Predigt zu Titus 3,4-7 von Isolde Karle
3,4-7

Predigt zu Titus 3,4-7 von Isolde Karle

Als Predigttext für den heutigen Gottesdienst lese ich aus Titus 3 die Verse 4-7:

„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.“

Liebe Gemeinde,

(1) Wir haben es geschafft. Der Heilige Abend liegt hinter uns. Manche von uns werden froh sein, dass es gut gegangen ist, dass die Kinder sich über die Geschenke gefreut haben, dass der Abend friedlich und ohne Konflikte verlaufen ist. Andere sitzen heute morgen aber vielleicht auch müde und abgekämpft hier im Gottesdienst. Es ist immer so viel zu tun vor Weihnachten und beinahe unmöglich, den vielen unterschiedlichen Erwartungen von Familienangehörigen, Freunden, Kollegen gerecht zu werden. Jedes Jahr hören wir, dass wir uns in der Advents- und Weihnachtszeit besinnen und innehalten sollen. Und doch bleibt das jedes Jahr für die meisten von uns ein schöner Vorsatz, den wir kaum in der Lage sind umzusetzen.

Und dann dieser taghelle Predigttext, der von Freundlichkeit, Zuwendung, Menschenliebe, Seligkeit und der Erneuerung des Lebens spricht! Der Hymnus aus dem Titusbrief spannt einen ziemlichen Gegensatz zu der Stimmung auf, die ich eben skizziert habe. Alles scheint in unserem Text leicht und selbstverständlich, hell und licht-durchflutet, erholsam und lebensdienlich zu sein. Wer sehnte sich nicht nach so viel Freundlichkeit, Entlastung und Erquickung an Weihnachten!

Der Text aus dem Titusbrief ist eine hymnische Bekenntnisformel, die der Autor übernommen hat und zum Weitererzählen und Weitersingen weitergibt. Das Hymnische wird schon allein daran deutlich, dass unser ganzer Predigttext aus vier Versen, aber nur einem einzigen Satz besteht! Die Begeisterung über die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes ist so groß, dass der Autor keinen Punkt machen kann, dass sie immer wieder neu be- und umschrieben werden muss.

An Weihnachten wird das offenbar, was der Hymnus mit so viel Fröhlichkeit und Zuversicht besingt. An Weihnachten feiern wir Gott als großen Menschenfreund. An Weihnachten feiern wir, dass Gott Mensch wird, dass Gott sich uns zuwendet und einer von uns wird. Gott lebt und fühlt da, wo Menschen leben und fühlen. Und er hat uns im Leben Jesu gezeigt, dass ein anderer Geist möglich ist als der, der oft unter uns herrscht. In Jesus ist uns die Menschenfreundlichkeit Gottes erschienen. In Jesu Leben, seinen Heilungen, seiner Zuwendung zu den Sündern und den am Rand Stehenden hat sich Gottes Menschenliebe gezeigt. Jesus verkündet mit einem ungeheuren Selbstbewusstsein den Anbruch des Reiches Gottes, er kehrt die gängigen Verhältnisse um und preist die geistig Armen selig und verspricht den Leidtragenden Trost. Er verheißt nicht den Rücksichtslosen, sondern den Sanftmütigen den Besitz des Erdreiches und denen, die sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen, Seligkeit und Fülle.

An Weihnachten feiern wir die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes. Was fallen uns für Geschichten zu dieser Freundlichkeit ein? Wie können wir in unserem Leben an den großen Menschenfreund Jesus anschließen? Ich bin sicher, dass Ihnen dazu ganz persönliche Geschichten in den Sinn kommen. Ich will Ihnen eine Geschichte von Kai-Uwe Scholz vorlesen, die ich dem Anderen Advent entnommen habe:

(2) „Zu meinem türkischen Friseur, Herrn Murat, gehe ich schon seit ewigen Zeiten. Herr Murat heißt für mich Herr Murat, weil sein Nachname so kompliziert auszusprechen ist. Daher hat er bei meinem ersten Besuch in seinem Salon vorgeschlagen, dass ich ihn einfach beim Vornamen nennen soll.

