Predigt zu Titus 2,11-14 von Claudia Trauthig
2,11-14

Predigt zu Titus 2,11-14 von Claudia Trauthig

Liebe Gemeinde!

I.

Endlich am Ziel!

Endlich ist es so weit.

Jetzt ist Heilige Nacht:

Gott kommt bei uns an - und auch wir sind angekommen:

Wir können die Schultern lockern,

tief durchatmen

und den Blick

-mit offenem Herzen-

frohgemut

nach oben und vorne richten.

Auch für dich und Sie ist Platz - in der  übervollen Kirche.

Wir haben Raum in der Herberge Gottes –

und haben es gar nicht selber machen müssen.

Gott macht es  - für uns.

Gott empfängt uns mit offenen Armen und macht sich uns klein –

damit aus der Furcht unseres Lebens die übergroße Freude seines Himmels wird.

„Große Freude“ verkünden die Engel - unabhängig von Festbraten und Geschenkeschlacht.

Überhaupt nicht angewiesen ist ihre Botschaft

auf das Abarbeiten adventlicher To-do-Listen,  ausgefeilte familiäre Pläne oder exklusive Überraschungen.

Die Heilige Nacht ist und bleibt nicht angewiesen

auf jene Lokomotive, die sich „Vorweihnachtszeit“ nennt

und die nicht wenigen Angst macht,

weil sie mit ihrem wirklichen Leben -zwischen Furcht und Hoffnung im Advent-  nicht zu tun hat.

Dass diese Nacht heilig ist, machen nicht wir, und wir können es auch nicht verhindern:

Nicht durch sich steigernde Anspannung in uns und um uns, nicht durch Konflikte im Großen und im Kleinen.

Nicht durch das Ringen um Fragen wie: „Sollen wir auch Soldaten nach Syrien schicken“ oder „Wer nimmt dieses Jahr eigentlich Oma am 24.?“

Heilige Nacht.

Sie ist da.

Uns geschenkt. In den Schoß gelegt wie ein Kind…

Wir bleiben geliebt und haben wieder nichts dazu getan.

Und so sitzen wir hier, atmen diese unvergleichlich vibrierende Stille, lassen unsere Sinne vom Heiligen umfangen, beleben.

Alle Jahre wieder und doch jedes Mal neu…

II.

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.

Mit diesen alten, wohl- und volltönenden Worten, beginnt der Predigttext für den Heiligen Abend 2015, aus dem Titusbrief.

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.

Damit ist auch Siegfried gemeint.

Mit seinen 76 Jahren hat Siegfried schon viele Weihnachten hinter sich. Am schönsten, so weiß er heute, waren die Jahre, als die Kinder klein waren. Mit Gisela und den Söhnen unter dem Weihnachtsbaum… Jetzt ist Gisela seit fünf Jahren tot, und Siegfried hat sich bis heute nicht daran gewöhnt. Den Kindern will er nicht zur Last fallen, die haben ihr eigenes Leben. „Feiert ihr man für Euch - und am zweiten Feiertag gehen wir essen.“ Am 4. Advent war er bei Nachbarin Hilde zum Kaffee geladen. An der Tür hat sie ihm wieder eine Dose mit Plätzchen geschenkt, aber diesmal gesagt: „Ich… bin Heiligabend auch zuhause. Die Fahrerei schaff ich nicht mehr. - Sollen wir nicht zusammen essen und dann in die Christmette gehen?“

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.

Heilsame Gnade - auch für Jenny, 42.  Nach einem „Wahnsinnsjahr“ in der Firma freut sie sich wie ein Kind auf Weihnachten. Sie wird ihr smartphone abschalten und das Tablet zu Hause lassen. „Wenn sie nicht aufpassen, droht Ihnen Burnout“, hat der alte, weise Mann neulich gesagt.

Jenny hat sich einfach bei ihrem Bruder und Familie eingeladen. Schließlich ist sie Patentante. Gemeinsam mit Ben will sie wieder Kind sein und nichts mehr erreichen. Jenny will Zimtsterne und (psst!!!) mal wieder Fleisch futtern. Sie will vergessen, dass sie eigentlich nicht mehr weiß, wo die Jahre geblieben sind. In die Kirche will sie auch, „auf jeden Fall“! Es tut gut,  mal nicht an sich selber glauben zu müssen.

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.

Linus, 11 Jahre alt, hat gar keine Zweifel daran. Klar ist Gott für alle, besonders die Kinder – oder nicht?

Linus freut sich jetzt auf die Geschenke, machen ja alle. Geschenke können spannend und wunderbar sein. Besonders dann, spürt Linus, wenn der innere Taschenrechner keine Rolle spielt. Wenn Mama nicht nachdenkt, ob das Geschenk von Tante Brigitte nicht eigentlich zu billig war...  Geschenke sind wichtig, denkt Linus, aber nicht das Wichtigste. In der Reliarbeit schreibt er: „Wir sorgen uns alle (…), was wir verschenken, wie viel wir schenken, 10.- €, 20.- € oder 150.- €, aber das Einzigste, was wir schenken sollten -  ist Nächstenliebe und Frieden.“

III.

Liebe Gemeinde, wie immer – die Kinder:

„Nächstenliebe und Frieden“!

Gottes heilsame Gnade kommt durch ein Kind in diese Welt und leuchtet bis heute am klarsten durch die Kinder dieser Welt.

Kinder wie Linus sind Sterne in unserer Nacht, weil ihre Herzen noch dem Stern folgen können:

„Nächstenliebe und Frieden!“

Davon spricht uns seit über 2000 Jahren die Weihnachtsgeschichte.

