Predigt zu Titus 3,4-7 von Doris Gräb
3,4-7

Und der Engel sprach: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren.

(Predigttext)

Liebe Gemeinde, als dann die Engelsbotschaft verklungen, und der große Lobgesang der Himmlischen Heerscharen in den Lüften verweht war, - als der Himmel sich wieder verschlossen hatte, da wollten die Hirten sehen, was da geschehen ist.

Der himmlische Glanz hatte sie gewiss ein wenig geblendet, und der Lobgesang der Engel ihr Herz fast zu hoch schlagen lassen. Deswegen: zurück auf den Boden der Tatsachen, - die Geschichte sehen, die da geschehen ist, am liebsten mit den Händen greifen, mit dem Verstand begreifen.

Vielleicht wollen wir das jetzt ja auch. Im matten Hell dieses Weihnachtsmorgens zumindest ein wenig mehr ins Bewusstsein zu heben versuchen, was da geschehen ist. Leichter ist es allemal als im intimen Dunkel der gestrigen Nacht mit ihrem verzaubernden Lichterglanz, mit all den zu Herzen gehenden, froh machenden Liedern von der Gnaden bringenden Weihnachtszeit.

Sehen, was geschehen ist. - Nun, eigentlich wissen wir es doch, was die Hirten gesehen haben, nachdem sie ihre Herden verlassen und zum Stall geeilt waren. Das, was auch wir gestern Abend hoffentlich wieder gesehen haben: ein neugeborenes Kind, in Windeln gewickelt, wie alle Kinder. In einer erbärmlichen Behausung, wie unzählige andere Kinder, auch und gerade in unserem so fortschrittlichen, hoch entwickelten 21. Jahrhundert.

Und doch, doch haben die Hirten dann noch viel mehr gesehen, als sie schließlich an der Krippe standen. Mehr, viel mehr als ihre Augen sehen, ihr Verstand begreifen und ihre Hände fassen konnten. „Das habt zum Zeichen“. Auf diese Spur hatte sie schon der Engel geführt. Und tatsächlich haben sie dieses Kind dann als ein Zeichen verstanden. Als ein großes Hoffnungszeichen, für sich, für diese Welt. So erfüllt, so ergriffen waren sie, so verständig geworden, und so sehen auch wir sie jetzt vor der Krippe stehen. Offenbar hofften sie ja immer noch, dass es irgendwann anders, und besser werden würde, in ihrem eigenen Leben, und in der ganzen, von Krieg und Terror und Gewalt zerrissenen Welt. Dass sich ihre Sehnsucht erfüllen würde, nach Frieden, nach Sicherheit, nach einem guten Leben für alle Menschen.

Und nun verdichtete sich in diesem Kind, das da so armselig vor ihnen lag, mit einem Mal die Hoffnung ihrer ganzen Existenz: es wird doch alles gut mit unserem Leben! Es wird alles gut mit dieser Welt, die von Krieg und Terror, von Gewalt und Hass zerrissen ist. Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen.

Fast nicht zu fassen, was diese rauen Burschen da gesehen, gehört, mit dem Herzen verstanden und gedeutet haben. Vermutlich waren es ja gar keine besonderen Leute, diese Hirten. Nicht besonders angesehen, nicht besonders gebildet, nicht besonders einflussreich , nicht besonders mächtig und wahrscheinlich auch nicht besonders fromm. Und dennoch so verständig, im wahrsten Sinne des Wortes: in diesem Kind fängt es an, dass sich unsere Sehnsucht, unsere Hoffnung erfüllt, nach Frieden, nach Wohlstand, nach Glück, nach einem guten Leben für alle Menschen. Die Maler aller Zeiten haben die Hirten eben so gemalt, - wir sehen viele solcher Weihnachtsbilder jetzt vor unserem inneren Auge - vor dem Kind kniend, diese selige Gewissheit mit einem Mal in die harten Gesichter eingezeichnet.

