Predigt zu Römer 8,1-2.10-11 von Johannes Block
8,1-2.10-11

Pfingsten ist ein herrlich entspanntes Fest! Pfingsten wird wie Weihnachten und Ostern an zwei Festtagen gefeiert, doch ohne den Aufwand und Trubel des Weihnachts- oder des Osterfestes. Plätzchenbacken und Bescheren – das gehört für viele mit zum Weihnachtsfest; Eierfärben und Ostereiersuchen – das verbinden viele mit dem Osterfest. Demgegenüber ist Pfingsten ein herrlich entspanntes Fest ohne größeren Aufwand und Trubel.

Um das Gefühl der Entspannung, um das Pfingstgefühl, geht es dem Apostel Paulus, als er den Brief an seine Freunde in die Hauptstadt Rom sendet. „Entspannt euch“, schreibt Paulus, „denn es gibt nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Das Gesetz des Geistes, des Pfingstgeistes, macht euch frei und macht euch lebendig.“ Pfingsten ist ein entspanntes, ein beflügelndes Fest, weil es an den Geisteswind erinnert, der unter die Arme greift und wie auf Flügeln trägt. (vgl. Jes 40,31) Dann kommt man aus dem Staunen und Wundern nicht heraus (Apg 2,1-2):

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an "einem" Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.

So beflügelnd der Pfingstgeist wirkt, so geheimnisvoll ist er zugleich. Der Geist ist unsichtbar wie die Luft zum Atmen. Der Geist, das himmlische Kind, weht, wo er will. Nikodemus, ein Schriftgelehrter und Mitglied des Hohen Rates, „kam zu Jesus bei Nacht“ (Joh 3,2). Nikodemus sucht nach einem neuen Anfang, nach einem Neugeborenwerden, nach einem beflügelnden Geist. Jesus führt in die unberechenbare Sphäre des Geistes und antwortet (Joh 3,8):

Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.

Wie gesagt: So beflügelnd der Pfingstgeist wirkt, so geheimnisvoll ist er zugleich. Ich frage mich und ich frage uns: Wie lässt sich darstellen, was unberechenbar ist? Wie lässt sich das fassen, was weht, wo es will? Wie lässt sich vor Augen führen, was unsichtbar ist?

Am Pfingstsonntag brauchen wir so etwas wie ein Transparent, auf dem sichtbar werden kann, was eigentlich unsichtbar ist. Farbige Fenster, Buntglasfenster, können so etwas wie ein Transparent sein. Im Buntglasfenster bricht sich das unsichtbare Licht in viele sichtbare Farben: sei es Blau, Rot, Gelb, Grün oder Violett. Das Buntglasfenster mit seinem Farbenspiel wird zum Transparent des unsichtbaren Lichtes.

Das Tranparent des Pfingstgeistes sind die Sakramente, die in diesem Gottesdienst gefeiert werden: Taufe und Abendmahl. In beiden Sakramenten, in Taufe und Abendmahl, läßt sich das Wirken des Heiligen Geistes fassen und erleben. Genau dort, sagen die Wittenberger Reformatoren, findet man das Wesen der Kirche, wo „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (EG 808: Das Augsburger Bekenntnis, Artikel 7). Nicht weniger, aber auch nicht mehr braucht es, um Kirche zu sein: Es bedarf der Predigt des Wortes und der Predigt der Musik; es bedarf der Taufe und des Abendmahls.

Alles ist also heute am Pfingstsonntag bereitet, um das Geburtstagsfest der Kirche zu feiern – das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes. Der Pfingstgeist führt Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Berufen zusammen und schenkt der kirchlichen Gemeinschaft immer wieder neuen Atem und problemlösende Kraft. Im Sakrament der Taufe wird sichtbar, dass der Pfingstgeist „frei macht“. Im Sakrament des Abendmahls wird sichtbar, dass der Pfingstgeist „lebendig macht“. Blicken wir nacheinander auf den befreienden Geist der Taufe und auf den lebendig machenden Geist des Abendmahls.

1. Der Geist, der frei macht

In, mit und unter dem Sakrament der Taufe weht der Geist, der „frei macht“. Es ist keine billige Freiheit, die der Geist schenkt. Es ist eine Freiheit, die unter Schmerzen geboren wird. Jede Geburt in das Leben ist mit Schmerzen verbunden – für die Mutter und für das neugeborene Kind. Der Weg in die Freiheit, der Weg aus der Enge des Mutterbauches, ist ein schmerzvoller, ein manchmal auch lebensbedrohlicher Weg. Wie schön, dass wir heute am Pfingstsonntag ein gesundes Kind taufen konnten mit einer wohlbehaltenen Mutter!

