Predigt zu Titus 3,4-7 von Reinhold Mokrosch
Liebe Weihnachtsgemeinde!
I.
Ich war tief berührt von meinen Begegnungen im Aufenthaltsraum unseres Flüchtlingshauses in Osnabrück: Eine afghanische Frau säugte ihr Neugeborenes. Es war drei Wochen alt, wie sie mir im perfekten Englisch mitteilte. Ich schluckte: „Also ist es auf der Flucht geboren?“ Die entkräftete Frau nickte unter ihrem hängenden Kopftuch. Ich fragte nach dem Entbindungskrankenhaus. Sie lächelte. Ein rührender Arzt hätte ihr auf einer Decke in einem Zelt bei der Geburt geholfen. Sie hätte in ihm einen von Allah geschickten Engel erblickt.
Ich kam mit ihr ins Gespräch: „Warum sind Sie geflohen, - im schwangeren Zustand?“ „Der Tod klopfte täglich an unsere Tür!“ erklärte sie mit feuchten Augen. „Mein Mann wurde zu Al Quaida gezwungen. Ich auch. Aber ich konnte fliehen. Mein Mann nicht.“ Wir schwiegen. „Was erwarten Sie hier in Europa?“ wagte ich zu fragen. Ihre Augen strahlten: „Einen Neuanfang. Eine Art Neugeburt – oder Wiedergeburt. Neu geboren werden, wie mein Kind, im sicheren Europa. Das erhoffe ich mir, ein neues Leben hier beginnen zu können.“ Und dann leise: „Hoffentlich mit meinem Mann!“ – Ich wurde nachdenklich: Neu anfangen, neu geboren werden…Ist das realisierbar?
Am Nebentisch spielten vier Jungs Tischfußball. Ich stellte mich daneben und kam mit einem 10-Jährigen ins Gespräch, mit der Übersetzungshilfe der jungen Frau, mit der ich gerade geredet hatte. „Woher kommst Du?“ fragte ich. „Aus Syrien, aus Aleppo!“ „Und wo sind Deine Eltern?“ Er schaute traurig zur Seite: „Die haben mich vorgeschickt. Ich sollte rauskriegen, wie’s in Europa aussieht.“ Ich wurde neugierig: „Haben Sie Dich nach Deutschland geschickt?“ Er: „Nein, nicht nach Deutschland. Ich soll meinen Onkel in Norwegen besuchen.“ „In Norwegen? Wie willst Du denn dahin kommen?“ fragte ich ungläubig. Er zuckte die Achseln: „Weiß nicht!“ Ich war überzeugt: Er würde es schaffen, dieser kleine Junge ohne Eltern und ohne Begleiter.
Ich fragte auch ihn: „Was versprichst Du Dir von einem Leben bei Deinem Onkel in Norwegen?“ Er zögerte: „Ein Leben ohne Flugzeuge und Bomben. Ich will neu anfangen – in der Schule und mit den Kindern von mein’m Onkel!“ Und er fügte hinzu: „Hoffentlich kommen meine Eltern bald…“ Tränen sollten an seiner Wange hinunter.
II.
Liebe Weihnachtsgemeinde! Warum berichte ich von diesen zwei ergreifenden Schicksalen? Ich sag’s Ihnen ehrlich: Weil sie mir einen Zugang zu unserem Predigttext heute am 1. Weihnachtstag eröffnen. Unser Predigt-Text aus dem Titus-Brief ist nämlich sperrig, schwierig und schwer zugänglich. Er steht in
Titus 3, 4-7:
4 „Als aber erschienen war die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unsres Heilandes, 5 machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan haben, sondern nach seine Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, 6 den er über uns reichlich ausgegossen hat, durch Jesus Christus , unsern Heiland, 7 damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des Ewigen Lebens würden nach unserer Hoffnung.“
Ein schwieriger, aber anrührender Text. Der Verfasser bekennt Gottes „Freundlichkeit und Menschenliebe“. Er erklärt: „Wir sind „selig“ geworden, nicht aufgrund unserer guten Taten und Werke, sondern aufgrund von Gottes Barmherzigkeit (typisch paulinisch; ein späterer Einschub?). Und dann kommt der Höhepunkt im Text: Gott hat uns selig gemacht durch das „Bad der Wiedergeburt“ und durch unsere „Erneuerung im Heiligen Geist“. Und zum Schluss spricht der Verfasser eine Verheißung aus: Wenn wir darauf hoffen, werden wir „Ewiges Leben“ empfangen.
Ich muss hier, liebe Weihnachtschristen, eine historische Erklärung einblenden: Mit dem „Bad der Wiedergeburt“ ist hier das „Bad der Taufe“ gemeint. Damals, im 2. Jahrhundert, wurden ja keine Säuglinge oder Kinder, sondern Erwachsene getauft. Und nicht durch ein nur so maues Kreuzzeichen mit Wasser auf der Stirn, wie wir es heute praktizieren, sondern durch ein kräftiges Untertauchen des ganzen Leibes im Wasser. Der alte Adam sollte ersäuft und ein neuer Mensch sollte als Christ wiedergeboren werden. – Genau das beschreibt der Verfasser des Titus-Briefes mit den Worten vom „Bad der Wiedergeburt“, von der „Erneuerung des Menschen im Heiligen Geist“ und vom „Ewigen Leben“.
Verstehen Sie jetzt, liebe Weihnachtsgemeinde, warum mir meine Begegnungen im Flüchtlingshaus diesen Weihnachtstext erschlossen haben? Die junge afghanische Mutter und der 10-jährige syrische Junge erhofften sich beide einen „Neuanfang“, ein „neues Leben in Sicherheit“, ja eine „Neugeburt“ und „Wiedergeburt“. Das neu geborene Kind war der erschöpften jungen Mutter zum Sinnbild für „neues Leben“ geworden. Neu anfangen! Das Alte hinter sich lassen! Wiedergeboren werden! Das waren ihre Wünsche!
Alle, die in der Flüchtlingsarbeit mit dabei sind und mithelfen, werden das bestätigen: Wer entkräftet und erschöpft hier ankommt, der erhofft sich ein neues Leben. Er/Sie möchte neu geboren werden. Neu anfangen!
Freilich: Die Flucht war keine Taufe. Und wahrscheinlich war sie auch nicht vom Heiligen Geist begleitet, - bzw. die meisten Flüchtlinge empfanden das Leid der Flucht nicht als Geschenk des Heiligen Geistes, sondern eher als diabolischen Schmerz. Aber die Hoffnung auf einen Neuanfang war und ist bestimmt bei allen Geflohenen vergleichbar mit der Hoffnung auf ein gelingendes Leben nach der Taufe.
III.
Was hat solche Hoffnung auf einen Neuanfang mit Weihnachten zu tun? Warum haben die Kirchenverantwortlichen diesen Text von der Erneuerung und Wiedergeburt als Predigt-Text für Weihnachten vorgeschlagen? Weil auch Weihnachten ein Fest der Erneuerung und der Wiedergeburt ist! Weil auch Weihnachten nicht nur eine Zeitenwende markiert, sondern möglicherweise auch eine Wende in unserem persönlichen Leben!
Eine Wende in unserem persönlichen Leben? Wiedergeburt und Erneuerung unseres Lebens ausgerechnet zu Weihnachten, der terminlich festgelegten Stresszeit? Sind die Weihnachtstage nicht die denkbar ungünstigste Zeit für solche Lebenserfahrungen? Ja, natürlich: Weihnachten ist nicht auf den 24. und 25. Dezember festgelegt. Weihnachten ist dann, wenn ich spüre, dass Gott eine Erneuerung und eine Wende in mir wirkt. Aber zu Weihnachten passiert eben doch viel. Wenn Sie auf die Weihnachtsfeiern in Ihrem Leben zurückblicken, was erinnern Sie dann besonders? (Kurze Stille) Sicherlich auch Zeiten der Erneuerung: Vielleicht haben Sie ein neues Verhältnis zu Ihren noch lebenden oder schon verstorbenen Eltern erspürt; oder ein neues Verhältnis zu Ihrem Partner oder Ihrer Freundin; oder ein neues Verhältnis zu Ihren Kindern; oder jetzt an diesem Weihnachtsfest: ein neues Verhältnis zu Flüchtlingen. Vielleicht sind Sie gerade zu Weihnachten von Dankbarkeit erfüllt. Vielleicht empfinden Sie die Liebe Ihrer Mitmenschen an diesem Tag ganz besonders. Unsere Weihnachts-Erinnerungen können ein Quell für neues Lebens sein. Und vielleicht führen sie uns zu einem Neuanfang.
Dietrich Bonhoeffer hat zu Weihnachten 1944 in seiner isolierten Gefängniszelle Wiedergeburt und Erneuerung erfahren. Er erlebte, wie er schrieb, die Gegenwart und Liebe seiner Eltern, Geschwister und seiner Verlobten Maria so intensiv wie selten zuvor. Er fühlte sich von Ihnen umfangen und nicht allein. Und er erklärte sich das mit Gottes Menschwerdung. Gott sei, so war er überzeugt, in der Liebe seiner Angehörigen direkt präsent! Weil Gott Mensch geworden sei, würde er, Dietrich Bonhoeffer, menschliche Liebe als göttliche Liebe Empfinden. Das sei ihm, so schrieb er, zu Weihnachten 1944 mitten im Bombardement auf Berlin neu aufgegangen.
Und noch mehr: Er glaube, so schrieb er, dass Friede möglich und wahrscheinlich sei, weil Gottes Friede eben Realität geworden und in die Geschichte eingegangen sei. „Gottes Friede ist auch in der Welt möglich, weil Gott Mensch geworden ist“ vermerkte er auf einem abgerissenen Zettel in seiner Gefängniszelle. Und dann schrieb er zur Jahreswende 1944/1945 das berühmte Gedicht:
Von guten Mächten, treu und still umgeben
behütet und getröstet wunderbar, -
So will ich diese Tage mit Euch leben
und mit Euch gehen in ein Neues Jahr…
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all Deiner Kinder hohen Lobgesang.
Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Dietrich Bonhoeffer erlebte Weihnachten als Wiedergeburt und innere Erneuerung seines Lebens. Auch die junge afghanische Mutter und der 10-jährige syrische Junge erhofften sich Erneuerung und neues Leben. Wir sollten ihnen dabei zu einem von Gott gesandten helfenden Engel werden, - weil Gott Mensch geworden ist.
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Predigt zu Titus 3,4-7 von Jochen Cornelius-Bundschuh
Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unserer Hoffnung.
Am Morgen des 1. Weihnachtstages breiten sich Ruhe und Gelassenheit aus. Lange haben wir uns auf den Heiligen Abend vorbereitet: Zimmer geschmückt, Briefe an die Verwandtschaft geschrieben oder mit Freundinnen telefoniert, Geschenke für die Kinder überlegt, einen Baum erstanden, ein Krippenspiel einstudiert, Sterne gebastelt, im Chor geprobt, ein Festessen geplant. Nun liegt die Heilige Nacht hinter uns. Was bleibt uns? Die Freundlichkeit und die Menschenliebe Gottes! Sie trösten uns und machen uns frei!
I
In der Heiligen Nacht gibt sich Gott als menschenfreundlich zu erkennen. In der Krippe sehen wir ein hilfloses Kind: in Windeln gewickelt, auf Mutter und Vater angewiesen und bald schon auf der Flucht vor den Mächtigen. Doch dieses schwache Knäbelein ist der Sohn Gottes. Er verändert die Welt und gibt ihr ein neues, liebevolles Gesicht.
Schön zeigt sich das an den Hirten. Sie sind mit ihren Herden unterwegs. Sie haben keinen festen Platz in der Gesellschaft, oft keine Familie. Sie leben am Rand des Existenzminimums. Trotzdem erfahren sie als Erste von dieser Geburt. Sie erschrecken: Warum sollen ausgerechnet wir zu diesem neugeborenen König gehen? Was sollen wir denn dazu sagen? Doch der Engel Gottes macht ihnen Mut: Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren! Sie brechen auf zur Krippe. Sie finden das Kind. Sie spüren die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes - und das verändert sie. „Herr, dein Mitleid, dein Erbarmen, tröstet uns und macht uns frei.“
Ich stelle mir vor, wie sie sich aus ihrer gebückten Haltung aufrichten und entdecken, was in ihnen steckt. Wie das Lachen des Kindes ihre tief eingeschnittenen Mundwinkel nach oben zieht. Wie sie merken: Wir sind gemeint! Gott schaut mich an. Gott ruft mich bei meinem Namen. Ich gehöre zu diesem Kind: egal, was vorher war, egal, was andere von mir denken, egal, wie unzufrieden ich mit mir selbst bin. Dieses Kind hilft mir, in mir und in den anderen die Menschen zu entdecken, die Gott froh macht und frei.
II
Gott zeigt sich uns in der Krippe als menschenfreundlich und liebevoll. Deswegen freuen wir uns auf Weihnachten. Wir hoffen darauf, dass die Liebe Gottes zu uns all unsere Kämpfe untereinander um Anerkennung, um Macht und um Geld überwindet. Weihnachten speist unsere Sehnsucht auf ein erfülltes und geschwisterliches friedliches Leben. Das gilt im Kleinen wie in der großen Politik.
Dass der Bruder endlich den Mut bekommt, auf die Schwester zuzugehen, mit der er sich über das Erbe zerstritten hat. Dass die Mitschülerin die Kraft findet, sich bei ihrer Nachbarin zu entschuldigen, über die sie Hässliches erzählt hat. Dass die vielen Interessenvertreter im Krieg in Syrien endlich aufhören, ihren eigenen Vorteil zu suchen, sondern danach fragen, wie die Menschen in Sicherheit und in einem gerechten, an den Menschenrechten orientierten Frieden leben können. Dass die guten Ergebnisse der Klimaverhandlungen in Paris sich jetzt auch in den richtigen Schritten niederschlagen, politisch, aber auch vor Ort in den Dörfern und Städten und in unserem persönlichen Leben: Was kann ich selbst tun, damit die Erde sich nicht immer weiter erwärmt, durch mein Essen und Einkaufen, durch mein Heizen oder mein Reisen?