Euch ist heute der Heiland geboren. Euch, die ihr auf den Feldern rings um Bethlehem eure Schafe hütet. Euch, die ihr eurer Arbeit nachgeht. Euch, die ihr eure Arbeit verloren habt. Euch, die ihr nicht mehr wisst, wo euch der Kopf steht vor lauter Arbeit und Anforderung. Euch, die ihr abgekämpft und müde seid. Euch, die ihr einfach keine Ruhe findet. Euch, um die es inzwischen viel zu ruhig geworden ist. Euch, die ihr auf den Flüchtlingsbooten ums Überleben kämpft. Euch, die ihr in den zerbombten Häusern von Aleppo alle Hoffnung aufgegeben habt. Euch in den Flüchtlingsunterkünften, die ihr zwar euer Leben gerettet habt, aber immer noch keine Lebensperspektive für euch und eure Kinder erkennen könnt.

Wer immer ihr auch seid, wo immer ihr auch lebt, wie gut oder wie elend es um euch steht: euch ist heute der Heiland geboren. Die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes - so drückt der Schreiber des Titusbriefes mit seinen Worten die Botschaft des Engels in unserem Predigttext aus – diese Freundlichkeit ist euch, gerade euch, erschienen. So wahrhaftig erschienen, dass ihr euch selig nennen dürft.

Ein Hauch von Seligkeit: nicht wahr, gestern Abend spürten wir sie auch, ohne dass ich nun gleich das Klischee von den seligen Kinderaugen unter dem Lichterbaum bedienen müsste.

Eine Wärme breitete sich auch an diesem Heiligabend aus, und, als wäre eine wunderbare Kraft am Werk, fällt dann auch von hart gewordenen Herzen einem Mal ab, was sie sonst so bedrückt und belastet. Ein Hauch von Seligkeit: eins mit mir, mit Gott, mit der Welt. Gut ist das Leben. Gut, dass ich in dieser Welt bin. Gut, dass ich leben darf, so lange mir Gott noch Zeit schenkt. Ja, sie gibt es, diese Momente von Seligkeit, sie gab es, hoffentlich, gestern Abend. Und das hat mit Weihnachten zu tun, mit der uns erschienenen Menschenliebe Gottes; mit Gottes freundlichem Blick, der wiederum unsere Augen zum Strahlen bringt.

Nein, eben nicht Geld, nicht Macht und Besitz, nicht Ansehen und Einfluss, nicht Ruhm und Ehre regieren die Welt. Was die Welt im Innersten immer noch zusammenhält, das ist die Wärme, die wir Menschen uns geben können. Was unser Leben reich macht, ist das Gefühl, geliebt zu werden, sich mit anderen verbunden zu wissen, sogar mit den Fernen und Fremden, die, wie wir, Geschöpfe Gottes sind.

„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes, machte er uns selig.“ - Ja, so muss es gewesen sein, damals, in der stillen Nacht in Bethlehem, und gestern Abend, in unserer Johanneskirche, doch auch, ein wenig zumindest.

Und heute, im matten Hell dieses Weihnachtsmorgens, immer noch? Und morgen, übermorgen, im neuen Jahr, wenn uns die Sorgen, das Entsetzen über unsere geradezu aus den Fugen geratene Welt wieder einholen und uns auch im Schlaf einfach nicht mehr loslassen wollen?

„In der Welt habt ihr Angst“ - so sagt Jesus im Johannesevangelium. Ja, so ist es. Und in diesen Zeiten ganz besonders. Wir fühlen uns bedroht, mehr als sonst. Menschen, denen das eigene Leben nichts wert ist, machen uns unser Recht auf Leben streitig, verneinen nicht nur ihr eigenes, sondern auch unser Leben. Und bringen so unser ganzes Lebensgefüge ins Wanken.

Geradezu überrollt fühlen sich viele von uns von anderen Kulturen, die fremd und gefährlich erscheinen und die deswegen als Eindringlinge empfunden werden.

Was ist sie dann aber noch wert, die uns selig machende Botschaft von der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes? Was ist es dann noch mit Gottes freundlichem Blick,  und wo bleibt dann unser freundliches Gesicht gegenüber unseren Nächsten in der Nähe und in der Ferne?

