Predigt zu Titus 3,4-7 von Jochen Cornelius-Bundschuh
Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unserer Hoffnung.
Am Morgen des 1. Weihnachtstages breiten sich Ruhe und Gelassenheit aus. Lange haben wir uns auf den Heiligen Abend vorbereitet: Zimmer geschmückt, Briefe an die Verwandtschaft geschrieben oder mit Freundinnen telefoniert, Geschenke für die Kinder überlegt, einen Baum erstanden, ein Krippenspiel einstudiert, Sterne gebastelt, im Chor geprobt, ein Festessen geplant. Nun liegt die Heilige Nacht hinter uns. Was bleibt uns? Die Freundlichkeit und die Menschenliebe Gottes! Sie trösten uns und machen uns frei!
I
In der Heiligen Nacht gibt sich Gott als menschenfreundlich zu erkennen. In der Krippe sehen wir ein hilfloses Kind: in Windeln gewickelt, auf Mutter und Vater angewiesen und bald schon auf der Flucht vor den Mächtigen. Doch dieses schwache Knäbelein ist der Sohn Gottes. Er verändert die Welt und gibt ihr ein neues, liebevolles Gesicht.
Schön zeigt sich das an den Hirten. Sie sind mit ihren Herden unterwegs. Sie haben keinen festen Platz in der Gesellschaft, oft keine Familie. Sie leben am Rand des Existenzminimums. Trotzdem erfahren sie als Erste von dieser Geburt. Sie erschrecken: Warum sollen ausgerechnet wir zu diesem neugeborenen König gehen? Was sollen wir denn dazu sagen? Doch der Engel Gottes macht ihnen Mut: Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren! Sie brechen auf zur Krippe. Sie finden das Kind. Sie spüren die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes - und das verändert sie. „Herr, dein Mitleid, dein Erbarmen, tröstet uns und macht uns frei.“
Ich stelle mir vor, wie sie sich aus ihrer gebückten Haltung aufrichten und entdecken, was in ihnen steckt. Wie das Lachen des Kindes ihre tief eingeschnittenen Mundwinkel nach oben zieht. Wie sie merken: Wir sind gemeint! Gott schaut mich an. Gott ruft mich bei meinem Namen. Ich gehöre zu diesem Kind: egal, was vorher war, egal, was andere von mir denken, egal, wie unzufrieden ich mit mir selbst bin. Dieses Kind hilft mir, in mir und in den anderen die Menschen zu entdecken, die Gott froh macht und frei.
II
Gott zeigt sich uns in der Krippe als menschenfreundlich und liebevoll. Deswegen freuen wir uns auf Weihnachten. Wir hoffen darauf, dass die Liebe Gottes zu uns all unsere Kämpfe untereinander um Anerkennung, um Macht und um Geld überwindet. Weihnachten speist unsere Sehnsucht auf ein erfülltes und geschwisterliches friedliches Leben. Das gilt im Kleinen wie in der großen Politik.
Dass der Bruder endlich den Mut bekommt, auf die Schwester zuzugehen, mit der er sich über das Erbe zerstritten hat. Dass die Mitschülerin die Kraft findet, sich bei ihrer Nachbarin zu entschuldigen, über die sie Hässliches erzählt hat. Dass die vielen Interessenvertreter im Krieg in Syrien endlich aufhören, ihren eigenen Vorteil zu suchen, sondern danach fragen, wie die Menschen in Sicherheit und in einem gerechten, an den Menschenrechten orientierten Frieden leben können. Dass die guten Ergebnisse der Klimaverhandlungen in Paris sich jetzt auch in den richtigen Schritten niederschlagen, politisch, aber auch vor Ort in den Dörfern und Städten und in unserem persönlichen Leben: Was kann ich selbst tun, damit die Erde sich nicht immer weiter erwärmt, durch mein Essen und Einkaufen, durch mein Heizen oder mein Reisen?