Im Angesicht der Krippe wächst die Hoffnung, dass unsere Gemeinschaft mit Gott und untereinander gelingt, dass uns eine Freude zufällt, die alle Sorgen überwindet und sich etwas von dem in uns und zwischen uns ausbreitet, was im „Jauchzet, frohlocket“ und im „Herrscher des Himmels“ des Weihnachtsoratoriums so mitreißend anklingt.
Hohe Erwartungen und große Gefühle verbinden sich mit Weihnachten. Sie machen uns dünnhäutig und verletzlich. Und führen auch zu Enttäuschungen. Weil wir voneinander mehr an Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, an Versöhnung und Erneuerung erwartet hatten, als sich dann ereignet.
Unser Predigttext ist da nicht süßlich-kitschig, sondern sieht das realistisch. Wir können die Menschenfreundlichkeit Gottes nicht mit unserem Tun, mit unseren Werken einlösen. Wir bleiben in uns widersprüchlich. Wir ärgern uns aneinander, wir beneiden einander, wir grenzen uns ab und aus, wir tragen mit unserem Lebensstil dazu bei, dass das Leben für andere schwerer wird. Unsere Freundlichkeit ist nicht der Maßstab; sie macht uns nicht selig. Es ist Gottes Menschenliebe, die unsere Sehnsucht wach hält und unsere Hoffnung stärkt.
III
Und doch geht von der Krippe eine Bewegung aus, die uns Mut macht zu kleinen, aber klaren Schritten in die richtige Richtung, so wie wir das in den vergangenen Monaten an vielen Orten zugunsten der Menschen erlebt haben, die bei uns Zuflucht suchen. Initiativen bieten Sprachkurse an, eine Klasse veranstaltet in der Schule einen Spieleabend mit jungen Syrerinnen und Syrern, Gemeinden laden Flüchtlinge ins Gemeindehaus zu einer offenen Weihnacht ein. Viele haben sich von der Menschenliebe Gottes mitreißen lassen, sich an ihr ausgerichtet, ihren Schwung und ihre Richtung aufgenommen.
Das zeigt: Die Weihnachtsgeschichte bewährt sich im Alltag. Sie macht uns Mut, uns zu verändern und uns in unserem Leben an Gottes Menschenfreundlichkeit zu orientieren.
IV
Die Bewegung, die von der Krippe ausgeht, bewährt sich vor allem darin, dass sie unseren Glauben festigt an die Menschenliebe Gottes. Dass wir im Leben und im Sterben, in unserem verantwortlichen Tun und Lassen spüren, dass Gott uns aus der Krippe mit freundlichen Augen anschaut, die trösten und Mut machen.
Jedes Weihnachtsfest ist in diesem Sinne eine Tauferinnerung – und jede Taufe macht uns leibhaftig erfahrbar, dass Weihnachten die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes erschienen ist. In den ersten Gemeinden stiegen die Menschen in ein Taufbecken, das als Kreuz geformt war. In den Seitenarmen des Kreuzes standen die Taufenden und tauchten die Person ganz unter. Reichlich wurde sie vom Wasser umspült und erlebte ein Bad der Wiedergeburt und Erneuerung. Die alten Bilder und Erwartungen, die andere von mir haben oder mit denen ich mich selbst binde, werden abgewaschen. Getröstet und frei steigt der getaufte Mensch auf der anderen Seite aus dem Taufbecken: Ich bin nun nicht mehr reich oder arm, Flüchtling oder einheimisch, alt oder jung, gesund oder krank; das alles auch, aber entscheidend ist, dass Gott mich barmherzig anschaut und mich mit Freundlichkeit und Zuversicht erfüllt. Ich bin Gottes Kind und Bruder oder Schwester Christi, ich lebe aus der Fülle der Gnade.
„Als aber die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes erschien …“ Seit Weihnachten schaut Gott uns mit den Augen von Jesus Christus an. Wir leben aus Gottes Barmherzigkeit, wir lassen uns von Gottes Menschenfreundlichkeit durch unsere Konflikte tragen, wir singen uns wechselseitig zu: „Herr, dein Mitleid, dein Erbarmen, tröstet uns und macht uns frei!“
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Predigt zu Titus 2,11-14 von Lutz Meyer
Und so hat sich Gott allen Menschen gezeigt, sich Ihnen zugewandt und Ihnen Hoffnung gebracht. Die Hoffnung will uns verändern. Sie bringt uns dazu, der Gottlosigkeit eine Absage zu erteilen, sie lässt uns aufhören die Dinge dieser Welt festzuhalten. Durch die Hoffnung werden wir verändert, haben Gott fest im Blick. Wir können der jetzigen Zeit als besonnene und gerechte Menschen leben und unseren Glauben ausüben.
Gleichzeitig warten wir darauf, dass die Hoffnung in Erfüllung geht, die uns glückselig macht – und darauf, dass die Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Jesus Christus erscheint. 14Der hat sein Leben für uns gegeben. So hat er uns von allem erlöst, was aus der Gesetzlosigkeit entsteht.
Und so wollte er sich ein reines Volk erschaffen, das ihm gehört – ein Volk, das nur darauf aus ist, Gutes zu tun.
(Übersetzung/Übertragung Lutz Meyer)
Liebe Gemeinde,
„Ihr sollt ein Volk sein, das nur darauf aus ist, Gutes zu tun!“ – mit diesem Wunsch, mit diesem Ausblick, ja, mit dieser Zielvorgabe schließt der Predigttext aus dem Titusbrief.
Mir kommt das so vor, wie ein unpassender Zwischenruf, eine Störung in erlauchter Runde. Wir wollen Weihnachten feiern und der Predigttext für unseren Gottesdienst kommt daher wie ein Verwandter, der sich bei einer Familienfeier ungemessen benimmt oder doch wenigstens unpassende Kleidung trägt.
„Ihr sollt ein Volk sein, das darauf aus ist, Gutes zu tun!“ - das passt gerade in diesem Jahr nicht in die Erwartungen, die viele, die ich ans Weihnachtsfest in diesem Jahr habe.
„Lasst mich in Ruhe feiern“, höre ich mich innerlich sagen. Sollte nicht in diesem Jahr wenigstens Weihnachten eine Insel der guten Stimmung sein? Keine Flüchtlinge, kein Reden von Terrorgefahr, kein „Wir schaffen das!“ oder „Wir schaffen das nicht!“, auch keine weiteren Aufrufe sich als Deutsche von der guten Seite zu zeigen. Wenigstens heute - keine moralischen Appelle, sondern einfach nur Christvesper - eingestimmt werden, in den Zauber dieser Tage.
Nun, unser Glaube ist keine Droge, die wir einnehmen, um die Wirklichkeit zu vergessen. Martin Luther hat mal gesagt, - und ich verfremde den Satz ein wenig – „Der Glaube sagt, was Sache ist!“
Auch zu Weihnachten – „Der Glaube sagt, was Sache ist“ Und so bitte ich Sie sich heute Nachmittag, einen Moment Zeit zu nehmen, ich bitte Sie für ein paar Minuten abzusehen von der Bescherung, und dem Weihnachtsessen. Lassen sie uns hinsehen, auf das, was Paulus einem seiner engsten Mitarbeiter, was er Titus schreibt.
Gleich zu Beginn kommt der Paukenschlag, der wesentliche Satz, der die neue Sicht der Christen auf die Welt beschreibt: „So hat sich Gott allen Menschen gezeigt, sich Ihnen zugewandt und Ihnen Hoffnung gebracht.“
Was mit 2000 jähriger Verspätung betrachtet, sprich heute, ein wenig geschraubt klingt, hat Leute wie Titus und die jungen Christen in seiner Gemeinde in Begeisterung versetzt. „Gott hat sich allen Menschen gezeigt, sich Ihnen zugewandt und Ihnen Hoffnung gebracht“ – die Christen um Titus hatten erlebt: Gott ist keine ferne Macht, kein Schicksal, oder eine Illusion die, die Menschen brauchen, um sich da Leben leichter zu machen.
Nein, Titus und seine Freunde hatten verstanden. Mit Jesus ist Gott all das nicht mehr – Seit Jesus in die Welt kam, ist Gott Mensch! Gott zeigt sich den Menschen menschlich - ist ihnen zugewandt.
Wer hätte gedacht, dass es mit Weihnachten diese Bewandtnis haben könnte? Es geht nicht um ein paar Tage gefühlvollen Karneval bei Marzipan oder auf dem Weihnachtsmarkt mit Glühwein in der Hand. Es geht heute um die Befähigung des Menschen zum Menschlichen! Das ist mit Jesus in die Welt gekommen!
Friedrich von Bodelschwingh hat das mal so erklärt: „Nach Hause kommen, das ist es, was das Kind von Bethlehem allen schenken will, die weinen, wachen und wandern auf dieser Erde.“
Was im Titusbrief „Hoffnung“ genannt wird, die entsteht, „weil Gott sich allen Menschen zuwendet“ heißt bei Bodelschwingh schlicht „nach Hause kommen!“ Und dieses nach Hause kommen, haben alle die nötig, für die das Leben nicht nur eine einzige Party ist. Für die, die wissen was es heißt zu weinen, zu wachen und wandern auf dieser Erde - für diese Menschen ist Weihnachten gemacht!
Weinen Sie manchmal? Wachen sie manchmal – weil Sorgen und Not sie nicht schlafen lassen? Dann ist Ihnen das Kind der Krippe geschenkt! Denn im Kind in der Krippe findet sich Gott! Er findet sich arm, nicht mächtig, nicht prächtig, sehr bescheiden, alltäglich, ja nackt, frierend und hilflos und doch mit einem Lächeln durch die Zeiten, das mich erreichen will in meinen Dunkelheiten (nach H.D. Hüsch). Gott hat sich aufgemacht zu wohnen, wo keiner wohnen will, in unserer Schwäche, in unserer Einsamkeit, in unserer Menschlichkeit, die Zeiten größten Glücks und größter Not kennt.
Oder wie es Martin Luther gesagt hat: Wir fassen keinen anderen Gott, als den, der in jenem Menschen ist, der vom Himmel kam. Ich fange bei der Krippe an.“
So ist denn der Predigttext heute kein unpassender Zwischenruf, eine Störung in erlauchten Runde, sondern eine notwendige Erinnerung. Weihnachten ist das Fest der Menschwerdung Gottes. Unser kleines, oft so unvollkommenes Menschsein hat eine Perspektive der Hoffnung, die alles verändert. Gott ist da, wo wir ihn nicht vermuten, im Kleinen, im Unscheinbaren, in meiner Not und meiner Gebrochenheit!
Mit der Krippe macht Gott einen neuen Anfang, bei der Krippe entdecken Christenmenschen ihren Gott am Werk, wo ihn keiner sonst am Werke sieht! Denn wo es ganz menschlich zugeht, im Guten wie im Bösen, da ist er mitten drin.
Und so kommt der Titusbrief von einer Paukenschlagerfahrung – „Gott hat sich allen Menschen zugewandt!“ und fordert uns auf, zu lernen, was Gott gelernt hat – im „Menschlich-Sein“ geschieht das „Gott-Sein“! Oder, um den Brief zu zitieren:
„Und so hat sich Gott allen Menschen gezeigt, sich Ihnen zugewandt und Ihnen Hoffnung gebracht. Die Hoffnung will uns verändern. Sie bringt uns dazu, der Gottlosigkeit eine Absage zu erteilen, sie lässt uns aufhören die Dinge dieser Welt festzuhalten. Durch die Hoffnung werden wir verändert, haben Gott fest im Blick. Wir können der jetzigen Zeit als besonnene und gerechte Menschen leben und unseren Glauben ausüben.“
Wer Gott im Menschlichen entdecken lernt – und wer wäre da nicht immer am Anfang des Lernens? – der wird besonnen reden und handeln! Glaubende sehen sich als Lernende auf dem Gebiete des Menschlichen.
Den Gottlosen, also denen, die nichts davon wissen, was Menschlichkeit ist, denen stellen wir unseren menschlichen Gott entgegen! Denen sagen wir – Wir lernen vom Kind in der Krippe, was heißt Mensch zu sein!
Vergessen wir nicht, Gott fing ganz klein an, als Kind in der der, nun, zu Weihnachten 2015 fängt er ganz klein bei mir an!
