben wir eine Busfahrt hinüber nach Italien, nach Bozen, gemacht. Dort konnten wir das „Südtiroler Archäologiemuseum“ besuchen, in dem der „Mann aus dem Eis“, der so genannte „Ötzi“, ausgestellt ist: die Mumie dieses über 5.000 Jahre alten Mannes, der an der Flanke des Similaun gefunden worden war. Wir sind nach dem Museumsbesuch auch wieder in Richtung Österreich zurückgefahren und zum Similaun-Pass aufgestiegen. Am Tag danach, dem 18. Juli 2002, ging es zur Fundstelle dieses Mannes aus der Steinzeit auf 3.300 Metern Höhe. Nun aber zurück zum Museumsbesuch: Dort sind die Geräte ausgestellt, die bei ihm gefunden worden sind, auch seine Fellkleidung. Und dann ist da die Wand mit einem Fenster, hinter dem in einem speziell klimatisierten und temperierten Raum der Gefundene liegt. Vor mir war eine Schülergruppe von vor allem Mädchen, die wegen des nackten Mannes herumkicherten. Dann konnte ich an das Fenster treten, sehe den Mann da liegen und denke nur eines – völlig unvorbereitet, ganz spontan –: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes.“ Mit diesem Bekenntnissatz sprechen wir unsere Glaubensüberzeugung aus, dass Christus auch für diejenigen gestorben und auferstanden ist, die zeitlich vor ihm gelebt haben, also auch für diesen Mann, der 3.000 Jahre vor Christus in den Alpen umgekommen war. Christus hat den Zeitunterschied zu denen vor sich überbrückt. Sie sind auch einbezogen in die Einladung zu seinem Heil, in die Gemeinschaft mit Gott.

Paulus ringt in unserem Abschnitt seines Briefes an die Gemeinde in Rom mit demselben Problem: Er spricht mit seinem Brief aus dem Jahr 56 nach Christus Menschen an, die vielleicht in den Jahren 10 vor Christus bis 25 nach Christus geboren sind – und er rechnet sich selbst mit hinzu, gehört er ja diesen Generationen mit an. Für ihn, für diese alle, gilt schon rein zeitlich: Sie sind vor dem Kreuzestod Jesu geboren, sie schauen also auf lange Jahre zurück, in denen sie noch nichts von Gottes Liebe in Jesus Christus ahnten, in denen sie noch – wie Paulus schreibt – „Sünder waren“, in denen sie noch – ein anderer Ausdruck des Paulus – „Schwache waren“.

Christi letzter Schritt seines Lebens auf unserer Erde für uns Menschen war ein Schritt gerade ohne jede Voraussetzung auf unserer Seite. Er hat sich für uns geopfert, als wir dieses Opfer noch gar nicht verstehen konnten – bitte: „verstehen“ mit ganz starken Anführungsstrichen geschrieben (!) –, als wir überhaupt noch nicht ahnen konnten, dass dieser Tod ein Opfer für uns war!

Hier müssen wir noch etwas bei unserem Nachdenken bleiben: Die Menschen, die Jesus von Nazaret erlebt haben, die geheilt worden sind, die von einer Heilung durch ihn gehört hatten, die wunderhaft mit Nahrung versorgt worden waren – mit ausreichender Nahrung, die satt gemacht hatte (!) –, die seine Predigten gehört hatten – die waren vielleicht ein wenig vorbereitet. Wie die beiden Jünger, die nach seiner Kreuzigung auf dem Weg nach Emmaus waren und dem sie begleitenden Fremden – in Wahrheit dem Auferstandenen (!) – erzählten: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde“ (Lukas 24,21). Aber gerade, dass sein Tod Bedeutung für sie hat, das hatten sie nicht verstanden. Also, auch für sie gilt diese große Einsicht des Paulus: Christus ist für uns gestorben, als wir noch schwach waren, noch sündig, also: noch ohne Zugang zur innersten Gemeinschaft mit Gott waren, noch ohne Zugang zur Einsicht in den Rettungswillen Gottes.

Und genauso gilt diese Situation für Paulus selbst, der während des Opferleidens Christi als Saulus in Tarsos gelebt hatte und nichts von Jesus wusste. Und sie gilt für alle in Rom, denen er schreibt, deren Eltern vielleicht das Reich des Herodes verlassen hatten und in die römische Hauptstadt umgezogen waren, um dort ihr Glück zu machen: Als sie alle noch Ahnungslose waren, da hat Gott in Jesus Christus schon das Wichtigste und Entscheidendste für sie getan! Das hat Paulus wie in einer Offenbarung begriffen. Wie es mich angesichts des „Ötzi“ im Sommer 2002 in Bozen überfallen hat.

Nun aber stellt sich die große Frage: Wie ist das bei uns Nachgeborenen? Die wir vielleicht als ganz kleine Kinder getauft wurden. Die wir dadurch überhaupt keine Entschuldigung haben: Denn lange vor meinem Leben und lange vor meinem Getauftsein ist Christus gestorben. Was ist dann, wenn ich diese große Rettungstat nicht auf mich beziehe? Wenn sie mich nicht interessiert? Wenn ich sie ablehne?

Eine Lebenssituation ist ganz einfach: Wenn ich von diesem großen Angebot nichts gehört habe, nichts begriffen habe, nichts verstanden habe, dann bin ich in der gleichen Situation wie Saulus, wie seine Adressaten in Rom, wie der „Ötzi“. In dieser Lebenssituation ist Christus auch für mich gestorben, als ich noch nichts von Gott wusste, als ich noch „Schwacher“ war. Und dies, obwohl ich erst lange nach seinem irdischen Leben geboren bin!

Aber wie ist es mit mir persönlich? Mit Euch hier in den Kirchenbänken in Český Těšín? Mit Ihnen an den Computerbildschirmen, die Sie diese Predigt lesen?

Vielleicht kann uns mein eigenes Leben einen Hinweis geben: Ich wurde im März geboren, musste dann sofort in eine Frühgeburtenklinik und konnte erst im Juni getauft werden. Vorher war ich für diese Feier tatsächlich zu schwach. Ich kann also bezogen auf mein persönliches Leben sagen: Christus ist für mich gestorben, als ich noch schwach war. Ich bringe keinerlei Voraussetzungen mit. Ich kann nur – und das ist ganz wichtig – dieses Opfer als reines Geschenk annehmen. Und ich versuche auch immer wieder ein solches voraussetzungsloses Annehmen dieses Opfers.

Das bleibt nämlich auch nach unserer Taufe. Hier müssen wir die Kategorie „Zeit“ verlassen. Jetzt haben wir uns der Kategorie „Wesen“ zu stellen. Dieses Opfer ist von einer Art, dass es keine Annäherung daran von unserer Seite aus geben kann. Keine hinführende Leistung. Keine Aktivitäten, die etwa so etwas wie eine Mitwirkung wären!

Deshalb beginnt Paulus unseren Briefabschnitt mit der grundlegenden Feststellung: „Als aus Glauben Gerechtfertigte haben wir Frieden mit Gott auf Grund des Opfers unseres Herrn Jesus Christus“ (Vers 1).

Deshalb ist es wichtig, sich auf Jesus Christus zu konzentrieren, sich auf ihn zu beziehen, ihn anzusprechen, ihm mit völlig leeren Händen zu vertrauen, um Hoffnung haben zu können in der Stunde des Todes.
Amen.

„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“
 

Perikope
21.02.2016
5,1-11