Das Durchtrennen der Nabelschnur bei einer Geburt ist allerdings nur der Anfang vieler weiterer Trennungs- und Ablösungsprozesse. Der Weg eines heranwachsenden Menschen in die Freiheit und Eigenständigkeit ist mit vielen Abnabelungsprozessen verbunden. Freiheit und Eigenständigkeit werden unter Schmerzen geboren. Das haben auch die Eltern des zwölfjährigen Jesus erfahren. Beim Aufbruch aus Jerusalem war der Junge auf einmal verschwunden. Wo war er nur wieder, dieser eigensinnige, dieser besondere Sohn? Auf den ersten Ärger der Eltern folgten die Sorge und schließlich die Suche nach dem Jungen. Endlich fanden sie ihn (Lk 2,46-49)

im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Und er sprach zu ihnen: „Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“

Wer getauft wird, wer einen himmlischen Vater gewinnt, wird frei von alten Verbindungen und Fesseln. Wer getauft wird, ist niemandes Besitz. Wer getauft wird, ist frei geworden vom Besitzstandsdenken, das Menschen über Menschen haben: Staatsführer meinen, ihr Volk zu besitzen; Vorgesetzte meinen, ihre Mitarbeiter zu besitzen; Ehe- und Lebenspartner meinen, sich gegenseitig zu besitzen; Eltern meinen, ihre Kinder zu besitzen. “Eure Kinder sind nicht eure Kinder”, sagt demgegenüber der Dichter Khalil Gibran (1883-1931). Khalil Gibran wendet sich gegen das Besitzstandsdenken. Hören wir seine Worte:

“Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen.”

Die Worte des Dichters Khalil Gibran erinnern an die Freiheit, die jeder gewinnen muss, um ein eigenständiger Mensch zu werden. Jedes Mal, wenn ein Kind getauft wird, werden wir an den himmlischen Vater erinnert, der frei macht von den Bindungen und Fesseln, in die sich Menschen gegenseitig verstricken. Aber warum geschieht das? Warum verstricken wir uns in einem Besitzstandsdenken? Warum wollen wir andere besitzen und über andere bestimmen?

Die Freiheit, die der Geist schenkt, wird nicht ohne Schmerzen geboren. Auch die Freiheit vom Besitzstandsdenken, liebe Freunde, muss unter Schmerzen gewonnen werden. Und dieser Schmerz gründet in uns selbst. Er besteht in der Selbsterkenntnis, dass wir über andere verfügen und herrschen wollen, weil wir selbst noch nicht frei geworden sind. Wer für sich selbst noch keine Freiheit gewonnen hat, wird auch anderen die Freiheit nicht gönnen. So etwas wie ein Gesetz der Unfreiheit schlägt im menschlichen Herzen. In seinem Brief an seine Freunde in Rom schreibt Paulus von einem „Gesetz der Sünde und des Todes“.

Das „Gesetz der Sünde und des Todes“ steht in keiner Rechtssammlung – weder im Bürgerlichen noch im Öffentlichen Recht. Im Amtsgericht würde man den Kopf ratlos schütteln, wenn man sich dort nach einem „Gesetz der Sünde und des Todes“ erkundigen wollte. Das „Gesetz der Sünde und des Todes“, von dem der Apostel Paulus schreibt, steht in keinem Paragraphen, sondern im Herzen geschrieben. Es ist der Größenwahnsinn im Herzen, der zum Turmbau zu Babel führt (1. Mose 11). Es ist die Selbstgerechtigkeit im Herzen, mit der König David seine Affäre mit Batseba zu verschleiern versucht (2. Sam 11). Es ist die Gier im Herzen, die den reichen Kornbauern auf immer größere Gewinne hoffen lässt (Lk 12).

Es ist die verborgene Sündenmacht im Herzen, die die Bibel wie einen Spiegel vorhält. „Erkenne dich selbst“, steht auf diesem biblischen Spiegel. Vor der Sündenmacht im Herzen ist nicht einmal das frömmste Leben gefeit. Der Sündenfall ist bekanntlich im Paradies geschehen, dort also, wo jeder Mann und jede Frau erfüllt, versorgt und zufrieden sein könnte (1. Mose 3). Doch niemand kann sich die Sündemacht aus dem Herzen reißen – nicht einmal im Paradies. Das „Gesetz der Sünde und des Todes“, wie Paulus formuliert, sitzt fest verwurzelt in Leib und Seele.

Gegen dieses Gesetz schützen kein Anwalt und keine Rechtsschutzversicherung. Gegen das „Gesetz der Sünde und des Todes“ hilft allein die Taufe. Denn die Taufe führt in den Machtbereich des Christus, des Sohnes Gottes. Paulus schreibt an seine Freunde in Rom:

So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

Wer getauft ist, hat das „Gesetz des Geistes“ auf seiner Seite. Das „Gesetz des Geistes“ ist der beste Rechtsschutz gegen das im Menschen tief verwurzelte „Gesetz der Sünde und des Todes“.

Gesetze und Paragraphen können vieles ordnen und regeln. Doch den Menschen frei machen im Tiefsten seines Herzens, das vermag allein das „Gesetz des Geistes“. Denn es befreit die Herzen von sich selbst. Und das ist die größte Revolution auf Erden!