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Die heilsame Gnade - Predigt zu Titus 2,11-14 von Ralf Hoburg
Die heilsame Gnade
Die knappen Worte sind oft die eindringlichsten und wirklich bewegenden Worte. Oft benötigen sie keine großen Gesten, Umständlichkeiten oder das sprachliche Spiel über drei Ecken und Banden. Sie kommen zur Sache. Bewegende Worte sind schnörkellos. Eine Zigarette im Mund, das Gegenüber mit dem Blick fixiert und dann in klarer Sprache das richtige Wort zur rechten Zeit. Nicht beschwörend, kein Stück moralisch, aber aufklärerisch und klar. So hat der in diesem Jahr verstorbene Altbundeskanzler Helmut Schmidt oft gesprochen und es ist seltsam, dass ich beim Stillen Lesen dieser Verse aus dem heutigen Predigttext Titus 2,11-14 innerlich die Stimme von Helmut Schmidt höre und ihn buchstäblich im Sessel wie bei seinem letzten Interview sitzend vor mir sehe. Ich weiß nicht, ob er diesen kleinen Text aus der Bibel überhaupt kannte und ob er ihn hätte mögen können, aber der Duktus dieses Textes, seine Widerspenstigkeit und Klarheit bilden eine gewisse Verbindung zwischen dem Text und ihm. Vielleicht ist es die innere Spannung zwischen Zeitdiagnose, Weltdeutung und eigener Glaubenshoffnung, die diese Brücke für mich baut. Jedenfalls regt diese für mich beobachtbare geistige Verwandtschaft dazu an, den aufklärerischen Impetus des Textes zu finden und die Klarheit herauszufiltern, die auch für manche wissenschaftlichen Bibelauslegerinnen und Bibelausleger in den Worten stecken. Jedenfalls ist der Text schon wegen seines Charakters als Teil eines Briefes ganz anders als die traditionelle Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium, die vollkommen erzählerischer und zugleich epischer Natur ist. Aber der Text aus dem Titusbrief unterscheidet sich auch von den klassischen Texten aus den Paulusbriefen und ganz und gar anders ist er im Gegenüber zu manch prophetischen Texten, die in Bezug auf das Christusgeschehen zu Weihnachten eher weissagenden Charakter haben. Der Text ist spröde, sachlich formuliert, aber mit innerer Angespanntheit und Beteiligung. Er stellt ein Bekenntnis ohne Pathos dar.
I) Die zwei Pole des Lebens
Liest man über den Text klassische Auslegungsliteratur, so taucht immer wieder die Konzentration auf die Frömmigkeit auf. Es ist der eher christliche Blickwinkel, der das Augenmerk gleich schnurstracks in Titus 2,12 auf den Halbsatz „recht und fromm in dieser Welt leben“ fallen lässt. Wohl davon ausgehend mahnt ein anderer Ausleger in seinem Text von vor ca. 18 Jahren davor, den Text als Pfarrerin oder Pfarrer nicht zu missbrauchen und die spezielle weihnachtliche Kasualgemeinde, die zu später Stunde besonders wegen der musikalischen Gestaltung der Christmette zusammenkommt zu belehren, angriffslustig über Konsumismus zu predigen und so zu verprellen. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass der damalige Bischof einer großen evangelischen Landeskirche dann vorsichtig dazu aufruft darauf zu achten, wie denn der Prediger mit den vielen Gästen und den Erwartungen ihrer Hoffnungen und Illusionen zu Heilig Abend umgeht. Die Strenge dieses Textes mit seiner gewissen sachlichen Radikalität geht dabei indes verloren. Zu leicht lässt sich abdriften in ethische Gemeinplätze oder einer „Theologia gloriae“ folgend auf die Heilsamkeit der Gnade Gottes kommend. So gesehen könnte durchaus in der Gnade, die erschienen ist (Titus 2,11) der Rest des Textes untergehen und dann ist man schnell bei dem üblichen weihnachtlichen Erzählduktus. Die Gnade bestimmt durchaus den Text, aber nicht als erstes, sondern als zweites Argument, das antithetisch dem ersten entgegen gestellt wird.
Diese Strenge der Textpassage, die oft unterschlagen oder übergangen wird, resultiert aus einer klaren Analyse einer auf das diesseitige Leben konzentrierten Lebensführung. Der Titusbrief zieht in diesem Vers 12 die Konsequenz aus dem in Kapitel 2,1-10 beschriebenen Tugendkatalog, der für die christliche Gemeinde gilt. Für ihn verfügt das Leben über zwei extreme Pole, die es in der christlichen Existenz zu meiden gilt: Da ist einerseits das „ungöttliche Wesen“ des Menschen und andererseits die weltlichen Begierden, die gestillt werden wollen. Während der Apostel Paulus von der Sünde als dem Kennzeichen der menschlichen Existenz spricht, redet der Titusbrief von der Begierde bzw. der Gier. Damit legt der Briefschreiber in nachpaulinischer Zeit eine scharfe Analyse gesellschaftlicher Zustände vor, die durchaus in ihrer skizzenhaften Knappheit auch die heutige Zeit charakterisieren könnte. Vermutlich gilt diese radikale Kennzeichnung menschlichen Verhaltens in Extremform für Auswüchse in jedem Jahrhundert. Aber – so warnte Helmut Schmidt schon vor langer Zeit in einem Buch – lässt die Gier die öffentliche Moral verschwinden, womit er den Werteverlust der gesellschaftlichen Elite in Wirtschaft und Politik anmahnte. Das Leben zwischen „ungöttlichem Wesen“ und „weltlicher Begierde“ anzusiedeln, ist ein scharfes Wort in unsere Zeit hinein.
Das Wort Gier fällt in den letzten Jahren häufig, wenn es um die Analyse von Wirtschaftstheoretikern wie dem aktuellen Nobelpreisträger Angus Deaton geht. Die Gier, der Profit oder der Gewinn zählen unbezweifelbar zu den Antriebsfedern im menschlichen Wesen. Aber nicht allein. Vielmehr weiß die heutige Wirtschaftspsychologie auch, dass menschliches Verhalten auf Teilhabe und Gabe ausgerichtet ist. Dieser innere Dualismus im Wesen des Menschen wird auch in dem Text angesprochen, der auch von der anderen Seite des Lebens weiß, nämlich der Besonnenheit, der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frömmigkeit. Man würde vielleicht heute sagen: Der Sehnsucht nach dem guten Leben! Titus beschreibt also das Leben in einem Spannungsverhältnis zwischen Begierde und Frömmigkeit und er bringt diese innere Spannung in Zusammenhang mit Gott. An dieser Stelle wird der Text äußerst interessant und für die Gegenwart von Bedeutung. Denn die Zügelung des Menschen zwischen Gier und der Ungöttlichkeit – oder mit Paulus gesprochen – der Sünde erfolgt durch die „Zucht“, die von Gott ausgeht. Dieses strenge Wort „Zucht“, das in der Lutherbibel verwendet wird, hat im griechischen Text eher die Bedeutung von erziehen oder auf etwas hin bilden.
Jetzt kommt zum ersten Mal die Gnade ins Spiel, denn sie ist – bleibt man in dem Bild und beachtet auch die Grammatik des Textes – der „Zuchtmeister“, d.h. die Gnade hat einen modern gesprochen erzieherischen bzw. pädagogischen Charakter. Für heutige Ohren klingt das eher verstaubt und unmodern. Wieso soll die Gnade zu einem Instrument der Erziehung werden? Letzten Ende löst sich das Rätsel von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus her. Dann aber wird auf Umwegen die Weihnachtsbotschaft doch zur geheimen Mitte des Texts Titus 2,11-14, der ja so auf den ersten Blick gar nicht weihnachtlich ist.
II) O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit…“
Das uns allen bekannte und vertraute Kirchenlied von Johannes Daniel Falk (EG 44) setzt die Erkenntnis des Titusbriefes in Musik und Melodie um. Die Geburt Jesu Christi versteht die biblische Tradition und mit ihr die Theologie und die christliche Frömmigkeit als Heils- oder Gnadenzeit. So deuten die Evangelien und der Apostel Paulus in seinen Briefen aus der Perspektive der Auferstehung und von Kreuz und Ostern aus das Leben und Sterben Jesu Christi als Offenbarung. Verwendet die Bibel den Begriff der Gnade, so wird darin ein Doppeltes ausgedrückt: Der in der Krippe liegende Jesus von Nazareth ist einerseits Ausdruck der Offenbarung Gottes und mit dieser fundamental neuen Zuwendung Gottes zum Menschen, die sein Bekenntnis zum Volk Israel nicht überwindet, sondern fortsetzt, hat sich andererseits für den Menschen gleichzeitig etwas fundamental Neues ereignet. Die Gnade geht von Gott aus, er ist der Aktive und diese Aktivität übt eine Wirkung auf den Menschen aus. Aus diesem Grund formuliert der Titusbrief im heutigen Predigttext, dass die heilsame Gnade Gottes allen Menschen erschienen ist. (Titus 2,11) Zwei Worte lassen hier sofort aufhorchen und befremden uns teilweise auch wiederum: Dass die Gnade als „heilsam“ beschrieben wird, macht deutlich, wie die Wirkung der Gnade zu verstehen ist. Die Gnade wird – aus christlicher Perspektive – zu einem Zustand des Lebens. Die christliche Existenz, die immer auch Glauben beim Einzelnen voraussetzt, wird wie Paulus es oft beschreibt eine Existenz unter der Bedingung der Gnade. Der Reformator Martin Luther leitet aus dem Begriff der Gnade die Tatsache der Rechtfertigung ab. Das berühmte Lutherlied „Vom Himmel hoch da komm ich her“ (EG 24), das jedes Jahr zu Weihnachten auf der „Top 10“ der Kirchenlieder steht, übersetzt die Rechtfertigungsbotschft in die Volkssprache eines Liedes. „Er ist der Herr, Christ, unser Gott,/ der will euch führ aus aller Not,/ er will eu’r Heiland selber sein,/ von allen Sünden machen rein“. Die Wirkung der Gnade ist also die Rechtfertigung des Menschen. Und nun wird auch innerhalb des kleinen Textes Titus 2,11-14 die logische Verbindung der Verse 11 und 12 deutlich. Nur der Mensch, der sich im Glauben der Gnade Gottes teilhaftig weiß, der versteht warum die Gnade zum pädagogischen Zuchtmeister wird, um sich von dem „ungöttlichen Wesen“ und den „Begierden“ des Lebens zu verabschieden. Damit ist aber nicht ein grundsätzliches Leben im Verzicht gemeint, wie irrtümlicher Weise etwa Teile des Pietismus annahmen. Es geht nicht darum, andächtig und fromm zu leben. So ist der Aspekt aus Titus 2,12 und der Ruf nach Frömmigkeit und Rechtschaffenheit eine Folge von Gnade und nur begrenzt eine religiöse Leistung. Der Mensch kann durchaus kräftig sündigen, wie Luther hin und wieder bemerkte, aber: die Offenbarung macht klar, wo die „Glocken“ in der Welt läuten, nämlich nicht in der Gier nach dem weltlichen Utopia.
Und ein wenig befremdlich – zumal in einer sich radikal kulturell wandelnden Welt – ist zugleich eine kleine Bemerkung in dem Text, dass eben diese heilsame Gnade „allen Menschen“ zu Teil wird. In diesem Anspruch der Universalität der Gnade Gottes liegt durchaus ein Stachel inmitten einer Gesellschaft, die sich als religiös plural, vielseitig und offen versteht. Wir feiern zwar traditionell das Weihnachtsfest am Heiligen Abend, aber wir wissen zugleich, dass wir keine christliche Mehrheitsgesellschaft mehr sind, dass Juden, Muslime und Anhänger asiatischer Religionen ebenso in unserer Gesellschaft leben. Kann da gelten, was der Text behauptet: die heilsame Gnade Gottes ist allen Menschen erschienen? Werden darin nicht Anhängerinnen und Anhänger anderer Religionsgemeinschaften vereinnahmt? Ich denke, dass in heutiger Perspektive hier ein „sowohl als auch“ gilt: Religion hat immer auch den Anspruch auf Heil und Erlösung. Insofern steckt in jeder Religion durchaus ein „fundamentaler“ Gedanke. Der christliche Gedanke der Offenbarung verweist auf die Hoffnung der Herrlichkeit, wie Titus 2,13 betont. Auch der jüdische Glaube hofft auf die Wiederkehr Jahwes und der Islam betont nicht minder den Gedanken der Erlösung. Die großen Religionen vereint das Wissen um die Erlösungsbedürftigkeit der Welt.
III) Weihnachten – Fest der Religionen
Wenn am Heiligen Abend viele Menschen – und wahrscheinlich nicht nur Christinnen und Christen – in die mit Kerzen erleuchteten Kirchen gehen, dann sind ihre Gedanken und Gefühle wahrscheinlich fernab all dieser theologischen Spitzfindigkeiten und Argumentationen. Weihnachten ist das Fest der Geburt Jesu von Nazareth. Der Titus-Brief bezeichnet es als die Hoffnung auf die Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus. (Titus 2,13) Dieser Heiland wird in der christlichen Tradition als der „Erretter“ beschrieben. An dieser Stelle wird der Predigttext ganz hymnisch und weist über sich hinaus, indem der Briefschreiber die ganze biblische Tradition zu Zeugen nimmt. Er bezieht sich in V. 14 ganz bewusst auf den Hymnus aus dem Philipper-Brief und bekennt, dass der Tod am Kreuz ein Opfer darstellt, das der Erlösung des Menschen diente. Wenn also am Heiligen Abend der Geburt des Heilandes in Gebet, Predigt und nicht zu vergessen in der Musik gedacht wird, dann schwingt bei aller Rührseligkeit der Krippen-Ästhetik mit Engelchen auch immer diese schonungslose Radikalität der Kreuzes-Botschaft mit. Das Kind in der Krippe ist identisch mit dem Mann am Kreuz und wieder wird deutlich, dass beides Wirkung auf den Menschen hat.