Im Angesicht der Krippe wächst die Hoffnung, dass unsere Gemeinschaft mit Gott und untereinander gelingt, dass uns eine Freude zufällt, die alle Sorgen überwindet und sich etwas von dem in uns und zwischen uns ausbreitet, was im „Jauchzet, frohlocket“ und im „Herrscher des Himmels“ des Weihnachtsoratoriums so mitreißend anklingt.
Hohe Erwartungen und große Gefühle verbinden sich mit Weihnachten. Sie machen uns dünnhäutig und verletzlich. Und führen auch zu Enttäuschungen. Weil wir voneinander mehr an Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, an Versöhnung und Erneuerung erwartet hatten, als sich dann ereignet.
Unser Predigttext ist da nicht süßlich-kitschig, sondern sieht das realistisch. Wir können die Menschenfreundlichkeit Gottes nicht mit unserem Tun, mit unseren Werken einlösen. Wir bleiben in uns widersprüchlich. Wir ärgern uns aneinander, wir beneiden einander, wir grenzen uns ab und aus, wir tragen mit unserem Lebensstil dazu bei, dass das Leben für andere schwerer wird. Unsere Freundlichkeit ist nicht der Maßstab; sie macht uns nicht selig. Es ist Gottes Menschenliebe, die unsere Sehnsucht wach hält und unsere Hoffnung stärkt.
III
Und doch geht von der Krippe eine Bewegung aus, die uns Mut macht zu kleinen, aber klaren Schritten in die richtige Richtung, so wie wir das in den vergangenen Monaten an vielen Orten zugunsten der Menschen erlebt haben, die bei uns Zuflucht suchen. Initiativen bieten Sprachkurse an, eine Klasse veranstaltet in der Schule einen Spieleabend mit jungen Syrerinnen und Syrern, Gemeinden laden Flüchtlinge ins Gemeindehaus zu einer offenen Weihnacht ein. Viele haben sich von der Menschenliebe Gottes mitreißen lassen, sich an ihr ausgerichtet, ihren Schwung und ihre Richtung aufgenommen.
Das zeigt: Die Weihnachtsgeschichte bewährt sich im Alltag. Sie macht uns Mut, uns zu verändern und uns in unserem Leben an Gottes Menschenfreundlichkeit zu orientieren.
IV
Die Bewegung, die von der Krippe ausgeht, bewährt sich vor allem darin, dass sie unseren Glauben festigt an die Menschenliebe Gottes. Dass wir im Leben und im Sterben, in unserem verantwortlichen Tun und Lassen spüren, dass Gott uns aus der Krippe mit freundlichen Augen anschaut, die trösten und Mut machen.
Jedes Weihnachtsfest ist in diesem Sinne eine Tauferinnerung – und jede Taufe macht uns leibhaftig erfahrbar, dass Weihnachten die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes erschienen ist. In den ersten Gemeinden stiegen die Menschen in ein Taufbecken, das als Kreuz geformt war. In den Seitenarmen des Kreuzes standen die Taufenden und tauchten die Person ganz unter. Reichlich wurde sie vom Wasser umspült und erlebte ein Bad der Wiedergeburt und Erneuerung. Die alten Bilder und Erwartungen, die andere von mir haben oder mit denen ich mich selbst binde, werden abgewaschen. Getröstet und frei steigt der getaufte Mensch auf der anderen Seite aus dem Taufbecken: Ich bin nun nicht mehr reich oder arm, Flüchtling oder einheimisch, alt oder jung, gesund oder krank; das alles auch, aber entscheidend ist, dass Gott mich barmherzig anschaut und mich mit Freundlichkeit und Zuversicht erfüllt. Ich bin Gottes Kind und Bruder oder Schwester Christi, ich lebe aus der Fülle der Gnade.
„Als aber die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes erschien …“ Seit Weihnachten schaut Gott uns mit den Augen von Jesus Christus an. Wir leben aus Gottes Barmherzigkeit, wir lassen uns von Gottes Menschenfreundlichkeit durch unsere Konflikte tragen, wir singen uns wechselseitig zu: „Herr, dein Mitleid, dein Erbarmen, tröstet uns und macht uns frei!“