Herr Murat und ich wissen genug voneinander, um jederzeit in einen kleinen Austausch treten zu können. Wir reden über seine Kinder und über meine Kinder, über seine Heimat an der Schwarzmeerküste und meine Heimat in einer norddeutschen Moorgegen, über seinen Bruder, der in Istanbul wohnt, und über meinen Bruder, der in der Schweiz wohnt. Aber wir müssen auch nicht reden. Er bittet mich mit einer einladenden Handbewegung auf seinen Sessel, wäscht mir die Haare und legt los. Schnipp, schnapp. Oft schließe ich derweil die Augen und lasse die Gedanken laufen. Herr Murat ist dann ganz leise. Fast habe ich das Gefühl er schneidet extra behutsam. Ab und zu tritt er zurück und betrachtet sein Werk. Diese Pausen stören mich nicht. Ich kenne das ja und denke einfach weiter.

Bis mir neulich die Pause einen Tick zu lang vorkam und ich die Augen öffnete. Mir ging grad so viel durch den Kopf. Die Last des Lebens hatte sich auf meine Seele gelegt und bedrückte mich. Ich machte mir Sorgen, die man nicht einfach so erzählt, jedenfalls nicht im Frisiersessel. Sorgen, die man hinter Stirn und Augenlidern verborgen halten kann – wie ich glaubte. Herr Murat stand an den Spiegel gelehnt, hatte die Schere sinken lassen und schaute mich an – freundlich, fast ein wenig liebevoll. Er muss an meinem Gesicht abgelesen haben, dass ich Zuspruch brauchte. Und er gab ihn mir: „Keine Sorge!“, sagte er. „Alles wird gut“. Es war ein Segen.“ (Der Andere Advent 2015/2016, 6.12.15)

Kai-Uwe Scholz erfährt in dem einfühlsamen und diskreten Handeln seines Friseurs Gottes Menschenfreundlichkeit. Es ist ein Schlüsselmoment für ihn, eine Epiphanie – nie hätte er damit gerechnet, dass Herr Murat seine Sorgen durch die geschlossenen Augenlider hindurch spürt, dass Murat ihn mit so viel Menschenfreundlichkeit und Empathie ansieht und geduldig darauf wartet, bis er die Augen wieder öffnet und er ihn ansprechen kann. Als Segen, als Zuwendung Gottes empfindet Kai-Uwe Scholz den Zuspruch seines türkischen Friseurs – über alle kulturellen und religiösen Unterschiede hinweg. Der Friseur spürt seine Last, er spricht ihm Gutes zu, er macht seine Bedrückung leicht. Und das ohne nachzufragen, ganz diskret, ganz zurückhaltend, sehr behutsam und zugewandt.

Ich vermute, viele von uns sehnen sich nach einer solch empathischen Freundlichkeit, nach einem solch genauen Wahrgenommenwerden, einer solch behutsamen Zuwendung, die quasi „nebenbei“ und wie von selbst erfolgt und unser Leben erleichtert, es hell macht, mit Freude erfüllt. Wir werden durch solche Erfahrungen selbst zu Menschenfreunden. Auf jeden Fall helfen sie uns, in ähnlicher Weise für andere offen zu sein und das Licht, das wir empfangen haben, weiterzugeben und zu verbreiten.

(3) An Weihnachten feiern wir Gottes Gegenwart, seine heilende und heilsame Nähe, die Menschenliebe und Freundlichkeit in unsere Welt bringt. Und die haben wir bitter nötig. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber die Nachrichten der letzten Wochen und Monate hatten so viel Dunkles, so viel Beklemmendes, so viel Erschütterndes, das es mir nicht immer leicht fiel, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen. Der eine oder die andere unter uns mag darüber hinaus auch durch ganz persönliche Krisen gehen – wenn man im Beruf angefeindet wird oder nicht weiß, wie man die ganzen Anforderungen im Studium bewältigen soll. Oder wenn die Partnerschaft, die lange so gut war, plötzlich mühsam wird und man die Leichtigkeit der Liebe schmerzlich vermisst. Oder wenn man sich ganz existentiell um seine Gesundheit Sorgen macht und man sich fragt, wie es weitergehen soll. Die Unsicherheit und Ungewissheit der Zukunft liegen dann wie ein dunkler Schatten über uns. Die Last des Lebens legt sich auf die Seele. Sie macht es schwer, in die hellen Lieder von Weihnachten, in den fröhlichen und leichten Ton unseres Hymnus einzustimmen.