Weihnachten macht in Einem klar: Offenbarung – Gnade und Erlösung zielen auf den Menschen und vor allem darauf, dass ihm ermöglicht wird, anders in der Welt zu leben. In dieser Hinsicht wird Weihnachten über den engen christlichen Rahmen hinaus ein Fest aller Religionen, ohne damit gleichzeitig Gläubige anderer Religionen vereinnahmen zu wollen. Indem das Kerzenlicht von dem Geschehen der Krippe auf die Gesichter der Menschen strahlt, wird der Sinn aller Religionen klar: Es geht um die Botschaft und Erkenntnis der Erlösung. Diese Erkenntnis eint die Religionen. Die Wege dorthin, von der Theologie bis hin zur Frömmigkeit mögen unterschiedlich sein, doch eint sie die Erkenntnis um die Sehnsucht nach Erlösung. So gesehen mag es befremdlich sein, aber könnte doch gerade das Weihnachtsfest ein Fest der Religionen sein – unabhängig von christlichem Bekenntnis. Vielleicht ist das noch Zukunftsmusik, aber bedarf eine Gesellschaft im Wandel nicht auch einer Erneuerung ihrer religiösen Festkultur? Dann wäre der Satz des Titusbriefes recht gesprochen, dass die heilsame Gnade allen Menschen erschienen ist (Titus 2,11). Weihnachten macht klar: es geht um die Erlösung und die heilsame Gnade. Und da ist es fehl am Platze zu spekulieren, wer denn nun den „bessern Gott“ hat. So spricht bei Gotthold Ephraim Lessing der Protagonist Nathan der Weise die Worte: „Wenn hat, und wo die fromme Raserei, den bessern Gott zu haben, diesen Bessern der ganzen Welt als besten aufzudringen, in ihrer schwärzesten Gestalt sich mehr gezeigt, als hier, als itzt? Wem hier, wem itzt die Schuppen nicht vom Auge fallen… doch sei blind, wer will!“ Ohne fromme Raserei der Religion nach dem „bessern Gott“ könnte in der Welt mehr Frieden sein, würde die französische Zeitungsredaktion Charlie Hebdo auch heute ihre Arbeit weiter tun, wären die religiösen Attentate von New York, London und jüngst Paris überflüssig und wäre Flucht nicht der letzte Ausweg.
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Predigt zu Titus 3,4-7 von Rainer Kopisch
Liebe Gemeinde,
ich möchte ihnen eine Predigt aus dem Titusbrief im dritten Kapitel, in Vers vier bis sieben lesen. Stellen sie sich bitte vor, es sei eine Predigt zum ersten Weihnachtstag:
„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands,
machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist,
den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland,
damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.
Diese Predigt zeigt uns in einem einzigen Satzgebilde das Geschehen der Liebe des dreieinigen Gottes zu uns Menschen. Wir erfahren alles, was für uns zu wissen wichtig ist, um auf ewig an seinem Leben teilzuhaben.
Wenn mich eine Predigt berührt, und mein Herz offen für die Liebe Gottes ist, stellt sich eine Bereitschaft ein, das eigene Leben und das Leben der Menschen um mich herum aus der gegenwärtigen Erfahrung heraus neu anzusehen und zu bedenken.
Es gibt dazu keine Rezepte, denn es geht nicht darum, etwas zu machen, sondern etwas geschehen zu lassen.
Dieses Geschehen kann ich nur staunend beobachten und erleben. Ich werde darauf aufmerksam, dass ich das wachsende Geschehen in dem Maß beeinflussen kann, in dem ich mich öffne. Ich erlebe, was es heißt, das Herz zu öffnen. Mögliche Ängste und Unsicherheiten werden weniger und mein Vertrauen in Gottes Gegenwart wächst.
Die Veränderungen werden sich unmittelbar im Alltag meines Lebens wahrnehmen können. Ich werde aber den Zuwachs an innerer Kraft spüren, den zunehmender Glaube, zunehmende Hoffnung und wachsende Liebe mit sich bringen.
Am Schluss unserer Predigt aus dem Titusbrief steht das Wort Hoffnung. Es ist hier - wie Rudolf Bultmann bemerkte - von der jüdischen eschatologischen Tradition beeinflusst und bedeutet darin das Warten auf die endzeitliche Zukunft. Andererseits aber gehört Hoffnung in den Zusammenhang mit Glauben und Liebe in den inneren Wachstumsprozess, den wir gerade verfolgt haben.
Wir können uns als Christen, in denen Gottes Liebe als wachsende Kraft lebendig ist, heilsam in die Lösung vieler Probleme einbringen, die gegenwärtig die Menschen um uns herum betreffen.
Auch wenn die Flüchtlinge bei uns aus anderen Traditionen stammen und andere Religionen haben, werden wir unsere Entscheidungen und unser Handeln in die Liebe Gottes stellen, die allen Menschen zukommt.
Glaube wächst. Das ist uns nicht neu.
Wie und wohin er aber wächst, liegt in unserer persönlichen Verantwortung. Die Nahrung für den Glauben sind keine sogenannten guten Gründe. Er ist auch nicht lehrbar. Wir können zwar den Kleinen Katechismus Dr. Martin Luthers auswendig lernen, aber Einsichten und Schlüsse aus den Texten können wir nur auf Grund von eigenen Erfahrungen ziehen. Gute Ratschläge und Begründungen ersetzen nicht die Selbsteinsicht, die sich aus unseren Erfahrungen speist.
Unser Glaube nährt sich allein aus den Erfahrungen. Ich zitiere gern den Dichter Wilhelm Busch mit einer Einsicht von großer Tiefe:
„Glaube hat Ursachen, aber keine Gründe.“
Eine der Ursachen für unseren Glauben ist die, die die Kurzpredigt aus dem Titusbrief nennt:
Das Erscheinen der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes.
Eine weitere Ursache ist das Tun Gottes: Er macht uns selig nach seiner Barmherzigkeit durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes. Das erinnert zwar an die Taufe, es meint aber das Geschehen des Heiligen Geistes durch das reinigende Bad seiner Wiedergeburt und Erneuerung in uns.
Es geht an Weihnachten zwar vordergründig um die Geburt Jesu, das Heilsgeschehen, das Ursache für unseren Glauben ist, spannt sich von seiner Geburt bis zu seiner Auferstehung und unserem Leben mit Gott in Ewigkeit.
Einer der Zeugen für das innere Wachstum eines Christen wurde am 25. Dezember 1624 in Breslau geboren:
Johann Scheffler, auch unter Angelus Silesius bekannt.
In seinem Cherubinischen Wandersmann von 1675 finden wir im ersten Buch die Nummer 61 mit der Überschrift „In dir muß Gott geboren werden“ den Reim:
Wird Christus tausendmal zu Bethlehem gebohrn /
Und nicht in dir; du bleibst noch Ewiglich verlohrn.
Diese barocken Verse beschreiben in ihren Worten sehr fordernd die Notwendigkeit des inneren Wachstumsprozesses, den ich im Anschluss an die Worte des Titusbriefes andeutend zu beschreiben versucht haben. Entsprechende Verse hat der Mystiker Angelus Silesius auch zu weiteren Stationen des Lebensweges Jesu Christi geschrieben, jeweils eben in der Aufforderung sie in uns geschehen zu lassen.
Wir Protestanten verschenken viele Möglichkeiten, unseren Glauben beim Wachsen zu erleben, wenn wir Erfahrungen von Spiritualität bewusst aus dem Weg gehen. Allerdings geschieht Spiritualität in uns, ohne das wir uns der Tatsache bewusst werden müssen.
Trauen sie Gottes barmherziger Liebe viel zu, er wird sie nicht enttäuschen.
Noch ein guter Rat von Angelus Silesius aus dem genannten ersten Buch Nr. 82
Halt an wo lauffstu hin / der Himmel ist in dir:
Suchstu Gott anders wo / du fehlst Ihn für und für.
Ich wünsche ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest mit Freude über Gottes Tun in ihrem Herzen und in ihrem Leben.
Amen
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Dazwischengezwitschert - Predigt zu Titus 2,11-14 von Dörte Gebhard
"Dazwischengezwitschert"
Liebe Gemeinde am Heiligen Abend,
die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist innen hohl.
-
Obwohl sie randvoll ist, nein, überfliesst vor lauter Erfüllung: Gott kommt zur Welt.
Endlich!
Schon wieder?!
Endlich wieder!
Die Weihnachtsgeschichte ist innen hohl.
Obwohl sie alles hat, was Augen, Ohren, Nasen und Herz begehren:
Sternenglanz und himmlische Musik. Heute sind besonders die Flöten der Hirten neu zu uns vorgedrungen.
Sie hat duftendes Heu und Stroh im Stall, erzählt die Bewahrung nicht erst im letzten Moment - Bewahrung schon im ersten Moment des Lebens, bei der Geburt.
Die Weihnachtsgeschichte des Lukas, so wie wir sie eben gehört haben, ist dennoch innen hohl. Und sie bleibt es auch!
Wir werden sehen, dass ist sehr gut so!
Anders ist es nicht zu erklären, dass doch noch jede und jeder in dieser Geschichte all seine Weihnachtserlebnisse aufgehoben weiss. Diese Geschichte ist unser individuelles und gemeinsames Gedächtnis für alles, was wir mit Weihnachten verbinden: herrlich-selige Erinnerungen und herbe Enttäuschungen, himmlische Harmonien und irdische Streitereien um Kleinkram, nicht nur nach dem Motto: "Früher war mehr Lametta!"
Beides ist aufgehoben: Die überwältigenden Erlebnisse - Licht von tausend Kerzen in der Kirche und die entscheidenden Details: Immer musste an der Lichterkette für den Baum daheim am Morgen des Heiligen Abends noch gelötet werden! Der Draht war brüchig, eine neue Kette aber gab es nicht zu kaufen.
Der Lötkolben wurde in der engen Küche aufgebaut und versperrte allen alle Wege, besonders der Mutter, die vorkochen wollte. Alles sollte doch fertig sein bis zum Einsingen für den Chor. Und dann: Es begab sich aber zu der Zeit ... all das begab sich seit frühesten Kindertagen!
Die lange, christliche Geschichte, was sich seither alles begab zu den Zeiten, nachdem der Kaiser Augustus ... ist innen hohl wie ein Haus, in das man hineingehen kann, in dem man sich bergen kann, in dem man geschützt ist vor den Unbilden der Natur, vor den Unbilden der menschlichen Kultur manches Mal auch.
Sie ist innen hohl für jeden Menschen, der geboren wird, neu - und kann immer wieder und immer neu und immer mehr gefüllt werden mit allen Weihnachtsgeschichten, die wir selbst erleben mit der Weihnachtsgeschichte.
Aber so viel Zeit ist nicht immer. So viel Zeit haben wir nur in der Heiligen Nacht.
Wir brauchen Weihnachten aber auch in den hektischen Momenten unseres Lebens, wenn kaum Zeit zur Besinnung bleibt. Auch dann soll es uns zu Ohren, Augen, Nasen kommen, soll es Herz und Hände rühren, dass Gott als Mensch zur Welt kommt.
Weihnachten muss man - auch - twittern können!
Twittern ist zu deutsch "Dazwischenzwitschern".
Man verschickt über eine Internetplattform, die 2006 erfunden wurde, enorm kurze Texte, die in Bruchteilen eines Moments öffentlich sind auf der ganzen Welt. Bei allen Menschen mit Internet, die es wissen wollen. Wenn man es regelmässig macht, wird daraus ein sehr öffentliches Tagebuch im guten, alten Telegrammstil.
Nebenbei: Natürlich, es wird entsetzlich viel Blödsinn getwittert!
(Aber wir werfen auch nicht alle Bücher fort, weil so viel Unfug schon gedruckt wurde ...)
Die Briefschreiber des Neuen Testaments hätten uns gleichwohl um diese Zwitschermöglichkeiten beneidet: Wie gern hätten sie mit einem Klick nicht nur die Nachricht, dass Gott Mensch wurde, in die Welt hinausgetwittert!
Wir sind ängstlich und skeptisch, wenn wir anschauen, wie es um den Datenschutz bestellt ist: "Twitter sammelt personenbezogene Daten seiner Benutzer und teilt sie Dritten mit." Aber den energischen Ersterzählern der Weihnachtsgeschichte hätte genau das am meisten gefallen, dass die personenbezogenen Daten gesammelt und Dritten mitgeteilt worden wären - ohne, dass sie sich darum hätten selbst kümmern müssen!
Es kommt eben immer auf die Nachricht an!
Sie hatten damals wirklich gute Neuigkeiten für die Welt.
Der Verfasser des Titusbriefes ist jedenfalls einer, der es in der Zwitscherkunst weit gebracht hat.
(Übrigens, lange bevor sie bei einem Kirchentag im 21. Jahrhundert drauf kamen, die ganze Bibel in 3908 Kurznachrichten zusammenzufassen und so einen Rekord aufzustellen.)
Wir wissen nicht mehr, wer es war, der den Titusbrief in die Welt setzte. Ein cleverer Typ muss es jedoch gewesen sein! Denn er nennt sich Paulus, weil er weiss, dass man mit diesem Absender etwas gilt in den ersten Netzwerken der jungen Christenheit. Er erkennt, wie man Aufmerksamkeit erlangt, eines der sehr kostbaren Güter, die wir Menschen haben und einander schenken können.
Er erzählt die komplette Weihnachtsgeschichte in 11 Worten. Das sind nur 70 Zeichen, bei Twitter wären 140 Zeichen pro Nachricht erlaubt. Wir können also nachher noch etwas ergänzen:
Denn die Gnade Gottes ist erschienen,
die allen Menschen Rettung bringt.
Das ist die kürzeste Weihnachtsgeschichte, die ich kenne, wie sie im 2. Kapitel des - wiederum sehr kurzen - Titusbriefes im Neuen Testament steht.
Denn die Gnade Gottes ist erschienen,
die allen Menschen Rettung bringt.
Diese dazwischengezwitscherte Weihnachtsgeschichte passt nun ganz genau in die hohle Geschichte des Lukas, auch wenn wir selbst schon ziemlich viele Geschichten aufgefüllt haben.
Die Gnade Gottes ist für alle Menschen erschienen.
Erinnern wir uns, was das heisst: für alle Menschen.
Denn wir hier in Schöftland und Umgebung, sind ganz besondere Leute, eine echte Minderheit, nicht nur zur Weihnachtszeit:
'Wenn wir Essen im Kühlschrank haben, Kleider am Leib, ein Dach über dem Kopf und etwas Schlaf in der Nacht, dann geht es uns besser als 75% der Menschen auf der Erde.