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen, beginnt der Predigttext,

und wird dann ähnlich ernst wie Linus:

Und nimmt uns in Zucht,

dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden

und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben.

Besonnen, gerecht und fromm leben, liebe Gemeinde!

Nächstenliebe und Frieden!

Wie klingt das für Sie?

(…)

Für mich

klingt das eigentlich wunderbar, verlockend. Es klingt nach dem wahren und guten Leben, nach dem ich mich sehne. (Besonders an Weihnachten, aber eigentlich immer.)

Besonnen, gerecht und fromm.

Das klingt nach dem neuen Leben, welches mit dem Kind in der Krippe beginnt.

Nächstenliebe und Frieden – dafür hat Jesus doch gelebt und dafür ist er gestorben.

Wie zuerst Maria

mit den Hirten

und später Petrus und so viele

-Kinder, Frauen und Männer- durch die Jahrtausende…

möchte auch ich dieses Kind, Jesus, annehmen - und mit ihm leben.

Ich will nicht Herodes, Judas oder Pilatus sein…

und auch keiner der heutigen Feinde und Mörder Gottes: Denn überall da, wo ein Mensch Unmenschlichkeit erleidet, wo ein Kind vor Hunger schreit, misshandelt wird oder gewaltsam stirbt ,

wird dieses Kind, Gott selbst verraten, verletzt, gemordet.

Lasst uns da doch nicht mitmachen, nicht Herodes helfen und auch nicht Pilatus.

Mit den Hirten will ich ziehen, will auch meine Furcht von den Engeln verwandeln lassen - in Aufbruch und Freude:

um besonnen, gerecht und fromm zu leben - oder, wie es in einer modernen Übersetzung heißt: „als Menschen, die den Glauben ausüben“.

IV.

Zu üben haben wir, nicht wahr - liebe Gemeinde?

Leicht ist es nicht, die Engel zu hören, dem Stern zu folgen und dem Kind zu dienen.

Leicht ist es nicht –

in dieser unserer Welt 2015, die ja auch heute Nacht, so sehr wir es uns wünschten, nicht einfach innehält… Friede auf Erden!?

In dieser Welt gibt es Terror und soviel Unbegreifliches.

Es gibt Panik, Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit.

Es gibt Wirtschaftskriminelle, die scheinbar keine Skrupel kennen und solche, die sich an den Kriegen hier wie dort bereichern.

Es gibt die Herodesse, Pontius und Pilatus und die unbarmherzigen Wirte. Es gibt die leerstehenden Häuser und Wohnungen und Herzen, die sich nicht öffnen, immer noch nicht, für Nächstenliebe und Frieden.

Nächstenliebe und Frieden, besonnen, gerecht und fromm – das sind mehr als salbungsvolle Worte.

Das sind Worte mit Hand und Fuß, die Hirn und Herz fordern:

Da sind diese scheinbar zahllosen Menschen, die sich so sehr nach einer menschenwürdigen Zukunft sehnen, dass sie ihre Heimat (und alles, was dazugehört) verlassen, um irgendwie irgendwo anzukommen.

Wie das junge Paar vor über 2000 Jahren brauchen auch sie offene Arme und Gesichter, Gottes heilsame Gnade.

Ohne Unterschied schenkt ER sie nicht nur Siegfried und Jenny und Linus – sondern auch Izzet und Jarmel, und Ayla.

Wenn wir uns auf christliche Werte berufen und neu gründen wollen, dann ist der erste davon Gottes bedingungslose Liebe zum Menschen, wirklich zu jedem Menschen: Mann und Frau.

V.

Liebe Gemeinde,

wussten wir das nicht immer schon, im warmen Teil unseres Herzens? Wo sich das Kind einnistet?

Wir Christen haben kein Privileg. Auch nicht an Weihnachten.

Oder sagen wir präziser: Unser Privileg ist:

Vom Anfang bis zum Ende mit diesem Kind zu leben.

Wir sind berufen, vom Anfang unseres Lebens (als Getaufte) bis zum Ende:

Lebe mit diesem Kind, Folge ihm von Herzen!

Das können wir.

Frohgemut und getrost (lassen Sie es mich mit diesen alten Worten sagen).

Tag für Tag.

Denn wir dürfen uns sagen lassen, dass ER mit uns unterwegs bleibt.

Wir können vertrauen, dass diese Welt, ihr Glück und ihr Elend, nicht alles ist.

Wir dürfen hoffen, dass sogar mit unserem eigenen Tod nicht alles zu Ende ist.

Gott, der im Kind gekommen ist

und sich aufs Neue Raum schafft in meinem Herzen -

kommt wieder.

Dann öffnet sich die Pforte zwischen Himmel und Erde nicht nur einen Spalt, sondern vollkommen. Dann führt die Heilige Nacht in das ewige Licht.

Davon spricht zum Schluss auch der Predigttext:

13 (und) WIR warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus,

14der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.

Darum lassen Sie uns diese Gnade neu feiern und aus ihr leben,

heilsam für alle Menschen.

Lassen Sie  uns unterwegs bleiben mit dem Kind.

Gemeinsam mit Linus, Jenny und Siegfried können auch wir „eifrig werden zu guten Werken“. 

Für den Verfasser unseres Predigttextes ist das nicht schwer.

Auch für Linus nicht, der schreibt: „Mir ist es (Weihnachten) sehr wichtig, in die Kirche zu gehen. Wenn ich die Geschichte dann von Weihnachten höre, habe ich das Gefühl, dass ich neben der Krippe stehe. Mir geht es dann immer sehr gut.“

Wem es gut geht, für den wird es leicht, auch anderen gut zu sein.

Oder etwa nicht?

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen

Amen.