Weihnachten macht uns dünnhäutig und verletzlich. Das liegt an unseren Weihnachtserfahrungen und -erinnerungen, an unseren Sehnsüchten und Hoffnungen, die in dieser Zeit besonders deutlich in unser Bewusstsein drängen. Es liegt aber auch an der Weihnachtsgeschichte selbst. Die Geburt des Kindes in einem kalten und schmutzigen Stall, die riskante Flucht der Eltern, die prekären und lebensbedrohlichen Lebensumstände des neugeborenen Kindes machen allzu deutlich, wie gefährdet die Weihnachtsbotschaft ist. Um ein Haar und Jesus hätte seine ersten Lebenswochen nicht überlebt. Weihnachten ist nicht nur „süßer die Glocken nie klingen“, sondern geht mitten in die Dunkelheit und den Schmerz des Lebens hinein. Doch wie hält die Weihnachtsbotschaft dieser Dunkelheit stand? Karl Rahner sagt dazu:

„Gott hat sein letztes, sein tiefstes, sein schönstes Wort im fleischgewordenen Wort in die Welt hineingesagt, ein Wort, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, weil es Gottes endgültige Tat, weil es Gott selbst in der Welt ist. Und dieses Wort heißt:

Ich liebe dich, du Welt und du Mensch.

Ich bin da, ich bin bei dir.

Ich bin deine Zeit.

Ich weine deine Tränen.

Ich bin deine Freude.

Ich bin in deiner Angst, denn ich habe sie mitgelitten.

Ich bin in deiner Not.

Ich bin in deinem Tod, denn heute begann ich mit dir zu sterben, da ich geboren wurde, und ich habe mir von diesem Tod wahrhaftig nichts schenken lassen.

Ich bin da.

Ich gehe nicht mehr von dieser Welt weg, wenn ihr mich jetzt auch nicht seht. Und meine Liebe ist seitdem unbesieglich.

Ich bin da.

Es ist Weihnachten. Zündet die Kerzen an. Sie haben mehr recht als alle Finsternis.

Es ist Weihnacht, die bleibt in Ewigkeit.“ (zit. n. Der Andere Advent, 24.12.15)

Die Weihnacht bleibt in Ewigkeit – sie ist das Beständige, nicht das Dunkle, Lebensverachtende, Zermürbende. Gott wird Mensch, er weint unsere Tränen mit, er ist unsere Freude, er ist in unserer Angst, er ist auch in unserem Tod. Gott ist der große Menschenfreund, er wird nicht mehr von uns weggehen. Er ist in großer Güte und Freundlichkeit für uns da.

Wir geben diese Menschenliebe Gottes weiter, wenn wir an Weihnachten andere beschenken. Wir erfahren diese Freundlichkeit, wenn wir in die staunenden Gesichter der Kinder an Weihachten schauen. Wir erleben diese Freundlichkeit, wenn wir andere zum Essen einladen und uns aneinander freuen. Wir teilen die Freundlichkeit Gottes aus, wenn wir Flüchtlingen helfen, sich bei uns wohlzufühlen, wenn wir ihren bedrückenden Geschichten von Not und Tod aufmerksam zuhören, wenn wir ihnen, den knapp Entronnenen, beistehen und sie in der Begegnung mit uns dieses Land nicht als abweisend, sondern als Ort der Menschenliebe erfahren.

So hält die Weihnachtsbotschaft der Dunkelheit stand. Wenn wir wie Herr Murat nicht nur auf uns selbst fokussiert sind, sondern uns mitten im Alltag öffnen für die Not des andern, wenn wir ihn oder sie diskret, behutsam und freundlich die Menschenliebe Gottes spüren lassen, wenn wir anderen die Last leichter machen und sie segnen. Dann wird es hell, dann wird es Weihnachten – über Weihnachten hinaus. Amen.