Wenn wir Geld auf der Bank und in unseren Geldbeuteln haben und wir irgendwo ein bisschen Kleingeld sparen können, dann gehören wir zu den reichsten 8% der Weltbevölkerung.
Wenn wir niemals den direkten Gefahren eines Krieges ausgesetzt waren oder der Einsamkeit der Gefangenschaft, der Qual der Folter oder den Schmerzen des Hungers, dann geht es uns besser als 500 Millionen Menschen.
Weil wir einen Gottesdienst besuchen können ohne Furcht vor Belästigung, Verhaftung und Ermordung, sind wir besser dran als so viele Menschen, deren wirkliche Zahl auf Erden nur Gott allein kennt. Manche schreiben, es seien drei Milliarden ...
Wenn jemand auch eben nicht singen konnte, weil er oder sie erkältet ist, in der Nase, im Hals oder gar an der Seele, so konnte er doch den Text im Gesangbuch mitbeten und ist nicht einer der 780 Millionen Menschen dieser Welt, die Analphabeten sind und nicht lesen können.'[1]
Weihnachten ist für alle Menschen da. Gott wird Mensch für alle Menschen.
Können wir uns das vorstellen?
'Wir schaffen das!'[2]
Wir nehmen dazu noch einmal die hohle Geschichte des Lukas und füllen sie - nur für einen Moment - mit unserem 'Gezwitscher' aus dem 21. Jahrhundert:
Maria und Josef hatten keinen Kühlschrank. Ihnen wäre ein Kühlschrank nur lästig gewesen. Kein Esel hätte auch einen Kühlschrank so weit transportiert! Kleider hatten sie am Leib und Windeln für das Neugeborene, ein Dach über dem Kopf fanden sie nach langer Suche, Schlaf in jener Nacht ganz sicher nicht, aber auch heutzutage wird in Kreisssälen nicht geschlafen. Und bald darauf kann wenigstens Josef schon wieder träumen, also auch schlafen, wohlmöglich schnarchen, um wilde Tiere zu vertreiben.
Über Geldvorräte oder gar Sparbücher der jungen Familie wird nichts Aufschlussreiches gesagt, dass sie viel sparen konnten, bezweifle ich.
Steuern waren damals lebensgefährlich hoch. Sie aber überleben es.
Den Schmerz des Hungers kannten sie gewiss.
Ob die Eltern Jesu lesen konnten?
Mord und Totschlag entgingen sie knapp durch ihre Flucht im letzten Moment.
Nun lesen wir wieder im Titusbrief, worauf es zu Weihnachten ankommt.
Natürlich ist es wieder im halben Twitterformat:
Sie bewegt uns,
uns von Gottlosigkeit
und irdischen Begierden loszusagen
Wieder sind es 70 Zeichen, wenn man hinten den Punkt weglässt.
Den Schlusspunkt sollten wir ehrlicherweise weglassen, weil wir damit ja noch lange nicht fertig sind, mit dem Lossagen von Gottlosigkeit und irdischen Begierden.
Im Titusbrief werden also Heilige Nacht und die Konsequenzen für alle darauf folgenden Tage dieser Welt bis an ihr Ende in 140 Zeichen zusammengefasst.
Mehr braucht es nicht, jedenfalls nicht, wenn es schnell gehen muss, wie so oft bei uns.
Liebe Gemeinde
Der Rest ist schnell erzählt.
Im Titusbrief wird weitergetwittert, wie die Vorfreude auf alles Gute von Gott über Weihnachten hinaus lebendig bleibt:
Die Gnade Gottes ist erschienen ...
aber:
Gleichzeitig warten wir darauf,
dass die Hoffnung in Erfüllung geht,
die uns glückselig macht –
und darauf,
dass die Herrlichkeit unseres großen Gottes
und Retters Jesus Christus erscheint.
Gott kam in die Welt und unsere Hoffnung auf ein gutes Ende lebt, alle Jahre wieder und besonders zur Weihnachtszeit.
Dann können wir in der jetzigen Zeit
als besonnene und gerechte Menschen leben
und unseren Glauben ausüben.
Und so wollte er sich ein reines Volk erschaffen,
das ihm gehört –
ein Volk,
das nur darauf aus ist,
Gutes zu tun.
(aus Titus 2, Basisbibel 2012)
Besonnenheit und Gerechtigkeit sind und bleiben gefragt, in allen grossen und kleinen Entscheidungen für die Welt, für die Kinder, die in dieser Heiligen Nacht 2015 geboren werden.
Ein Volk sollen wir werden, das nur darauf aus ist, Gutes zu tun.
Nicht jeder einzelne soll es für sich allein versuchen, sondern alle miteinander, in grosser Gemeinschaft der sehr verschiedenen Kinder Gottes, sollen wir darauf aus sein, Gutes zu tun. Das ist die bleibende Herausforderung.
Heute schon feiern wir miteinander: Weihnachten auf der ganzen Welt.
Liebe Gemeinde
Nun warten Sie auf die grosse Zusammenfassung der langen, hohlen Weihnachtsgeschichte von Lukas und der Twitterweihnachtsnachricht im Titusbrief, auf die Zusammenfassung dieser Predigt, auf die Zusammenfassung der Weihnachtsbotschaft damals und heute, für Maria, Josef und uns, auch wenn wir ganz anders heissen.
Die Zusammenfassung lernte ich von einem koptischen Priester, Damian, der in Deutschland lebt und wirkt. Die Kopten in Ägypten und den Nachbarländern sind wohl seit 2000 Jahren und bis in die heutige Nacht die am meisten verfolgte Kirche der Welt.
Dieser beeindruckende Mensch, der sich in der langen Reihe der Märtyrer sieht, sagte:
"Lebe in der Welt, aber lass die Welt nicht in dir leben."
Wenn ich gleich "Amen." gesagt haben werde, hatte diese Predigt 11' 200 gedruckte Zeichen, das sind 80 Twitternachrichten.
Aber es genügt, die Zusammenfassung zu behalten:
"Lebe in der Welt, aber lass die Welt nicht in dir leben."
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne wie neugeboren in Jesus Christus. Amen.
[1] Sprachlich und inhaltlich überarbeitet; nach Norman Rentrop, 100 Zitate für 2016, Bonn u. a. 2016, Nr. 97.
[2] Ein vielgehörter und - auch in neuen Zusammenhängen - weiterverbreiteter Satz Angela Merkels zum Strom der Flüchtlinge im Jahr 2015.
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Predigt zu Titus 2,11-14 von Claudia Trauthig
Liebe Gemeinde!
I.
Endlich am Ziel!
Endlich ist es so weit.
Jetzt ist Heilige Nacht:
Gott kommt bei uns an - und auch wir sind angekommen:
Wir können die Schultern lockern,
tief durchatmen
und den Blick
-mit offenem Herzen-
frohgemut
nach oben und vorne richten.
Auch für dich und Sie ist Platz - in der übervollen Kirche.
Wir haben Raum in der Herberge Gottes –
und haben es gar nicht selber machen müssen.
Gott macht es - für uns.
Gott empfängt uns mit offenen Armen und macht sich uns klein –
damit aus der Furcht unseres Lebens die übergroße Freude seines Himmels wird.
„Große Freude“ verkünden die Engel - unabhängig von Festbraten und Geschenkeschlacht.
Überhaupt nicht angewiesen ist ihre Botschaft
auf das Abarbeiten adventlicher To-do-Listen, ausgefeilte familiäre Pläne oder exklusive Überraschungen.
Die Heilige Nacht ist und bleibt nicht angewiesen
auf jene Lokomotive, die sich „Vorweihnachtszeit“ nennt
und die nicht wenigen Angst macht,
weil sie mit ihrem wirklichen Leben -zwischen Furcht und Hoffnung im Advent- nicht zu tun hat.
Dass diese Nacht heilig ist, machen nicht wir, und wir können es auch nicht verhindern:
Nicht durch sich steigernde Anspannung in uns und um uns, nicht durch Konflikte im Großen und im Kleinen.
Nicht durch das Ringen um Fragen wie: „Sollen wir auch Soldaten nach Syrien schicken“ oder „Wer nimmt dieses Jahr eigentlich Oma am 24.?“
Heilige Nacht.
Sie ist da.
Uns geschenkt. In den Schoß gelegt wie ein Kind…
Wir bleiben geliebt und haben wieder nichts dazu getan.
Und so sitzen wir hier, atmen diese unvergleichlich vibrierende Stille, lassen unsere Sinne vom Heiligen umfangen, beleben.
Alle Jahre wieder und doch jedes Mal neu…
II.
Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.
Mit diesen alten, wohl- und volltönenden Worten, beginnt der Predigttext für den Heiligen Abend 2015, aus dem Titusbrief.
Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.
Damit ist auch Siegfried gemeint.
Mit seinen 76 Jahren hat Siegfried schon viele Weihnachten hinter sich. Am schönsten, so weiß er heute, waren die Jahre, als die Kinder klein waren. Mit Gisela und den Söhnen unter dem Weihnachtsbaum… Jetzt ist Gisela seit fünf Jahren tot, und Siegfried hat sich bis heute nicht daran gewöhnt. Den Kindern will er nicht zur Last fallen, die haben ihr eigenes Leben. „Feiert ihr man für Euch - und am zweiten Feiertag gehen wir essen.“ Am 4. Advent war er bei Nachbarin Hilde zum Kaffee geladen. An der Tür hat sie ihm wieder eine Dose mit Plätzchen geschenkt, aber diesmal gesagt: „Ich… bin Heiligabend auch zuhause. Die Fahrerei schaff ich nicht mehr. - Sollen wir nicht zusammen essen und dann in die Christmette gehen?“
Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.
Heilsame Gnade - auch für Jenny, 42. Nach einem „Wahnsinnsjahr“ in der Firma freut sie sich wie ein Kind auf Weihnachten. Sie wird ihr smartphone abschalten und das Tablet zu Hause lassen. „Wenn sie nicht aufpassen, droht Ihnen Burnout“, hat der alte, weise Mann neulich gesagt.
Jenny hat sich einfach bei ihrem Bruder und Familie eingeladen. Schließlich ist sie Patentante. Gemeinsam mit Ben will sie wieder Kind sein und nichts mehr erreichen. Jenny will Zimtsterne und (psst!!!) mal wieder Fleisch futtern. Sie will vergessen, dass sie eigentlich nicht mehr weiß, wo die Jahre geblieben sind. In die Kirche will sie auch, „auf jeden Fall“! Es tut gut, mal nicht an sich selber glauben zu müssen.
Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.
Linus, 11 Jahre alt, hat gar keine Zweifel daran. Klar ist Gott für alle, besonders die Kinder – oder nicht?
Linus freut sich jetzt auf die Geschenke, machen ja alle. Geschenke können spannend und wunderbar sein. Besonders dann, spürt Linus, wenn der innere Taschenrechner keine Rolle spielt. Wenn Mama nicht nachdenkt, ob das Geschenk von Tante Brigitte nicht eigentlich zu billig war... Geschenke sind wichtig, denkt Linus, aber nicht das Wichtigste. In der Reliarbeit schreibt er: „Wir sorgen uns alle (…), was wir verschenken, wie viel wir schenken, 10.- €, 20.- € oder 150.- €, aber das Einzigste, was wir schenken sollten - ist Nächstenliebe und Frieden.“
III.
Liebe Gemeinde, wie immer – die Kinder:
„Nächstenliebe und Frieden“!
Gottes heilsame Gnade kommt durch ein Kind in diese Welt und leuchtet bis heute am klarsten durch die Kinder dieser Welt.
Kinder wie Linus sind Sterne in unserer Nacht, weil ihre Herzen noch dem Stern folgen können:
„Nächstenliebe und Frieden!“
Davon spricht uns seit über 2000 Jahren die Weihnachtsgeschichte.
Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen, beginnt der Predigttext,
und wird dann ähnlich ernst wie Linus:
Und nimmt uns in Zucht,
dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden
und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben.
Besonnen, gerecht und fromm leben, liebe Gemeinde!
Nächstenliebe und Frieden!
Wie klingt das für Sie?
(…)
Für mich
klingt das eigentlich wunderbar, verlockend. Es klingt nach dem wahren und guten Leben, nach dem ich mich sehne. (Besonders an Weihnachten, aber eigentlich immer.)
Besonnen, gerecht und fromm.
Das klingt nach dem neuen Leben, welches mit dem Kind in der Krippe beginnt.
Nächstenliebe und Frieden – dafür hat Jesus doch gelebt und dafür ist er gestorben.
Wie zuerst Maria
mit den Hirten
und später Petrus und so viele
-Kinder, Frauen und Männer- durch die Jahrtausende…
möchte auch ich dieses Kind, Jesus, annehmen - und mit ihm leben.
Ich will nicht Herodes, Judas oder Pilatus sein…
und auch keiner der heutigen Feinde und Mörder Gottes: Denn überall da, wo ein Mensch Unmenschlichkeit erleidet, wo ein Kind vor Hunger schreit, misshandelt wird oder gewaltsam stirbt ,
wird dieses Kind, Gott selbst verraten, verletzt, gemordet.
Lasst uns da doch nicht mitmachen, nicht Herodes helfen und auch nicht Pilatus.
Mit den Hirten will ich ziehen, will auch meine Furcht von den Engeln verwandeln lassen - in Aufbruch und Freude:
um besonnen, gerecht und fromm zu leben - oder, wie es in einer modernen Übersetzung heißt: „als Menschen, die den Glauben ausüben“.
IV.
Zu üben haben wir, nicht wahr - liebe Gemeinde?
Leicht ist es nicht, die Engel zu hören, dem Stern zu folgen und dem Kind zu dienen.