In der Menschheitsgeschichte hat es viele Revolutionen und Reformationen gegeben. Doch die größte Revolution und Reformation, liebe Freunde, ist die Befreiung von sich selbst! Häufig ist man ja sich selbst der größte Feind. Das liegt an einem ewig brennenden Kampf im Herzen. Es ist der Kampf, verzweifelt man selbst oder verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen (Sören Kierkegaard). Zwischen der verzweifelten Suche nach sich selbst und dem verzweifelten Weglaufen vor sich selbst wird das menschliche Herz hin- und hergezogen wie zwischen zwei großen Magneten. Aus diesem Magnetfeld befreit das „Gesetz des Geistes“, weil es uns immer wieder an die Freiheit erinnert, die Christus, der Sohn Gottes, in die Welt gebracht hat.

Das „Gesetz des Geistes“ steht nicht in Paragraphen und Gesetzestexten. Das „Gesetz des Geistes“ finden wir in den Taten und Worten des Jesus von Nazareth. Der wehende, himmlische Geist Jesu, der Pfingstgeist, erinnert an die Kräfte und Mächte, die uns heilsam von uns selbst befreien. „Entspanne dich!“, sagt dieser Geist, „Gott sorgt für dich! Gott kennt dich und deinen Weg.“ 

Ich weiß von einem Menschen, dem sich das „Gesetz des Geistes“ immer wieder neu eröffnete unter den gemalten Lettern auf dem Toreingang des Lutherhauses:

„Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat will.“

Das „Gesetz des Geistes“ befreit von der Sorge um sich selbst und öffnet die Sinne für die Sorge Gottes, die er für uns trägt. Das „Gesetz des Geistes“ wird im Sakrament der Taufe wirksam.

Blicken wir nun weiter auf das Sakrament des Abendmahls. Das Abendmahl ist das zweite Transparent, in dem sich der wehende Geist, der Pfingstgeist, fängt.

2. Der Geist, der lebendig macht

In, mit und unter dem Sakrament des Abendmahls weht der Geist, der „lebendig macht“. Das Abendmahl ist so etwas wie eine Rast und Pause mit Brot und Wein auf dem langen Weg, der mit der Taufe begonnen hat. Mit der Taufe beginnt ein großartiger Weg in die Freiheit des eigenen Herzens. Große Worte und große Lebensthemen verbinden sich mit der Taufe: Erlösung, Freiheit, Neugeborenwerden, ewiges Leben, Ausgießung des Heiligen Geistes.

Doch große Worte und große Lebensthemen sind manchmal zu groß für den Alltag. Immer wieder spürt man, wie klein und kleinkariert es im Leben zugehen kann. Schnell verliert man sich in der Routine des Berufs, in der Hektik des Familienlebens, in der Sackgasse eines Konfliktes oder in der Depression der Seele. Der große Weg, der mit der Taufe begonnen hat, wird zu einem täglichen Kampf im Kleinklein. Deshalb braucht es auf langen Wegen immer wieder Zeiten der Rast und der Pause – am besten mit einer guten Wegzehrung an einer gedeckten Tafel. Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen. Man kommt zu neuen Kräften. Oscar Wilde, der Meister der spitzen Bemerkung, sagt:

„Nach einem guten Essen könnte man jedem vergeben, 
selbst seinen eigenen Verwandten.“

Beim Sakrament des Abendmahls mit Brot und Wein geht es um Vergebung. Vergebung heißt: Neu anfangen können, Neugeborenwerden, den beflügelnden Geist spüren. Vergebung ist die Kraft, sich von alten Geschichten und Wunden nicht mehr beherrschen zu lassen.  Alte Geschichten und Wunden werden nicht einfach vergessen, aber sie verlieren ihre Macht. Dann weht ein neuer, ein befügelnder Geist in, mit und unter Brot und Wein. Dann weht im Sakrament des Abendmahls der Geist, der lebendig macht. Dann werden Leib und Seele gestärkt auf dem langen Weg, der mit der Taufe begonnen hat.

„Christus in uns“, so umschreibt Paulus die Wirkung des Abendmahls für seine Freunde in Rom. „Christus in uns“ – das geschieht mit Brot und Wein. Wir nehmen Christus in uns auf wie ein wahrhaftiges Lebensmittel. Dann lebt und strahlt der Geist in uns, der das Alte vergessen lässt und den neuen Geist in uns lebendig macht. Dann leuchtet durch unsere alten, sterblichen Leiber ein lebendig machender Geist hindurch. Paulus weiß um den Alltag im Kleinklein und weiß um unsere sterblichen Leiber. Aber in, mit und unter Brot und Wein kommt ein heiliger Geist in uns hinein. Paulus malt es mit folgenden Worten aus:

Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.

So entspannt euch, liebe Freunde! Denn Pfingsten ist ein herrlich entspanntes Fest. Ohne unser Zutun kommt und braust ein wehender, ein himmlischer Geist. Im Sakrament der Taufe und im Sakrament der Abendmahls bekommen wir Anteil an dem Geist, der „frei“ und „lebendig macht“.

Perikope
08.06.2014
8,1-2.10-11