Gewiss, auf der Kanzel ist es so einfach, von der Botschaft von Gottes Menschenfreundlichkeit sogleich weiter zu verweisen, auf unser freundliches Gesicht, und deklamatorisch, imperativisch in diese bis in die Grundfesten verunsicherte Zeit hinein zu sprechen. Auf Parteitagen manchmal sogar auch.

Andererseits wissen wir doch sehr gut, wie zerrissen wir Menschenkinder sind. Hin- und hergerissen zwischen der Botschaft von Gottes freundlichem Angesicht - und unseren vor Angst verzerrten Gesichtern, auf denen sich kein freundlicher Blick zeigen will, weil diese Welt in unseren Augen womöglich auf eine finale Katastrophe zusteuert.

Nein, einfache Rezepte zur Lösung der Krisen in der Welt haben auch wir Christen nicht. Zumindest sollten wir uns davor hüten, sie leichtfertig hinauszuposaunen.

Und doch hören wir auch in diesem Jahr wieder die Weihnachtsbotschaft, und wir sollten froh sein, sie hören zu können, und sie aufmerksam bedenken und nachbuchstabieren. Die Botschaft, dass wir im Gesicht dieses wehrlosen, hilfsbedürftigen, des Schutzes bedürftigen Krippenkindes zeichenhaft die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes erkennen können. Das ist, ohne Zweifel, die Umwertung aller Werte.

Der Heiland, der Retter, die Rettung für diese von Krisen und Ungerechtigkeit geschüttelte Welt: ein nacktes, wehrloses Kind, das auf Liebe, auf Wärme, auf Freundlichkeit angewiesen ist - und das gleichzeitig so viel Liebe und Wärme verströmt, dass uns – und unzählige andere Menschen auch - sein Anblick selig zu machen vermag. So, wie wir es in diesen Tagen doch immer wieder erfahren, wo wir, mehr als sonst, Liebe geben - und empfangen dürfen. Wo wir es tatsächlich merken: es sind die Beziehungen, die unser Leben reich machen, und nicht Geld und Gut. Es ist die Liebe, die uns trägt, und nichts anderes.

„Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben.“ So haben wir gestern gesungen. So singen wir heute. Und spüren dabei mehr als sonst, inmitten aller Geschenke, dass das allergrößte Geschenk unser Leben selber ist, wunderbar - und zerbrechlich, kostbar -  und zutiefst gefährdet, ein bleibend unergründliches Geheimnis. Und dass es die Liebe ist, die unsere Welt zusammenhält.

Das ist die frohe Botschaft inmitten allen Schreckens, gehört, aber nicht nur gehört, sondern als wirklich und wahr erfahren, und sei es nur für einige wenige Augenblicke. Und sie kann doch einfach nicht ohne Folgen bleiben. Dieses Kind, sichtbares, fassbares Zeichen dafür, dass unser Gott nicht droben über den Wolken hockt, sondern mitten in dieser Welt ist, und auch noch in erbärmlichster Umgebung, und uns gerade da sein menschenfreundliches Angesicht zeigt.

Wir erkennen ihn in den Gesichtern all der Mühseligen und Beladenen in unserer Zeit, auch wenn wir es manchmal kaum noch aushalten können, überhaupt noch in diese Gesichter zu schauen, und am liebsten schnell den Ausschaltknopf drücken würden. - So geht es mir zumindest. Aber wir müssen doch hinschauen, wo sie uns so erwartungsvoll anschauen, an den Grenzzäunen, in den Lagern, unter den Brücken in den Städten, auf den schwankenden Booten.

Und, so widersprüchlich es auch klingen mag, bei solchem Hinschauen kann dann Barmherzigkeit wie eine Waffe werden. So hat es die Chefredakteurin der amerikanischen Zeitschrift „Time“ vor kurzem formuliert. Nur diese, und keine andere Waffe wird es sein, die irgendwann den Frieden auf Erden und allen, wirklich allen Menschen ein Wohlgefallen ermöglicht.

O du fröhliche, o du selige, Gnaden bringende Weihnachtszeit!

 

Perikope
25.12.2015
3,4-7