Leicht ist es nicht –
in dieser unserer Welt 2015, die ja auch heute Nacht, so sehr wir es uns wünschten, nicht einfach innehält… Friede auf Erden!?
In dieser Welt gibt es Terror und soviel Unbegreifliches.
Es gibt Panik, Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit.
Es gibt Wirtschaftskriminelle, die scheinbar keine Skrupel kennen und solche, die sich an den Kriegen hier wie dort bereichern.
Es gibt die Herodesse, Pontius und Pilatus und die unbarmherzigen Wirte. Es gibt die leerstehenden Häuser und Wohnungen und Herzen, die sich nicht öffnen, immer noch nicht, für Nächstenliebe und Frieden.
Nächstenliebe und Frieden, besonnen, gerecht und fromm – das sind mehr als salbungsvolle Worte.
Das sind Worte mit Hand und Fuß, die Hirn und Herz fordern:
Da sind diese scheinbar zahllosen Menschen, die sich so sehr nach einer menschenwürdigen Zukunft sehnen, dass sie ihre Heimat (und alles, was dazugehört) verlassen, um irgendwie irgendwo anzukommen.
Wie das junge Paar vor über 2000 Jahren brauchen auch sie offene Arme und Gesichter, Gottes heilsame Gnade.
Ohne Unterschied schenkt ER sie nicht nur Siegfried und Jenny und Linus – sondern auch Izzet und Jarmel, und Ayla.
Wenn wir uns auf christliche Werte berufen und neu gründen wollen, dann ist der erste davon Gottes bedingungslose Liebe zum Menschen, wirklich zu jedem Menschen: Mann und Frau.
V.
Liebe Gemeinde,
wussten wir das nicht immer schon, im warmen Teil unseres Herzens? Wo sich das Kind einnistet?
Wir Christen haben kein Privileg. Auch nicht an Weihnachten.
Oder sagen wir präziser: Unser Privileg ist:
Vom Anfang bis zum Ende mit diesem Kind zu leben.
Wir sind berufen, vom Anfang unseres Lebens (als Getaufte) bis zum Ende:
Lebe mit diesem Kind, Folge ihm von Herzen!
Das können wir.
Frohgemut und getrost (lassen Sie es mich mit diesen alten Worten sagen).
Tag für Tag.
Denn wir dürfen uns sagen lassen, dass ER mit uns unterwegs bleibt.
Wir können vertrauen, dass diese Welt, ihr Glück und ihr Elend, nicht alles ist.
Wir dürfen hoffen, dass sogar mit unserem eigenen Tod nicht alles zu Ende ist.
Gott, der im Kind gekommen ist
und sich aufs Neue Raum schafft in meinem Herzen -
kommt wieder.
Dann öffnet sich die Pforte zwischen Himmel und Erde nicht nur einen Spalt, sondern vollkommen. Dann führt die Heilige Nacht in das ewige Licht.
Davon spricht zum Schluss auch der Predigttext:
13 (und) WIR warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus,
14der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.
Darum lassen Sie uns diese Gnade neu feiern und aus ihr leben,
heilsam für alle Menschen.
Lassen Sie uns unterwegs bleiben mit dem Kind.
Gemeinsam mit Linus, Jenny und Siegfried können auch wir „eifrig werden zu guten Werken“.
Für den Verfasser unseres Predigttextes ist das nicht schwer.
Auch für Linus nicht, der schreibt: „Mir ist es (Weihnachten) sehr wichtig, in die Kirche zu gehen. Wenn ich die Geschichte dann von Weihnachten höre, habe ich das Gefühl, dass ich neben der Krippe stehe. Mir geht es dann immer sehr gut.“
Wem es gut geht, für den wird es leicht, auch anderen gut zu sein.
Oder etwa nicht?
Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen
Amen.
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„Mir geht‘s mega-gut“ - Predigt zu Titus 2,11-14 von Jens Junginger
„Mir geht‘s mega-gut“
Die Weihnachtsgeschichte,
das ist die Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen,
Lässt sie doch den krassen Alltag der Welt
und die friedlich anmutende heile Beschaulichkeit
aufeinanderprallen und ineinanderfließen:
Härte und Sanftmut
Kälte und Wärme
Flucht und neue Heimat
Ablehnung und Annahme.
Die Weihnachtsgeschichte lässt uns eintauchen
und uns bei sich zuhause sein, bei Ochs und Esel, im Stall.
Sie holt uns her zu sich, zur Krippe hin.
Sie lässt uns dem hier und jetzt entfliehen.
Es ist schön, ein bisschen unwahr vielleicht, romantisch.
Das aber muss auch mal sein.
Wir wissen, dass die Wirklichkeit weder so war noch so ist.
Aber das lieben wir an ihr, an der Liebegeschichte Gottes mit uns.
So stillt sie unsere tiefe Sehnsucht – für einen Augenblick, für ein paar Stunden.
Und dafür sind wir ihr dankbar.
Welch‘ eine Gnade dass wir sie haben.
Mit dieser und in dieser Weihnachtsgeschichte
ist uns,
wie es in einem Brief an den Gemeindeleiter Titus auf Kreta, formuliert ist,
die Gnade Gottes erschienen.
Gottes liebevolle Zuwendung, ohne jede Vorbedingung
die allen Menschen Rettung bringt.
Rettung, inwiefern? Fragt man sich.
Rettung für mich? Für uns?
Wie und wo denn bitte?
Rettung!
Indem Gott die radikale Trennung aufgibt:
Ich, Gott, hier und ihr Menschen dort.
Zugegeben, manchmal wär‘s einem lieber es gäbe sie noch, diese Aufteilung. Dann könnte man sehr viel leichter sagen:
Mach du doch, greif ein, bring das Chaos in Ordnung, rette uns alle,
schaff Frieden.
Und man könnte auch sagen:
Wenn du nicht eingreifst, dann gibt’s dich halt nicht, fertig.
Die Gnade, die allen Menschen Rettung bringt, beginnt unscheinbarer, versteckter, kleiner.
In Gottes Entgegenkommen.
In dem Gott Mensch wird, niedrig und gering, ein Kind.
Wir können jenen dankbar sein, die diese Glaubenserfahrung uns weitergegeben haben.
Sie ist erwachsen, ja, erwachsen geworden,
Sie ist erst erwachsen aus dem Erleben der Hingabe jenes außergewöhnlichen Wanderpredigers und streitbaren Anwalt der Schwächsten,
aus dem Miterleben seines Todes, und der weiterhin kraftspendenden Präsenz, über seinen Tod hinaus, kraft der Auferstehung.
Da gingen den Menschen die Augen auf, rückblickend auch, für die Umstände und die Ereignisse um seine Geburt.
Das war der Anfang der Rettung. Der Anfang einer lange ersehnten Rettung vieler Menschen.
Sie begann in dem Gott uns Menschen entgegenkam.
Sie begann mit der Menschwerdung Gottes.
Und:
Gottes Entgegenkommen setzt sich fort
im Entgegenkommen der Menschen untereinander,
im überwältigend offenen Entgegenkommen unzählig vieler Menschen gegenüber anderen, die gerade nicht zuerst gefragt wurden:
Warum kommst du? Was bringst du mit?
Hast du ein Recht? Wie lange bleibst du? Was kannst du?
Und all das ereignet sich weit öfter, und weit unscheinbarer, als es uns angesichts der erdrückenden Bilder und Nachrichten bewusst und vor Augen ist. Im Kleinen aber in großer Zahl.
Ich denke an ein Ehepaar.
Für beide es eine echte Berufung eine Kultur der Gastlichkeit pflegen.
Sie kochen, sie kochen gut und fein. Sie bedienen gerne.
Sie wollen ganz bewusst Zufluchtssuchenden in ihr gehobenes Restaurant
einladen, so viel wie nun mal rein gehen
und einander auf Augenhöhe begegnen.
Gottes gnädiges Entgegenkommen ohne Vorleistung begegnet uns jedoch auch in den kleinen überraschend beglückenden Gesten des Alltags:
„Mir geht’s zur Zeit Mega-Gut“
sagt ein alter Bekannter über die Ladentheke hinweg
und strahlt einen an:
Dann fügt er nachdenklich hinzu: „Ja es war auch schon anders!“
Und er merkt, dass da beim Gegenüber etwas ankommt von seiner guten Stimmung und inneren Zufriedenheit.
Und dass er sie eben aus vollem Herzen empfindet.
Und wie er merkt, dass da offenbar ein Funke überspringt und etwas auslöst, was dem Gegenüber gut tut, da reicht er die Hand, einfach so.
Mit der stillen Aufforderung: Schlag rein, ich will dir was weitergeben.
Sein greifbares Entgegenkommen, diese Geste, das ist Ausdruck wohltuender und aufrichtender Gnade.
Der Gnade Gottes durch Menschen weitergereicht.
Es tut gut diese Gnade bisweilen in den kleinen alltäglichen, Selbstverständlichkeiten achtsam zu registrieren – für sich selbst.
In den strahlenden Gesichtern und ausgestreckten Händen einer Familie,
die unerwartet gezielt auf einen zukommt, um zu sagen:
„Wir sind hier vor kurzem neu hergezogen“.
Vorbehaltloses, freundliches Entgegenkommen, offen, neugierig, interessiert – ohne dass eine Vorleistung erbracht wurde.
Und so anders, als das, was man gewohnt ist.
Man merkt erst Stunden, Tage, Wochen später, wie einen eine solche Begegnung nachhaltig berührt hat.
Diese Gnade – so lässt uns der Schreiber des Titusbriefes wissen,
bewegt uns dazu,
uns von der Gottlosigkeit
und den irdischen Begierden loszusagen.
Liebe Heilig Abend Gemeinde,
entgegenkommende vorbehaltlose Zuwendung, die macht etwas mit einem.
Sie ist bewegt einen. Sie bewegt etwas beim Gegenüber und in einem selbst.
Wir haben in diesen Monaten an uns selbst erlebt wie durch die Menschen, die gekommen sind, etwas in den Köpfen und Herzen, in Bewegung gekommen ist, bei den Ankommenden und bei uns selbst.
Wir haben unsere eigene Lebenslage, unseren Lebensstil, unsere Ziele und Begehrlichkeiten, auch unsere soziale Sicherheiten, schlicht unseren Wohlstand ein bisschen mehr mit den Augen anderer Menschen zu sehen und zu sehen und zu begreifen gelernt.
Wir besitzen in diesem Land mehr als 5 Milliarden Kleidungsstücke, tragen aber fast die Hälfte davon gar nicht.
Reiner Überfluss.
Altkleidersammeln – kein Problem. Auch kein Verzicht.
Von diesen „irdischen Begierden“ wie es im Titusbrief heißt, können wir uns leicht lossagen und merken insgeheim, dass da irgendwas nicht stimmt.
Oder wenn ein junger Afrikaner beim Blick auf Schokoladenbilder unter den Weihnachtsbackrezepten plötzlich davon zu erzählen beginnt, wie übel und schmerzhaft sich das Ernten der Kakaobohnen real anfühlt und dass es ihm schwer falle diese Erfahrung zu vergessen.
Da beginnt man sich angestiftet durch den Briefschreiber vorsichtig zu fragen:
Welchen Göttern oder gottlosen Idealen huldigen und dienen wir?
Wovon müssten wir uns lossagen?
Man hält inne, weil es einem plötzlich die Augen öffnet für die Ursachen der globalen Wanderbewegung.
Zugleich sind wir über uns selbst überrascht.
Über das Engagement, die menschliche Zuwendung, inmitten einer vielgescholtenen Ego Gesellschaft, die nichts anders kennt, als sich ständig selbst zu optimieren.
Helfen uns Menschen aus teilweise vormodernen Gesellschaften bei uns selbst wieder zu entdecken, was verloren gegangen ist?
Was wir irgendwo in der Vergangenheit suchen, im Erzählen von früher
beim Trödler, im Blättern von Landlust-Magazinen?
Herzenswärme, Zusammenhalt, Menschlichkeit ?
Ja, es hat sich etwas bewegt in uns.
Die Frage nach dem Wesentlichen, was wirklich wichtig ist, die rückt wieder mehr in den Vordergrund.
Und lässt uns offenbar– wieder mehr – wie es der Briefschreiber ausdrückt
…. in der jetzigen Zeit
als besonnene und gerechte Menschen leben
und - unseren Glauben ausüben
Ja, auch das: Unseren Glauben ausüben.
Liebe Gemeinde,
Wer so schreibt, der hat einen Grund dafür.
Der Schreiber dieser Zeile nimmt offenbar wahr, dass die christliche Gemeinde auf Kreta, die Titus dort leitete, herausgefordert ist.
Und dem ist so: Sie ist herausgefordert ihren Glauben zu bewahren und auszuüben, weil es dort ganz unterschiedliche religiöse Strömungen gab und auch eigene religiöse Weltanschauungen.
Es war nicht ganz einfach für die kleinen jungen Christengemeinden da eine eigene Gewissheit zu finden und zu bewahren, was sie tatsächlich glaubten, was für sie galt, woran sie festhielten.
Den Glauben auszuüben, das Christsein leben, im alltäglichen Zusammenleben mit Zweiflern und Fragenden und Anhängern anderer Religionen und Ideologien, das fordert. Das fordert tatsächlich heraus.
Die Erzieherinnen in unseren Kitas könnten davon erzählen wie das ist.
Es fordert heraus sich selbst im eigenen Glauben gewiss zu sein. Denn nur so kann man den offen Fragenden, den religiös Verunsicherten, den Neugierigen und anders Gläubigen authentische und glaubwürdige Antworten geben, zum Beispiel auf die Frage:
Was feiert ihr da eigentlich an Weihnachten?
Oder, was ist gemeint mit dem viel zitierten „christlichen Abendland“?
