Liebe Gemeinde,
ich möchte ihnen eine Predigt aus dem Titusbrief im dritten Kapitel, in Vers vier bis sieben lesen. Stellen sie sich bitte vor, es sei eine Predigt zum ersten Weihnachtstag:
„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands,
machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist,
den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland,
damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.
Diese Predigt zeigt uns in einem einzigen Satzgebilde das Geschehen der Liebe des dreieinigen Gottes zu uns Menschen. Wir erfahren alles, was für uns zu wissen wichtig ist, um auf ewig an seinem Leben teilzuhaben.
Wenn mich eine Predigt berührt, und mein Herz offen für die Liebe Gottes ist, stellt sich eine Bereitschaft ein, das eigene Leben und das Leben der Menschen um mich herum aus der gegenwärtigen Erfahrung heraus neu anzusehen und zu bedenken.
Es gibt dazu keine Rezepte, denn es geht nicht darum, etwas zu machen, sondern etwas geschehen zu lassen.
Dieses Geschehen kann ich nur staunend beobachten und erleben. Ich werde darauf aufmerksam, dass ich das wachsende Geschehen in dem Maß beeinflussen kann, in dem ich mich öffne. Ich erlebe, was es heißt, das Herz zu öffnen. Mögliche Ängste und Unsicherheiten werden weniger und mein Vertrauen in Gottes Gegenwart wächst.
Die Veränderungen werden sich unmittelbar im Alltag meines Lebens wahrnehmen können. Ich werde aber den Zuwachs an innerer Kraft spüren, den zunehmender Glaube, zunehmende Hoffnung und wachsende Liebe mit sich bringen.
Am Schluss unserer Predigt aus dem Titusbrief steht das Wort Hoffnung. Es ist hier - wie Rudolf Bultmann bemerkte - von der jüdischen eschatologischen Tradition beeinflusst und bedeutet darin das Warten auf die endzeitliche Zukunft. Andererseits aber gehört Hoffnung in den Zusammenhang mit Glauben und Liebe in den inneren Wachstumsprozess, den wir gerade verfolgt haben.
Wir können uns als Christen, in denen Gottes Liebe als wachsende Kraft lebendig ist, heilsam in die Lösung vieler Probleme einbringen, die gegenwärtig die Menschen um uns herum betreffen.
Auch wenn die Flüchtlinge bei uns aus anderen Traditionen stammen und andere Religionen haben, werden wir unsere Entscheidungen und unser Handeln in die Liebe Gottes stellen, die allen Menschen zukommt.
Glaube wächst. Das ist uns nicht neu.
Wie und wohin er aber wächst, liegt in unserer persönlichen Verantwortung. Die Nahrung für den Glauben sind keine sogenannten guten Gründe. Er ist auch nicht lehrbar. Wir können zwar den Kleinen Katechismus Dr. Martin Luthers auswendig lernen, aber Einsichten und Schlüsse aus den Texten können wir nur auf Grund von eigenen Erfahrungen ziehen. Gute Ratschläge und Begründungen ersetzen nicht die Selbsteinsicht, die sich aus unseren Erfahrungen speist.
Unser Glaube nährt sich allein aus den Erfahrungen. Ich zitiere gern den Dichter Wilhelm Busch mit einer Einsicht von großer Tiefe:
„Glaube hat Ursachen, aber keine Gründe.“
Eine der Ursachen für unseren Glauben ist die, die die Kurzpredigt aus dem Titusbrief nennt:
Das Erscheinen der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes.
Eine weitere Ursache ist das Tun Gottes: Er macht uns selig nach seiner Barmherzigkeit durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes. Das erinnert zwar an die Taufe, es meint aber das Geschehen des Heiligen Geistes durch das reinigende Bad seiner Wiedergeburt und Erneuerung in uns.
Es geht an Weihnachten zwar vordergründig um die Geburt Jesu, das Heilsgeschehen, das Ursache für unseren Glauben ist, spannt sich von seiner Geburt bis zu seiner Auferstehung und unserem Leben mit Gott in Ewigkeit.
Einer der Zeugen für das innere Wachstum eines Christen wurde am 25. Dezember 1624 in Breslau geboren:
Johann Scheffler, auch unter Angelus Silesius bekannt.
In seinem Cherubinischen Wandersmann von 1675 finden wir im ersten Buch die Nummer 61 mit der Überschrift „In dir muß Gott geboren werden“ den Reim:
Wird Christus tausendmal zu Bethlehem gebohrn /
Und nicht in dir; du bleibst noch Ewiglich verlohrn.
Diese barocken Verse beschreiben in ihren Worten sehr fordernd die Notwendigkeit des inneren Wachstumsprozesses, den ich im Anschluss an die Worte des Titusbriefes andeutend zu beschreiben versucht haben. Entsprechende Verse hat der Mystiker Angelus Silesius auch zu weiteren Stationen des Lebensweges Jesu Christi geschrieben, jeweils eben in der Aufforderung sie in uns geschehen zu lassen.
Wir Protestanten verschenken viele Möglichkeiten, unseren Glauben beim Wachsen zu erleben, wenn wir Erfahrungen von Spiritualität bewusst aus dem Weg gehen. Allerdings geschieht Spiritualität in uns, ohne das wir uns der Tatsache bewusst werden müssen.
Trauen sie Gottes barmherziger Liebe viel zu, er wird sie nicht enttäuschen.
Noch ein guter Rat von Angelus Silesius aus dem genannten ersten Buch Nr. 82
Halt an wo lauffstu hin / der Himmel ist in dir:
Suchstu Gott anders wo / du fehlst Ihn für und für.
Ich wünsche ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest mit Freude über Gottes Tun in ihrem Herzen und in ihrem Leben.
Amen