Navid Kermani vermerkt in seinem Buch „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“: Viele Begriffe des Christentums sind im Alltag dieser Gesellschaft zwar noch da, „aber sie sind religiös entkernt“. Wir kennen vielfach ihren religiösen Ursprung und ihre Bedeutung nicht mehr.
Der Stellenwert der Religion, im privaten wie im öffentlichen Leben ist deutlich höher wie noch vor einigen Jahren. So gilt es die Reflektion über das Verhältnis der Religionen untereinander, verstärkt aufzunehmen und weiter zu treiben.
Einen kleinen Anfang haben wir in diesem Jahr beim ökumenischen Kirchentag gemacht.
Das gegenseitige Fragen, Verstehen, Aufklären, aber auch das Festhalten von Unterschieden und Gemeinsamkeiten wird fortzuführen sein.
Zugleich bedürfen wir auch einer biblischen Selbstvergewisserung.
Wie können wir teilen, was da in der Bibel steht?
Was lesen wir da, wie verstehe ich es, was verstehe ich nicht, was sagt mir die die Geschichte, was sagen mir die Erzählungen?
Können sie bei mir Impulse setzen, etwas vermitteln? Trost, Ermutigung, Hoffnung?
Die Bibel lädt ein in ihr zu lesen und mit ihr uns selbst zu lesen.
Im Brief an Titus und seine Gemeinde ist von Erwartungen und von Hoffnung die Rede:
13Gleichzeitig – so ist da zu lesen -warten wir darauf,
dass die Hoffnung in Erfüllung geht,
die uns glückselig macht –
und darauf,
dass die Herrlichkeit unseres großen Gottes
und Retters Jesus Christus erscheint.
„Ich werde die Hoffnung nie aufgeben, dass er freigelassen wird“ sagt Esaf Haidar, die Ehefrau des in Saudi Arabien inhaftierten Bloggers Raif Badawi“ und es gibt mir Kraft, dass mich so viele Menschen dabei unterstützen.(SZ)
Christlich gewendet heißt das :
Auf die Dauer gibt es Glaube und Hoffnung nicht ohne eine Gemeinschaft.
„Man muss sich vergesellschaften“ (Steffensky). Lassen Sie uns die Bilder, die biblischen Geschichten und die Lieder der Hoffnung teilen – ja vielleicht wieder mehr, deutlich mehr - um sie hören und singen zu können“ – so auch hier in dieser Kirche, heute, am Heiligen Abend.
Es sind die Bilder der prophetischen Visionen, der Geschichten, Gleichnisse, die unsere Hoffnung nähren und „an unseren inneren Bildern bauen“ können und an denen der Kinder.
Sie entfalten sich und lassen uns tatsächlich noch etwas erwarten, ja, wieder mehr erwarten
Sie mögen uns, nein, sie können uns aus der latenten Skepsis, dem immerwährenden Bedenkentragen oder der sprichwörtlichen wieder zunehmenden „German Angst“ befreien.
„Fürchtet Euch nicht“, heißt doch die Botschaft des heutigen Abends.
Lassen wir sie uns von Engelszungen zurufen und beherzigen.
Betrachten wir die weitere Lebensgeschichte des Neugeborenen im Stall zu Bethlehem, dann erkennen wir auch:
Lebensmut und Hoffnung kommt „nicht allein aus der begründeten Annahme des guten Ausgangs der Dinge.“(Steffensky)
Die Hoffnung ist immer brüchig. So wie die Lebensperspektive eines kleinen Menschleins, das da unter armseligen und recht hoffnungslosen ja, lebensbedrohenden Umständen das Licht der Welt erblickte.
Aber gerade das macht diese christliche, das macht unsere christliche Religion aus.
Das Leben Jesu, das im Stall beginnt und über die erfrischend, streitbaren und beglückenden Reden und Taten bis nach Golgatha reicht und Gottes konsequente Präsenz, gerade da, wo etwas zerbricht, brüchig ist, wo Gegensätze aufeinanderprallen, auch heute Abend,
wo die Finsternis erdrückt und doch das Licht aufflackert, wie bei „Gemeinsam statt einsam heute“ drüben im Gemeindehaus,
wo Leiden, Gewalt und der Tod an der Tagesordnung ist und doch auch wieder neues Leben erwacht und Friedenslichter entzündet werden.
Der, an dessen Geburt wir heute erinnern, die wir in der Weitergabe der Liebe untereinander feiern,
14Der – so schreibt der Briefautor –
hat sein Leben für uns gegeben.
So hat er uns von allem erlöst,
was aus der Gesetzlosigkeit entsteht.
Für uns gegeben, das heißt: Er hat sich hingegeben,
um Missstände, Not, Elend, Lieblosigkeit und Gewalt zu überwinden.
Das ist „ein wesentliches Charakteristikum unserer christlichen Glaubens“(Bedford-Strohm)
Das mag nicht jeder verstehen, nicht verstehen oder nachvollziehen können.
Aber der Weg, den Jesus ging, eben bis zu letzten Konsequenz, der eröffnet uns Christenmenschen - in aller Freiheit - die Chance selbst „Triebkraft für Veränderung“ (Bedford-Strohm) zu sein oder zu werden, Hass, Rassismus und Krieg entgegenzutreten und die unerträglich zunehmenden deutschen Waffenexporte anzumahnen und die weiter zunehmen Spaltung zwischen Arm und Reich nicht hinzunehmen.
Gott kommt uns entgegen,
auf der Herbergssuche,
im Stall,
in Gestalt der Hirten,
im Ruf des Engels,
und bringt Gegensätze und Lebenswelten zusammen.
Und so wollte er sich – wie der Briefscheiber formuliert
- ein reines Volk erschaffen,
das ihm gehört – ein Volk,
das nur darauf aus ist,
Gutes zu tun.
„Wir können das Kind
in der Krippe nicht fassen.
Wir können die Botschaft nur
wahr sein lassen“. (Goes)
Uns ist die Gnade Gottes erschienen.
Amen
Literatur:
http://www.zeit.de/2015/34/navid-kermani-christentum-kunst-unglaeubiges-staunen
http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/819312/
Heinrich Bedford-Strohm, Verantwortung aus christlicher Gesinnung, FAZ vom 7. Dezember 2015.
http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/gesellschaft-die-kraft-der-religion-13534053.html
Art.:„Nicht ohne meinen Mann“, SZ vom 16.Dezember 2015
Fulbert Steffensky, Das Haus, das die Träume verwaltet, 1998
Fulbert Steffensky, Wo der Glaube wohnen kann, 1989
Albrecht Goes, Wir suchen dich, in: Ein seltsamer Freudenmonat, (Hg. Fulbert Steffensky, 2011)
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Predigt zu Titus 3,4-7 von Michael Plathow
“Mächtig ist erschienen die Menschenliebe unseres Gottes”
1. Weihnachten - Wendezeit
Liebe Gemeinde der Weihnacht,
unser Weihnachtsfest meint einmal “Auszeit” -- “Auszeit“, angefüllt mit Sehnsucht nach Frieden in terrorbedrohten Tagen, nach Gnade in gnadevergessener Gesellschaft, nach Liebe in lieblosem Zusammenleben. Wir mit unseren persönlichen Erinnerungen freuen uns zusammen mit allen, die in Gemeinde und Zivilgesellschaft diese Festtage der Erholung und “seelischen Erbauung” genießen.
Weihnachten bedeutet zum andern “Wendezeit“; sie ist die heils- und kulturgeschichtliche Wende. Einst war es der römische Kaiser Marc Aurel, der noch im Jahr 274 eine allgemein geltende Verehrung der “unbesiegten Sonne”, “sol invictus” -- entsprechend zur göttlichen Preisung Kaiser Augustus als Hoffnungsträger des Erdkreises -- nun an der jahreszeitlichen Wintersonnenwende festlegte. Dieses Vorhaben durchkreuzend, feierten die Christen in Rom Jesus, den Heiland der Welt, als “wahre Sonne”, “verus sol”, in den Finsternissen der Welt. Im Jahr 354 bestätigte dann Papst Liberius Weihnachten als Fest der universalen Menschenliebe Gottes.. Ein frühmittelalterliches Gedicht (Sperrvogel 1190) besingt den, in dem sich die weihnachtliche Wende als die Zukunft der Menschheit vorausnehmende Sternstunde ereignet:
“Er ist gewaltig und stark,
der zur Weihnacht geboren ward.
Das ist der Heilige Christ”.
Diese Verheißung schallt als Freudenbotschaft aus dem Bibelabschnitt der heutigen Festtagspredigt; der Titusbrief, dem Apostel Paulus zugeschrieben, ruft um 130 die Gemeinden zur evangeliumsgemäßen Predigt und zum christlichen Leben im Alltag:
“Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig - nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit -- durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach der Hoffnung” (Tit 3,4 -- 7).
Gottes Liebe, konkret in der Menschwerdung Jesu Christi, wird verkündigt und gepriesen als Menschlichkeit, Menschenfreundlichkeit und Menschenliebe Gottes. Wende der Zeit. Zeitenwende.
Wende, Wechsel, Kehre, Veränderung, auch Brüche und Durchkreuzungen kennen wir im privat-persönlichen und gesellschaftlich-geschichtlichen Leben: die “kopernikanische Wende” in Astronomie und Philosophie mit ihren lebensweltlichen und weltanschaulichen Veränderungen, Paradigmenwechsel, Umwertungen. Auch sind da persönliche Damaskus- und Stotternheim-Erlebnisse, Durchkreuzungen und Kehren des Lebensweges wie etwa beim Altpräses Schneider und seiner Frau, “Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist”, oder bei so manchem Gründer von Hilfen für andere, bei denen ohne eigene Vorteile Reden und Tun glaubwürdig zusammengehen.
2. Wende durch Gottes Menschenliebe
Liebe weihnachtliche Festgemeinde,
das Weihnachtsevangelium verkündigt mit dem Titusbrief eine uns und unsere Mitwelt verändernde Wende, das neue Wirklichkeitsverständnis: Es ist erschienen die Menschenliebe Gottes in Jesus Christus machtvoll und universal. Gott wird Mensch. Der Ewige erscheint auf Erden. Gottes Liebe erfüllt ahnende Sehnsüchte und weitet freudige Hoffnungen von Menschen und Welt. Es ist die Liebe des dreieinen Gottes, der die Welt ins Dasein liebt, der Sünder bedingungslos annimmt als Person, frei rechtfertigt, der alles neu schafft, der da ist ganz konkret “als der dasein wird” für uns, für dich und mich (Ex 3, 14). Liebe erweist sich als Gottes verborgenes Wesen. Machtvoll schließt diese Liebe Gottes Recht ein und ist auf Gerechtigkeit gerichtet. Sie überwindet das, was Nicht-Liebe ist, vereint, was Hass trennt, schafft Leben und eröffnet neu Zukunft. Und wie Gott seine Schöpfung gutheißt, so mag er vorausgehend uns Menschen leiden, ist uns näher als wir uns selbst sind.
An Weihnachten zeigt der dreieine Gott, dessen innertrinitarisches Leben Liebe ist, die Tiefe seines Wesens: Liebe, eine Himmelsmacht; und der Himmel tut sich auf, kein “Schloss und Riegel dafür” wie im Himmel so auf Erden..
Diese Himmelsmacht erhält widerständisch die geschundene Schöpfung und die korrumpierte Menschheit, nimmt sie in ihren Wärmestrom und in ihr Kraftfeld; durch den heiligen Geist erschließt sie sich uns, wenn wir uns im Glauben öffnen. “Gottes Liebe verströmt sich und schafft Gutes” (M. Luther, Heidelberger Disputation (1518), These 28). So werden wir mit unseren kleinen Lebens- und Liebesgeschichten in Gottes große Liebesgeschichte hineingenommen.
Als Geheimnis der Weihnacht wird vom Evangelium verkündigt: Gottes Menschenliebe, machtvoll sich zurücknehmend, ist da im jüdischen Menschenkind im Viehtrog zu Bethlehem. Jesus von Nazareth nimmt teil an allem, was uns Menschen eigen ist: an der Gebrochenheit unserer Existenz, an Freude und Schmerz, an Angst und Tod; er gibt sich hin “für uns” am Kreuz und erscheint in der Auferstehung als Heiland der Welt zu Leben und Seligkeit und lässt uns teilhaben daran.
Christus, der Retter aus allem, was von Gott und seiner Liebe trennt, was als Macht der Sünde, des Bösen, des Hasses Leben zerstört und Zukunft verschließt, Christus, der Lebensretter, ist da.
3. Wende in unserem Leben
Liebe weihnachtliche Gemeinde,
Gott wird Mensch, uns Menschen zugute. So geschieht Gottes Liebesgeschenk, seine “heilsame Gnade für alle Menschen” (Tit 2, 11) bedingungslos und unverdient uns, wenn wir uns ihr öffnen; “von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade” (Joh 1, 16), wir, denen Gottes bejahend-anerkennendes “Wunderbar, schön, dass du da bist. Freude, dass es dich gibt” gilt. Das meint die Glaubens- und Lebensgewissheit des “kategorischen Indikativs” der immer schon von Gott in Jesus Christus Geliebten: “Du bist mein“, “ich habe dich in meine Hand gezeichnet” und wir in unsere Hand schreiben “Dem Herrn eigen” (Jes 44, 5). Von Gott geliebt, darum bin ich; mit Würde begabt durch den Mehrwert der Gnade im Urteil unseres Gottes, der Liebe ist, -- jetzt und für immer. Erinnern und Hoffen, als Gottes Zuschreibung und Erwartung leiten da unser Leben.
Jesus Christus, Gottes eingeborener Sohn, ist uns an Weihnachten Bruder geworden. Die Glaubens- und Geistgemeinschaft mit dem lebendigen Christus ist uns verheißen. Auch wir dürfen mit ihm, dem Sohn des Vaters, allein und in der Geschwisterlichkeit miteinander zu Gott “Abba”, “Vater”, sagen und anrufen im Gebet. Und im Abendmahl schenkt er sich uns und ruft uns als Getaufte in die Nachfolge. “Erben des ewigen Lebens” werden wir genannt, Menschen der Hoffnung, für die Leben mehr ist als “letzte Gelegenheit”, und die hier und heute “etwas sind zum Lob der Herrlichkeit Gottes” (Eph. 1, 12) in Dankbarkeit und Dienst.
In Gemeinde und Mitwelt werden wir als immer schon von Gott Geliebte Liebe leben, indem wir in der Liebe zum Anderen den ersten Schritt machen, vorausgehen.
So spiegeln wir auch nach Weihnachten im Alltäglichen durch gute Werke mit freundlichem Gesicht die Liebe Gottes in Jesus Christus wider. Weihnachten wird immer neu Advent, Ankunft, da, wo Jesus Christus als Flüchtlingskind uns in Asylsuchenden, Vereinsamten, Hilfsbedürftigen begegnet: Weihnachten vor uns; denn für uns gilt, dass heute und an jedem neuen Tag Christus uns gemacht ist “von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung” (1. Kor 1, 30). Mit Mathias Claudius gesprochen, an den wir im ausklingenden Jahr besonders gedachten: “Ich freue mich und danke Gott, wie’s Kind zur Weihnachtsgabe”, denn,
liebe Gemeinde der Weihnacht,
uns und allen Menschen ist der Heiland geboren. Mit der Botschaft des Titusbriefes wird uns dankbare Freude und gewisse Hoffnung verkündigt. Kommt, schmeckt hörend und sehend, wie menschenfreundlich unser menschlicher Gott ist.
Amen
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Predigt zu Titus 3,4-7 von Doris Gräb
Und der Engel sprach: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren.
(Predigttext)
Liebe Gemeinde, als dann die Engelsbotschaft verklungen, und der große Lobgesang der Himmlischen Heerscharen in den Lüften verweht war, - als der Himmel sich wieder verschlossen hatte, da wollten die Hirten sehen, was da geschehen ist.
Der himmlische Glanz hatte sie gewiss ein wenig geblendet, und der Lobgesang der Engel ihr Herz fast zu hoch schlagen lassen. Deswegen: zurück auf den Boden der Tatsachen, - die Geschichte sehen, die da geschehen ist, am liebsten mit den Händen greifen, mit dem Verstand begreifen.
Vielleicht wollen wir das jetzt ja auch. Im matten Hell dieses Weihnachtsmorgens zumindest ein wenig mehr ins Bewusstsein zu heben versuchen, was da geschehen ist. Leichter ist es allemal als im intimen Dunkel der gestrigen Nacht mit ihrem verzaubernden Lichterglanz, mit all den zu Herzen gehenden, froh machenden Liedern von der Gnaden bringenden Weihnachtszeit.
Sehen, was geschehen ist. - Nun, eigentlich wissen wir es doch, was die Hirten gesehen haben, nachdem sie ihre Herden verlassen und zum Stall geeilt waren. Das, was auch wir gestern Abend hoffentlich wieder gesehen haben: ein neugeborenes Kind, in Windeln gewickelt, wie alle Kinder. In einer erbärmlichen Behausung, wie unzählige andere Kinder, auch und gerade in unserem so fortschrittlichen, hoch entwickelten 21. Jahrhundert.
Und doch, doch haben die Hirten dann noch viel mehr gesehen, als sie schließlich an der Krippe standen. Mehr, viel mehr als ihre Augen sehen, ihr Verstand begreifen und ihre Hände fassen konnten. „Das habt zum Zeichen“. Auf diese Spur hatte sie schon der Engel geführt. Und tatsächlich haben sie dieses Kind dann als ein Zeichen verstanden. Als ein großes Hoffnungszeichen, für sich, für diese Welt. So erfüllt, so ergriffen waren sie, so verständig geworden, und so sehen auch wir sie jetzt vor der Krippe stehen. Offenbar hofften sie ja immer noch, dass es irgendwann anders, und besser werden würde, in ihrem eigenen Leben, und in der ganzen, von Krieg und Terror und Gewalt zerrissenen Welt. Dass sich ihre Sehnsucht erfüllen würde, nach Frieden, nach Sicherheit, nach einem guten Leben für alle Menschen.
Und nun verdichtete sich in diesem Kind, das da so armselig vor ihnen lag, mit einem Mal die Hoffnung ihrer ganzen Existenz: es wird doch alles gut mit unserem Leben! Es wird alles gut mit dieser Welt, die von Krieg und Terror, von Gewalt und Hass zerrissen ist. Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen.
Fast nicht zu fassen, was diese rauen Burschen da gesehen, gehört, mit dem Herzen verstanden und gedeutet haben. Vermutlich waren es ja gar keine besonderen Leute, diese Hirten. Nicht besonders angesehen, nicht besonders gebildet, nicht besonders einflussreich , nicht besonders mächtig und wahrscheinlich auch nicht besonders fromm. Und dennoch so verständig, im wahrsten Sinne des Wortes: in diesem Kind fängt es an, dass sich unsere Sehnsucht, unsere Hoffnung erfüllt, nach Frieden, nach Wohlstand, nach Glück, nach einem guten Leben für alle Menschen. Die Maler aller Zeiten haben die Hirten eben so gemalt, - wir sehen viele solcher Weihnachtsbilder jetzt vor unserem inneren Auge - vor dem Kind kniend, diese selige Gewissheit mit einem Mal in die harten Gesichter eingezeichnet.
Euch ist heute der Heiland geboren. Euch, die ihr auf den Feldern rings um Bethlehem eure Schafe hütet. Euch, die ihr eurer Arbeit nachgeht. Euch, die ihr eure Arbeit verloren habt. Euch, die ihr nicht mehr wisst, wo euch der Kopf steht vor lauter Arbeit und Anforderung. Euch, die ihr abgekämpft und müde seid. Euch, die ihr einfach keine Ruhe findet. Euch, um die es inzwischen viel zu ruhig geworden ist. Euch, die ihr auf den Flüchtlingsbooten ums Überleben kämpft. Euch, die ihr in den zerbombten Häusern von Aleppo alle Hoffnung aufgegeben habt. Euch in den Flüchtlingsunterkünften, die ihr zwar euer Leben gerettet habt, aber immer noch keine Lebensperspektive für euch und eure Kinder erkennen könnt.
Wer immer ihr auch seid, wo immer ihr auch lebt, wie gut oder wie elend es um euch steht: euch ist heute der Heiland geboren. Die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes - so drückt der Schreiber des Titusbriefes mit seinen Worten die Botschaft des Engels in unserem Predigttext aus – diese Freundlichkeit ist euch, gerade euch, erschienen. So wahrhaftig erschienen, dass ihr euch selig nennen dürft.
Ein Hauch von Seligkeit: nicht wahr, gestern Abend spürten wir sie auch, ohne dass ich nun gleich das Klischee von den seligen Kinderaugen unter dem Lichterbaum bedienen müsste.
Eine Wärme breitete sich auch an diesem Heiligabend aus, und, als wäre eine wunderbare Kraft am Werk, fällt dann auch von hart gewordenen Herzen einem Mal ab, was sie sonst so bedrückt und belastet. Ein Hauch von Seligkeit: eins mit mir, mit Gott, mit der Welt. Gut ist das Leben. Gut, dass ich in dieser Welt bin. Gut, dass ich leben darf, so lange mir Gott noch Zeit schenkt. Ja, sie gibt es, diese Momente von Seligkeit, sie gab es, hoffentlich, gestern Abend. Und das hat mit Weihnachten zu tun, mit der uns erschienenen Menschenliebe Gottes; mit Gottes freundlichem Blick, der wiederum unsere Augen zum Strahlen bringt.
Nein, eben nicht Geld, nicht Macht und Besitz, nicht Ansehen und Einfluss, nicht Ruhm und Ehre regieren die Welt. Was die Welt im Innersten immer noch zusammenhält, das ist die Wärme, die wir Menschen uns geben können. Was unser Leben reich macht, ist das Gefühl, geliebt zu werden, sich mit anderen verbunden zu wissen, sogar mit den Fernen und Fremden, die, wie wir, Geschöpfe Gottes sind.
„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes, machte er uns selig.“ - Ja, so muss es gewesen sein, damals, in der stillen Nacht in Bethlehem, und gestern Abend, in unserer Johanneskirche, doch auch, ein wenig zumindest.
Und heute, im matten Hell dieses Weihnachtsmorgens, immer noch? Und morgen, übermorgen, im neuen Jahr, wenn uns die Sorgen, das Entsetzen über unsere geradezu aus den Fugen geratene Welt wieder einholen und uns auch im Schlaf einfach nicht mehr loslassen wollen?
„In der Welt habt ihr Angst“ - so sagt Jesus im Johannesevangelium. Ja, so ist es. Und in diesen Zeiten ganz besonders. Wir fühlen uns bedroht, mehr als sonst. Menschen, denen das eigene Leben nichts wert ist, machen uns unser Recht auf Leben streitig, verneinen nicht nur ihr eigenes, sondern auch unser Leben. Und bringen so unser ganzes Lebensgefüge ins Wanken.
Geradezu überrollt fühlen sich viele von uns von anderen Kulturen, die fremd und gefährlich erscheinen und die deswegen als Eindringlinge empfunden werden.
Was ist sie dann aber noch wert, die uns selig machende Botschaft von der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes? Was ist es dann noch mit Gottes freundlichem Blick, und wo bleibt dann unser freundliches Gesicht gegenüber unseren Nächsten in der Nähe und in der Ferne?
Gewiss, auf der Kanzel ist es so einfach, von der Botschaft von Gottes Menschenfreundlichkeit sogleich weiter zu verweisen, auf unser freundliches Gesicht, und deklamatorisch, imperativisch in diese bis in die Grundfesten verunsicherte Zeit hinein zu sprechen. Auf Parteitagen manchmal sogar auch.
Andererseits wissen wir doch sehr gut, wie zerrissen wir Menschenkinder sind. Hin- und hergerissen zwischen der Botschaft von Gottes freundlichem Angesicht - und unseren vor Angst verzerrten Gesichtern, auf denen sich kein freundlicher Blick zeigen will, weil diese Welt in unseren Augen womöglich auf eine finale Katastrophe zusteuert.
Nein, einfache Rezepte zur Lösung der Krisen in der Welt haben auch wir Christen nicht. Zumindest sollten wir uns davor hüten, sie leichtfertig hinauszuposaunen.
Und doch hören wir auch in diesem Jahr wieder die Weihnachtsbotschaft, und wir sollten froh sein, sie hören zu können, und sie aufmerksam bedenken und nachbuchstabieren. Die Botschaft, dass wir im Gesicht dieses wehrlosen, hilfsbedürftigen, des Schutzes bedürftigen Krippenkindes zeichenhaft die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes erkennen können. Das ist, ohne Zweifel, die Umwertung aller Werte.
Der Heiland, der Retter, die Rettung für diese von Krisen und Ungerechtigkeit geschüttelte Welt: ein nacktes, wehrloses Kind, das auf Liebe, auf Wärme, auf Freundlichkeit angewiesen ist - und das gleichzeitig so viel Liebe und Wärme verströmt, dass uns – und unzählige andere Menschen auch - sein Anblick selig zu machen vermag. So, wie wir es in diesen Tagen doch immer wieder erfahren, wo wir, mehr als sonst, Liebe geben - und empfangen dürfen. Wo wir es tatsächlich merken: es sind die Beziehungen, die unser Leben reich machen, und nicht Geld und Gut. Es ist die Liebe, die uns trägt, und nichts anderes.
„Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben.“ So haben wir gestern gesungen. So singen wir heute. Und spüren dabei mehr als sonst, inmitten aller Geschenke, dass das allergrößte Geschenk unser Leben selber ist, wunderbar - und zerbrechlich, kostbar - und zutiefst gefährdet, ein bleibend unergründliches Geheimnis. Und dass es die Liebe ist, die unsere Welt zusammenhält.
Das ist die frohe Botschaft inmitten allen Schreckens, gehört, aber nicht nur gehört, sondern als wirklich und wahr erfahren, und sei es nur für einige wenige Augenblicke. Und sie kann doch einfach nicht ohne Folgen bleiben. Dieses Kind, sichtbares, fassbares Zeichen dafür, dass unser Gott nicht droben über den Wolken hockt, sondern mitten in dieser Welt ist, und auch noch in erbärmlichster Umgebung, und uns gerade da sein menschenfreundliches Angesicht zeigt.
Wir erkennen ihn in den Gesichtern all der Mühseligen und Beladenen in unserer Zeit, auch wenn wir es manchmal kaum noch aushalten können, überhaupt noch in diese Gesichter zu schauen, und am liebsten schnell den Ausschaltknopf drücken würden. - So geht es mir zumindest. Aber wir müssen doch hinschauen, wo sie uns so erwartungsvoll anschauen, an den Grenzzäunen, in den Lagern, unter den Brücken in den Städten, auf den schwankenden Booten.
Und, so widersprüchlich es auch klingen mag, bei solchem Hinschauen kann dann Barmherzigkeit wie eine Waffe werden. So hat es die Chefredakteurin der amerikanischen Zeitschrift „Time“ vor kurzem formuliert. Nur diese, und keine andere Waffe wird es sein, die irgendwann den Frieden auf Erden und allen, wirklich allen Menschen ein Wohlgefallen ermöglicht.
O du fröhliche, o du selige, Gnaden bringende Weihnachtszeit!